Fakten über Flintenlaufgeschosse, Teil I:
Die einen sehen in Flintenlaufgeschossen ein Allheilmittel, die anderen einen brauchbaren Behelf, und da gibt es noch welche, die sie in Bausch und Bogen verteufeln. Wolfram Osgyan zeigt in einer dreiteiligen Serie Möglichkeiten und Grenzen der gewichtigen Bleibatzen auf.
Von Wolfram Osgyan
In den Brombeeren hockt eine Sau!“, rief aufgeregt einer der Treiber und: „Alles stehen bleiben!“ Dann eilte er zum Jagdleiter und berichtete von der sensationellen Entdeckung. Der holte erst mal tief Luft und wurde sogleich aktiv. Man muss wissen, dass in dieser Gegend seit Menschengedenken keine Sau gesichtet, geschweige denn erlegt worden war, und nun steckte offenbar ein Schwarzkittel im Hasentreiben. „Lauf oben rum und sag den Schützen Bescheid“, schickte der Jagdherr den Helfer los, „die anderen werden von mir informiert.“
Leben im Gestrüpp
Was nun folgte, mag sich jeder ausmalen. Wer irgendwo in seiner Jacke ein Flintenlaufgeschoss (FLG) wusste oder zu wissen glaubte, wühlte fieberhaft in den Taschen, einer konnte seinen Nachbarn aushelfen, ein anderer hatte in seinem Auto eine Packung deponiert und düste mit Siebenmeilenstiefeln fort. Geraume Zeit später wurde es spannend. Zunächst fiel ein Schuss, dann belferten im Stakkato mehrere Flinten los, und als schließlich abgehupt wurde, zerrten die Treiber eine Sau aus den Büschen. Der Jagdleiter hatte es sich nicht nehmen lassen, den Borstenträger anzugehen und mit der Brenneke auf den Platz zu bannen. Auf seinen Schuss hin kam Leben in das Gestrüpp. Zwei, drei, vier Wutze spritzten auseinander, flüchteten in alle Himmelrichtungen und an den abgestellten Schützen vorbei. Keiner von denen vermochte indes, die Gunst der Stunde zu nutzen. Einer fehlte auf fünf (!) Meter doppelrohrig. Ein zweiter traf Wurzelauslauf und Stamm, ein dritter schwor Stein und Bein, gut drauf gewesen zu sein, sein Nachbar wollte im Schuss ein Rucken gesehen haben und weitere bekannten, dass sie hinterhergeschossen hätten, aber es sei halt wohl doch zu weit gewesen.
Beim abendlichen Schüsseltreiben drehte sich alles um die Saujagd und wie schwer es doch sei, eine flüchtige Sau zu treffen, zumal, wenn man das erste Mal überhaupt mit „Brenneke“ geschossen habe. Einig waren sich alle Anwesenden, dass sie künftig nie mehr ohne ein Flintenlaufgeschoss in Reserve zur Treibjagd erscheinen wollten, denn man habe ja gesehen, wie schnell es oft Schwarzwild geben kann. Weiterführende Konsequenzen allerdings wurden meines Wissens nicht aus dem Ereignis gezogen.
Mittlerweile haben sich auch bei uns, wie in vielen anderen, ehedem schwarzwildfreien Revieren die Sauen etabliert, so dass Begegnungen längst nicht mehr dem Zufall überlassen bleiben. Sommerliche Maisdrücken und winterliche Drückjagden gehören daher zum festen jagdlichen Programm, und in diesem Zuge erlangte auch das Flintenlaufgeschoss einen anderen Status.
Es avancierte nämlich nicht nur zum fixen Bestandteil der Ausrüstung, sondern wird gar häufig eingesetzt und zwar sowohl in Flinten als auch in kombinierten Waffen aller Art. Reichte früher eine Schachtel in Alibifunktion gleichsam „ewig“, benötigen heute manche Zeitgenossen auf der Jagd mehr Patronen mit FLG als mit Schrot.
In diesem Zuge gelangten einige Drillinge mit nicht mehr zeitgemäß eingestuften Kugelkalibern zu neuen Ehren, erleben nicht wenige ausgediente Querflinten ihre jagdliche Wiedergeburt und erhält ein Teil der Bockbüchsflinten einen geänderten Einsatzbereich zugewiesen. Geübte Flintenschützen beherrschen ihre Waffe gleichsam im Schlaf. Auffahren, Aufnehmen, Schwingen und Schießen sind ihnen durch reichliche Übung so in Fleisch und Blut übergegangen, dass sie an Haltepunkt, Vorhaltemaß, Abzugswiderstände und Handling keinen Gedanken verschwenden müssen. Für viele von ihnen liegt es deshalb auf der Hand, das Gewohnte und Liebgewordene unter etwas geänderten Vorzeichen einzusetzen. Sie schießen demnach nicht wie mit einer Flinte, sondern genau damit. Dazu muss nur die Munition getauscht werden.
