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Quaken bis der Elch kommt

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Die größte europäische Hirschart lebt ziemlich heimlich. In der Brunft verrät sich der Elchhirsch durch einen eigentümlichen Ruf. Wie die Lockjagd auf den Elch funktioniert, erlebte Heiko Hornung.

Elch
Fotos: Heiko Hornung, Sven-Erik Arndt

Das Stöhnen des Elchhirsches wirkt fremd. Irgendwie verdrückt, heimlich, sehnend, verstört und enttäuscht. Es passt so gar nicht zu diesem über 400 Kilogramm wiegenden Hirsch, der in den Wäldern, Flussniederungen und Mooren Weißrusslands eine Heimat hat. Wie mächtig tritt dagegen der viel kleinere Rothirsch auf. Sein Ruf zeigt Besitz, Wut, Sehnen, Anspruch, Erregung. Der Elch, der sich wie das viel kleinere Reh eine Partnerin sucht und dieser dann folgt, bleibt zurückhaltend bei einem monotonen, kurzen „Uuuach“. In seiner ganzen Nasalität klingt das fast ein bisschen wie ein Frosch. Die heimischen Jäger bezeichnen diesen verhaltenen kurzen Ruf witzigerweise auch als „Quaken“. Jurij Schumskij beherrscht diese Kunst. Seit er mit 15 Jahren in einer Jagdzeitschrift einen Artikel über das Locken der größten Hirschart der nördlichen Halbkugel las, zog es den Jungen hinaus. Er schlich in den Sümpfen seiner Heimat umher, lauschte, versuchte und lernte.

Berufsjäger Dimitri und sein Vater (v. l.) haben einen starken Elchhirsch gefährtet (rechts). Sie erläutern Jurij Schumskij ihren Plan. Fotos: Heiko Hornung

Im September ist der Jäger, der später die Forstlaufbahn ergriff und heute Präsident des weißrussischen Jagd- und Anglerverbandes ist, jedes Jahr in den riesigen Revieren von Belarus unterwegs, um als Lockjäger mit Freunden oder selbst dem schwarzbraunen, heimlichen Elchhirsch nachzustellen. Jetzt ist es wieder soweit. Diesmal pirscht der 50-Jährige mit mir in den Wäldern von Bychow, einem kleinen Ort an der russisch-weißrussischen Grenze. In tiefen Zügen ziehe ich den Duft von Kiefern, Pilzen, Heide und herbstlich dampfender Torf-Sand-Erde durch die Nase. Kein anderer Geruch weckt in mir mehr Erinnerungen an die herrlichen Jagdgründe des Ostens. Über dem dunklen Bruchwald sinkt rot die Sonne. Zusammen mit Jurij sitze ich in der Heide, habe ein malziges Minsker Bier in der Hand und kaue auf salzigem Trockenfisch. Wir haben noch etwas Zeit.

Meist beginnt der Elch mit seinem Suchen und Brunften erst in der Dämmerung. Jurij bespricht mit zwei Berufsjägern die weitere Strategie der bevorstehenden Pirsch. So viel habe ich verstanden: Eine starke Elchhirschfährte stand mit der eines Tieres und deren Kalbes über einen Sandweg in einen sumpfigen Bruchwald hinein, der sich wie eine Halbinsel ins offene Land hineinschiebt. Die kleine Heide, durch den besagter Sandweg läuft, bildet die Brücke in den Haupteinstand. Um den Bruch herum wird Torf gestochen, der mit Loren in einem nahen Werk zu Heizbriketts gepresst wird. Schnell hatten wir diese Enklave umschlagen und abgefährtet. Der Elchhirsch mit dem breiten Trittsiegel müsste noch stecken. Einziges Problem: Auch wenn es ein pferdsgroßes Tier ist – auf 300 Hektar kann es leicht darin verschwinden oder ungesehen in der Dämmerung auswechseln.

Unweit des Jagdhauses fließt der Dnjepr ruhig nach Süden. Foto: Heiko Hornung

Pläne werden eifrig diskutiert, mit Stöcken in den Sand gemalt und wieder verworfen. Jurij hört zu, blickt den gestikulierenden Jägern mit seinen stechend blauen Augen fest ins Gesicht. Der Widerspruch in Form eines kurzen „Njet“ (russisch: Nein) verrät, dass gerade ein weiterer Vorschlag verworfen wurde. Ein leises „Uuuach“ lässt jeden Diskurs abrupt verstummen. Der ältere der beiden Berufsjäger zeigt mit ausgestrecktem Arm in den dunklen Bruch: „Los (russisch: Elch)!“ Sofort kramt Jurij sein selbst gebasteltes Lockinstrument, eine Flasche, deren Boden abgesägt wurde, hervor und antwortet dem Elch mit vier kurzen Stöhnern. Die Tröte ist mit Kreppklebeband umwickelt und mit einem Filzstift handverziert worden. „Klingt am besten“, sagt er, hält den Kopf dabei etwas schief und lächelt. Viel weiter als 300 bis 400 Meter ist auch der echte Elchruf nicht zu hören. Als der Hirsch im Sumpf Jurij antwortet, bedeutet er mir, schnell meine Waffe und das Zweibein aufzunehmen und ihm zu folgen. An der engsten Stelle zwischen Bruch und Kieferneinstand wachsen lückig Haselnussbüsche und niedrige Kiefern. Darin beziehe ich Posten, um auf den Zustehenden zu lauern. Beständig meldet der Elch und erhält postwendend Antwort, immer vier- bis fünfmal.

