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Der Dreiläufer

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AUS DEM WUH-TESTREVIER
Endlich Mai. Wenn es nur nicht so kalt wäre. Aber ein Ansitz lohnt immer, auch wenn man eigentlich mit nichts rechnet. Heiko Hornung

Bis zu den Eisheiligen Mitte Mai ließen die alten Jäger früher die langen Unterhosen an. Und sie wussten warum. Zum Aufgang der Bockjagd schob sich eine Kaltfront aus Skandinavien über das Land. Vom Norden blies ein kalter Wind und trieb Schauer vor sich
her. Wohin bei so einem Wetter? Die Wolken sind so dicht, dass es früher als gewöhnlich dunkel werden will. Zudem bin ich eigentlich zu spät dran. Also kann ich keine weiten Wege mehr gehen, wenn das Wild schon auf den Läufen ist und durch die Schleicherei nur sinnlos vergrämt würde. Der Kohlwald ist ein kleines Wäldchen, das von einer Bundesstraße durchschnitten wird. Darin stecken gern einige Rehe und manchmal auch eine Sau, weil kein Fußweg hindurchführt. Das Wild kann hier ungestört – wenn man den Lärm der Bundesstraße nicht berücksichtigt – seinen Tag verträumen. Früh im Jahr wurde kräftig
Holz eingeschlagen. Die Buchenstämme warten draußen auf den Abtransport. Drinnen wird noch Brennholz aufgearbeitet. Weil es aber so schön nasskalt ist, mag nur keiner so recht an die Arbeit. Am Kohlwaldrand lockt noch eine Wiese, die zurzeit für das Wild attraktiv
ist, da noch kein Weidevieh darauf steht. Deshalb entscheide ich mich für diese Ecke.
Ein in Heckenrosen eingewachsener Sitz steht dort, von dem aus man einen guten Ausblick in die Holzhäuser Delle hat, wie die Einheimischen diesen Bereich nennen. Hier lässt es sich brav mit dem Spektiv hocken, ein Pfeife schmöken und in den Himmel gucken.
Kurz vor dem 1. Mai hatte ich mir das Sitzchen freigeschnitten. Nun schleiche ich von der Bundesstraße die 60 Meter am Waldrand entlang, um mich flott auf das Sitzerl zu schieben. Der Wind steht von Wiese und Wald weg – passt also.
Ein erster Rundumblick mit dem Glas zeigt einen braven Bock, der sich auf einer Wiese im Nachbarrevier niedergetan hat. Vor ein paar Tagen sah ich ihn dort eine Reihe Jährlinge austeufeln. Jetzt ist die Bude sauber, und er ruht auf „seiner“ Wiese.
Weil der Überblick so großartig ist, mache ich bald ein zweites Stück Rehwild aus, das ganz in der Nähe der Plätzer Mühle aus dem Bestand tritt. Das 60-fache Spektiv holt es mir heran. Ich wähnte den Kerl dort unten bereits tot. Jetzt steht er aber wieder auf der kleinen Weide. Solange ich ihn mit seiner markanten Auslage und seiner typischen Vereckung kenne, dürfte er reif sein. Da er über die Grenze kommt, weiß ich nicht recht, wo er seinen Einstand hat. Alle Ansitze zur Brunft waren bislang erfolglos. Aber er versteht es offenbar prima, sich jeder Verfolgung auch jenseits der Grenze zu entziehen.

Ursache für den fehlenden Lauf war wahrscheinlich eine Schussverletzung. Der Stumpf ist aber komplett verheilt.

„Allein dieser Anblick lohnt schon den Ansitz heute Abend“, denke ich und wühle im Rucksack nach meiner neuen Pfeife, die heute zum ersten Mal brennen soll. Tabakdose, Feuerzeug – alles liegt für das kleine Ritual des genüsslichen Paffens schon bereit, als es im Rücken raschelt. Ich blicke über die Schulter, und ein Schwall heißen Blutes fährt mir ins Gebein. In der lückigen, maigrünen Naturverjüngung hoppelt relativ flott eine kleinere Sau. Ja, hoppeln. Die Bewegung ist unrund, was aber die Ursache ist, erschließt sich mir nicht.
Flott hangle ich nach dem Repetierer. Bis ich die Büchse über die Rückenlehne geschoben habe, sind das Rascheln und die Sau weg. Ein paar Autos sind inzwischen vorübergerauscht. Habe ich deswegen den von mir wegziehenden Schwarzkittel nicht mehr gehört? Ist er vielleicht schon über die Straße ins Nachbarrevier gewechselt?
Ich fluche in mich hinein und schiebe mich etwas nach rechts auf meiner Sitzbank, immer das Glas vor Augen. Da! Nur der borstige Rand eines Tellers blitzt hinter einer dicken Buche hervor, und sofort bebt wieder das Jägerherz. Als sich die Sau breit stellt und ich im guten Licht erkenne, dass es keine Bache ist, donnert der Schuss.

Noch ein Schlegeln, dann wieder Ruhe. So jetzt die Pfeife. Doch da stehen wie hingezaubert auf der Wiese zwei Stück Rehwild. Das Spießböckchen könnte passen, die Geiß ist hochbeschlagen. Die Entfernung beträgt gut 170 Meter. Noch hat sich das Zittern von eben nicht gelegt. Die beiden haben es eilig, wollen auf die Saat in der Holzhäuser Delle. Genüsslich stopfe ich den aromatischen Tabak in die Neue, stecke sie in Brand und lasse eine Wolke davonfliegen. Ein anderes Mal vielleicht, denke ich, und lasse Geiß und Böckchen ziehen.
Als es dunkelt, trete ich zu meinem Überläuferkeilerchen. Schlagartig wird mir klar, warum die Sau so seltsam hoppelte. Sie hat nur drei Läufe! Wie sauber chirurgisch abgetrennt, fehlt der 36 Kilogramm schweren Wutz der rechte Vorderlauf. Dusel muss man
haben und vor allem rausgehen, wenn es auch scheinbar keinen Sinn ergibt.

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