„Des kann i mit mei Drilling auch“
Wie gut das klappen kann, demonstrierte ein bulgarischer Jagdführer und Skeetmeister seines Landes in der Mittagspause den Gästen. Mit der Linken warf er einen Apfel von sich weg und traf ihn – des Beifalls sicher – im zweiten Versuch mit seinem Flintenlaufgeschoss. „Des kann i mit mei Drilling auch“, schwäbelte ein Mitglied der deutschen Jägergruppe. Wieder flog der Apfel, flutschte der Drilling an die Wange, doch diesmal spaltete der Bleibatzen die Frucht schon im ersten Anlauf. (Dass aus Gründen der Sicherheit vor Nachahmung selbst in dünnst besiedelten Gegenden gewarnt wird, sei an dieser Stelle ausdrücklich erwähnt.) Die Belohnung für dieses Meisterstück sollte im Nachmittagstreiben erfolgen, denn eben diesem Schützen war es vergönnt, einen kapitalen Bassen mit dem Flintenlaufgeschoss auf die Schwarte zu bannen.
Viele Varianten
Im Handumdrehen mutiert also eine (Bock-)Doppelflinte zur Doppelbüchse. Aus einer Bockbüchsflinte macht der Betreiber mit einem Griff eine Bockbüchse, aus dem Drilling eine Doppelkugel mit Schrotlauf oder gar eine Drei-Kugel-Waffe. Und das alles zum Preis von nur einem oder zwei Euro.
Die „Brenneke“ im Schrotlauf wertet zudem sowohl die Rehwild- als auch die Schonzeitbockbüchsflinte zur Hochwildwaffe auf, mit der sich an der Kirrung auf Entfernungen bis zu 50 Metern jede Sau waidgerecht und küchenfreundlich – das heißt ohne große Zerstörung und ohne die unappetitlichen Hämatome – strecken lässt.
Hinsichtlich ihrer Wirkung im Schrotschussbereich strafen die Flintenlaufgeschosse alle Kritiker Lügen. Ihre Massen zwischen 31,5 Gramm (12/70, 12/67,5) und 24 Gramm (20/70) bringen auf 25 Meter eine Energie von 2 156 Joule beziehungsweise 1 848 Joule (20/70) ins Ziel und damit einen Wert, der als ausreichend für Hochwild angesehen wird. Zudem sorgt ihre kompakte Bauweise für Eindringtiefe und Durchschlagskraft, einen gleichmäßig starken Wundkanal und aufgrund des großen Geschossquerschnitts für verlässliche Pirschzeichen in Form von Schnitthaaren/Borsten und Schweiß. Und noch etwas schätzen ihre Anhänger: Es gibt auf der Ausschuss-Seite keine Splitter, die trichterförmig wegspritzen und auf diese Weise abseits stehende Rudel- oder Rottenmitglieder verletzen können.
Wohl kaum ein anderes Projektil erfreute sich im Laufe der Jahrzehnte so vieler Varianten wie das Flintenlaufgeschoss. Wir finden die Siegelform ebenso wie den Zylinder mit und ohne Kegel, die Kuppel mit ausgeprägter, konvexer, konkaver oder abgeplatteter Spitze, den Bolzen oder die überdimensionierte Luftgewehrkugel, vertikale, schräge oder horizontale Rippen, Führungsringe und vieles mehr. Und jedes Mal war der Erfinder überzeugt, auf den Stein des Weisen gestoßen zu sein. Dass dabei immer wieder bereits in Vergessenheit Geratenes im neuen Outfit als der letzte Schrei präsentiert wird, gehört zum Geschäft. Schließlich wird halt auch auf dem Munitionssektor das Rad nur gelegentlich neu erfunden.
Ein nicht zu unterschätzendes Gefährdungspotenzial
Die in unseren Gefilden mit Abstand bekannteste und verbreitetste Konstruktion ist die von Brenneke. Sie hat sich millionenfach bewährt und wurde nicht zuletzt deswegen in unserem Sprachgebrauch zum Synonym für das Flintenlaufgeschoss schlechthin.
Von ungefähr freilich kommt die Formenvielfalt nicht. In ihr drücken sich nämlich die Versuche aus, die Präzision der Flintenlaufgeschosse aus den glatten Läufen zu optimieren. Ohne Drall gibt es keine Rotation des Geschosses um die eigene Achse und damit auch nicht den flugstabilisierenden Faktor. Um zu verhindern, dass ein Flintenlaufgeschoss während des Fluges pendelt, taumelt oder sich gar überschlägt, wird es nach Art eines Pfeiles stabilisiert. Das Gewicht sitzt vorne, und am Heck übernehmen Filzpfropfen oder Kunststoffelemente die Funktion der Federn am Pfeil. Sie sorgen damit für Richtungskonstanz und lineare Flugbahn. Pfeilstabilisierte Projektile sind aber ungleich ablenkungsgefährdeter als drallstabilisierte. Das Anstreifen an einem Ast kann demnach schon eine gravierende Richtungsänderung des Geschosses bewirken. FLGs sind deshalb nicht das, was der kompakte Bleibatzen dem Schützen suggeriert: Das einzig Wahre für den Schuss ins Dichte. Da ihre Geschossmasse auch nach Durchschlagen eines Hindernisses komplett erhalten bleibt, geht zudem von Querschlägern ein nicht zu unterschätzendes Gefährdungspotenzial aus. Das will beim Ausweisen eines Sicherheitsbereiches berücksichtigt sein.