Doch so schnell das Hoffnungsbarometer nach oben schießt, diesen Herrn aus dem dunklen Holz zu holen, sinkt es auch wieder. Der Hirsch wendete offenbar und zog wieder tiefer hinein, dorthin, wo nur noch abgestorbene Gerippe von Moorbirken aus dem dichten Schilf in den Himmel ragen. Noch ein leises „Uuuah, Uuuah“, und weg ist er. Hatte er ein Stück Kahlwild bei sich? Dann sei es ähnlich wie beim Rehbock in der Brunft, sagt Jurij. Der Hirsch ließe sich kaum von der Weiblichkeit wegholen. Auch der Wind oder eine zu tiefe Stimme können den Elchhirsch abdrehen lassen.

Dies konnte ich während meines Jagdaufenthaltes beobachten. Im letzten Licht hatte Revierleiter Aleksandr Tomkowitsch einen jungen Elch herbeigerufen, der uns neugierig auf weniger als 20 Schritt umkreiste und versuchte, Wind zu bekommen. Aleksandr hielt ihn mit seinen Arien im wahrsten Sinne des Wortes bei der Stange.

Als das Licht schwand, mischte sich eine weitere, tiefere Stimme in die Unterhaltung ein. Als dieser Hirsch ebenfalls zustand, verschwieg der junge Gabelelch und verdrückte sich. Interessant ist auch, dass die Elche nicht unbedingt wie springende Böcke vor den Schirm kommen. Sie nähern sich vorsichtig, halten zunächst Abstand, taxieren, versuchen Wind zu holen und kühlen ihren Mut an einem Busch oder Bäumchen. Eine sich bewegende Elchstimme, die mit krachenden Ästen auch den Eindruck schweren Wildes im Unterholz hinterlässt, ist glaubwürdiger als eine, die am Platz verharrend vor sich hinstöhnt.

Ein handgemachter Elchlocker aus einer alten Flasche Foto: Heiko Hornung

Jurij zuckt enttäuscht mit den Schultern. Vergeblich ruft er dem Davonziehenden nach. Wir packen ein, stapfen durch das Heidekraut zurück zu unseren Rucksäcken, um unser
Glück woanders zu versuchen. Gerade haben wir Jacken, Brotzeit und Flaschen verstaut, erklingt, zwar noch weit entfernt, aber doch deutlich näher als zuletzt, das elektrisierende „Uuuah“. Unser Hirsch kommt zurück. Schnell Büchse und Zielstock zur Hand und wieder auf den soeben verlassenen Platz. Jurij gibt alles, läuft neben mir, setzt einige Rufe ab, deutet auf meinen Platz und macht mir klar, dass er ins rückwärtige Holz ziehen wird, um den vor uns meldenden Hirsch zu verleiten, dem vermeintlichen Kontrahenten zu folgen und damit für mich vielleicht sichtbar zu werden. Bald darauf taucht er ästebrechend hinter mir in den Bestand, fegt kurz darauf, schlägt rauschend in einen Busch und tut ganz aufgeregt. Gut 100 bis 200 Meter habe ich Sichtfeld. An der Waldkante ziehen sich Wassergräben entlang, deren Böschungen mit hohem, teilweise schon gelbem Adlerfarn bewachsen sind. Dahinter dunkler Fichten- und Erlenwald, der in der einsetzenden Dämmerung immer mehr Kontur verliert.

Auenlandschaften mit Wassergräben, Schilf und Weiden beherbergen interessantes Wild, wie Biber, Elche, Sauen und allerlei Entenvögel. Foto: Heiko Hornung

Als der Ersehnte kurz darauf deutlich näher meldet, werden die Handflächen feucht, und das Jägerherz beginnt, heftiger zu schlagen. Dort irgendwo im Finsteren zieht er. Wo wird er sichtbar? Wird er überhaupt sichtbar? Jurij entfernt sich noch etwas von mir, markiert aber mit seinem Fegen immer noch Erregung. Prompt antwortet der Geweihte schon so nah, dass man meint, er müsse jeden Moment vor einem auftauchen. Äste knacken in den Fichten. Er ist da. „Himmel, wird das Licht reichen?“, denke ich. Die letzten gelben Streifen am Horizont sind längst verschwunden, die blaue Stunde ist gleich vorüber. Wieder knackt es im Holz. Heftiger atmend schiebe ich mich hinter das Zielfernrohr, taste den Waldrand ab – nichts. Neben mir im Gebüsch hockt noch Dimitri. Auch er hält die Luft an. Jurij stimmt noch einmal an, ist von uns jetzt vielleicht 200 Meter weit weg. Wieder knackt es im Dämmerholz. Zunächst ist es nur ein heller Fleck, dann zwei. Und dann schaukeln zwei helle Bretter auf mich zu. „Mein Gott – da kommt er!“ Rufend schält sich ein großes Haupt mit starken Schaufeln aus dem Schwarz des Bruchs. Zunächst der massige Träger mit der großen Glocke (Kehlsack). Anschließend schiebt sich der gesamte Riese auf die Grabenkante. In meinen Ohren pfeift das Blut. Im helleren Farn hat der Hirsch mit dem Höcker über den Blättern und den weißen Läufen plötzlich klare Umrisse. Schon die Statur verrät Reife. Er steht dort für Sekunden wie eine Sagengestalt aus einem germanischen Heldenepos. Ein Auswuchs von Größe und vor allem riesiger, als ich ihn mir in meinen Träumen ausgemalt habe. Das Absehen ist gerade noch auf der dunkelbraunen Decke auszumachen. 80 Schritt ist er entfernt, vielleicht 90. Er sichert. Wenn er die offene Heide zügig durchquert, müsste ich im Ziehen auf ihn schießen. Leicht kippt das Haupt mit den Schaufeln nach vorn, um die Böschung zu nehmen, als der feine Faden hochblatt steht. Peitschend bricht der Schuss ins Dunkle. Der Hirsch reißt für den Bruchteil einer Sekunde das Haupt hoch, und mit steifen Vorderläufen kippt er einfach donnernd in den
Graben. Ich repetiere, schnaufe wie ein Gaul. Aus dem Dickicht hinter mir stürzt Jurij hervor, blickt mir erwartungsvoll ins Gesicht. Ich mache ein Handbewegung, die signalisiert: Er liegt. Mein Jagdführer fällt mir vor Freude das erste Mal um den Hals. Dimitri in der Hecke ist noch immer sprachlos. „Boaahh!“, ist das Einzige, was er im ersten Moment hervorbringt, bis er wieder Worte findet und sprudelnd seinem Landsmann das soeben Erlebte schildert.

Eine Ausnahme – ein elf- bis zwölfjähriger Schaufler liegt. Wesentlich häufiger sind starke Stangenelche. Foto: Heiko Hornung
Mit einem Abschleppseil wird der gewaltige Hirsch aus dem Graben gezogen, an Ort und Stelle aus der Decke geschlagen und zerwirkt. Foto: Heiko Hornung

Zwei-, dreimal sehen wir den Elch noch mit den Schaufeln schlagen. Flott queren wir die Fläche, bis wir bei ihm sind und einen Fangschuss setzen.

Ich bin benommen. Was für ein Urtier. Die Gratulationen und Umarmungen sind heftig. Die Erlegung eines Elches ist für alle Beteiligten etwas Besonderes, egal ob Schuütze, Fährtensucher oder Lockjäger. Ein Rothirsch ist imposant, wenn er liegt. Auch die Antilopen Afrikas sind von beeindruckender Größe. Doch sie alle sind nichts gegen den nordischen Elch. Immer wieder fasse ich in die Schaufeln, streiche ihm über die Decke und möchte den Moment, in dem wir mit dem Aufbrechen beginnen, so weit wie möglich hinauszögern, um ihn in seiner ganzen sagenhaften Erhabenheit zu erhalten. Irgendwann ist klar, wir müssen ihn hier rausschaffen. Das gelingt nur zerwirkt. Knapp drei Stunden dauert es, bis der riesige Hirsch im Kofferraum des UAZ verstaut ist.

Trophäenpräparation mit eigenem Topf und Ofen. Foto: Heiko Hornung

Bis tief in die Nacht sitzen wir nach dem Liefern unserer Beute im Jagdhaus, schmoren aus dem kopfgroßen Herz und reichlich Leber ein köstliches Elchragout, heben immer wieder die Gläser, imitieren Tierlaute, erzählen, lachen. Draußen an der Wand lehnt die gewaltige Trophäe. Beim Rauch einer Zigarette taste ich mit den Fingern über die vielendigen Schaufeln. Lächelnd formt mein Mund ein „Uuuah“, diesen seltsamen Laut, der diesen Heimlichen heute aus dem Sumpf lockte.

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