Die Energie verbraucht
Bekanntlich ist die Geschwindigkeit eines Geschosses der für die Auftreffwucht dominierende Faktor, weil er im Quadrat in die Formel E = m*v2/2 eingeht. Hier hat ein FLG gemessen an einem Büchsengeschoss schlechte Karten, denn die Fluggeschwindigkeit sinkt mit zunehmender Entfernung überproportional.
Die Anfangsgeschwindigkeit (v0) der Rottweil-Brenneke von 430 m/s im Kaliber 12/70 (Quelle: RUAG, Broschüre „EROLGREICH JAGEN 2002“) reduziert sich nämlich bei der 100-Meter-Marke auf 275 m/s. Damit beträgt der Geschwindigkeitsverlust 36 Prozent und der an Energie 59 Prozent. Von den 2 912 Joule an der Mündung bleiben auf 100 Meter noch 1 191 übrig. Das ist nur geringfügig mehr als die kleinste auf Rehwild zugelassene Patrone, die .222 Remington auf 100 Meter mit dem 3,4 Gramm Match-Jagd-Projektil an Energie ins Ziel bringt (1 115 Joule). Mit ihren 1 021 Joule (16/70) beziehungsweise 908 Joule (20/70) geraten die Brenneke auf die genannte Distanz sogar ins Hintertreffen. Zum Vergleich: Die altbewährte Schalenwildpatrone 8×57 IRS mit dem 12,7-g-TMR verliert auf 100 Meter ganze 12,8 Prozent ihrer Anfangsgeschwindigkeit und 24 Prozent ihrer Energie, schickt letztlich immer noch 2 569 Joule ins Ziel und damit 2,3 mal so viel wie das 31,5 g schwere Flintenlaufgeschoss im Kaliber 12/70. Somit erübrigt sich eigentlich schon aus dieser Sicht die Diskussion über Sinn und Unsinn von Distanzschüssen mit dem Flintenlaufgeschoss.
Vor diesem Hintergrund erscheint auch die Erzählung glaubhaft, nach der ein Jäger in Rumänien einem Keiler auf reichliche Entfernung zweimal ein Flintenlaufgeschoss auf das Blatt gesetzt hatte. Am Anschuss wiederum fanden sich Borsten, jedoch kein Schweiß. Eine umgehend eingeleitete Nachsuche blieb erfolglos. Wochen später kam bei einer anderen Drückjagd ein Basse zur Strecke. Beim Abschwarten fand man zwei Flintenlaufgeschosse, die eingeeitert in der äußersten Muskelpartie der Schulter steckten. Beide Projektile hatten den starken Schild gerade noch durchschlagen und damit ihre Energie verbraucht. Zu DDR-Zeiten musste sich bekanntlich das Gros der Jäger bei der Jagd auf alles Schalenwild mit Flintenlaufgeschossen bescheiden. Um die Treffergenauigkeit zu vergrößern, waren zudem viele der Flinten mit einer Zielhilfe bestückt. Nach Aussagen der Betreiber schossen die „Arbeiter-und Bauern-Büchsen“ selbst auf größere Entfernungen erstaunlich genau. Doch keine Statistik verrät, in wie vielen Fällen mangelnde Energie langwierige oder erfolglose Nachsuchen verursacht hatte.
Nicht die einzigen Wermutstropfen
Doch das sind beileibe nicht die einzigen Wermutstropfen: Der progressive Geschwindigkeitsverlust des Flintenlaufgeschosses gegenüber der Kugel bedingt nämlich auf größere Entfernung nicht etwa den doppelten Vorhalt, sondern mitunter den dreifachen, sollen die Projektile am selben Zielpunkt einschlagen. Darauf kann man sich mit den Schrotläufen durchaus einstellen, solange die Kugel außen vor bleibt. Das ändert sich jedoch ab dem Moment, wo die schnelle Kugel und das langsame FLG auf die Reise geschickt werden. Zudem bedient bei den meisten Kombinierten der vordere Abzug das Kugelschloss. Daher gelangt in aller Regel auch das schnellere Projektil zuerst zum Einsatz. Vorbei- und wegflüchtendes Wild vergrößert jedoch die Distanz zum Schützen, weshalb in diesen Fällen das langsamere Geschoss auf größere Entfernungen treffen soll. Das ist gelinde gesagt schwierig und überfordert die meisten Schützen. Somit finden auch die mitunter auffallend schlechten FLG-Ergebnisse aus kombinierten Waffen bei Bewegungsjagden eine plausible Erklärung.