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Unfrei im Freistaat

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Unfrei im Freistaat
Der Rothirsch ist so bayerisch wie Weißbier und Trachtenjanker. Durch die Hirschlederne, Hirschhorn-Knöpfe oder das obligatorische Geweih im Wirtshaus ist er im Freistaat allgegenwärtig. Zudem lebt mit einem geschätzten Bestand von etwa 30 000 Stück in keinem anderen Bundesland mehr Rotwild als in Bayern. Vor allem im Alpenbogen, aber auch in Oberfran ken und im Spessart gibt es bedeutende Bestände. Bezieht man die hohe absolute Zahl an erlegtem Rotwild (etwa 10 000 Stück) jedoch auf die Fläche Bayerns, wendet sich das Blatt. Mit anderthalb Stück pro 1 000 Hektar Landesfläche wird hier weniger Rotwild erlegt als im bundesdeutschen Durchschnitt. Nur auf die Waldfläche bezogen, sieht es noch düsterer aus: Mit vier Stück erlegtem Rotwild pro 1 000 Hektar Wald liegt der Freistaat Bayern an viertletzter Stelle aller Bundes länder mit Rotwildvorkommen und damit

nur knapp vor dem Stadtstaat Hamburg!
Der Grund für die geringen relativen Zahlen: Der Lebensraum des Rotwildes ist in Bayern auf zehn behördlich aus gewiesene Bezirke reduziert, die nur rund 14 Prozent der Fläche Bayerns oder – anders ausgedrückt – 22 Prozent der Waldfläche ausmachen. Große Wälder sind in Bayern per Gesetz „rotwildfrei zu machen und zu halten“ (§ 17, Ausführungsverordnung zum Bayerischen Jagd gesetz). So darf Rotwild weder im Steigerwald noch auf der Schwäbischen- und Fränkischen Alb, im Frankenwald und in weiten Teilen des Bayerischen Waldes leben. Und das, obwohl diese Gebiete als Lebensraum unserer größten Wildart genauso geeignet wären wie Spessart oder Oberpfälzer Wald. Auch in der Tschechischen Republik und in Österreich gibt es direkt an der Grenze zu Bayern große Rotwildvorkommen. Wechseln die Stücke über die Grenze, müssen sie erlegt werden, sofern nicht einer der bayerischen Rotwildbezirke an die Staatsgrenze anschließt. Letztmalig wurden im Jahr 2000 die bestehenden Rotwildbezirke überprüft und neu festgeschrieben. Dabei wurden bisher bestehende Bezirke zum Teil verkleinert – beispielsweise Sonthofen um 7 000 Hektar seit 1995 –, andere vergrößert (Isarauen). Die Ausführungsverordnung zum Bayerischen Jagdgesetz verpflichtet die Jäger weiterhin, jedes Stück Rotwild, das den Rotwildbezirk verlässt, zu erlegen. Gemeinsam mit der im Landeswaldgesetz verankerten Doktrin „Wald vor Wild“ verdeutlicht dies die extrem wildfeindliche Politik Bayerns.
Welch widersinnige Auswüchse diese Politik annehmen kann, zeigt sich im Allgäu, wo einst die Rotwildbezirke „Schwarzer Grat“ (Bayern) und „Adelegg“ (Baden-Württemberg) einen fast 20 000 Hektar großen Rotwildlebensraum bildeten. Im Jahr 1986 wurde der etwa 15000 Hektar große Rotwildbezirk auf bayerischer Seite per Dekret aufgelöst und ein Berufs jäger eingestellt, der das nunmehr „illegal“ vorkommende Edelwild zu liquidieren hatte. Der etwa 4000 Hektar große Rotwildbezirk „Adelegg“ auf baden-württembergischer Seite hingegen besteht bis heute. Und immer noch wird auf bayerischer Seite jedes Stück Rotwild – auch Kronenhirsche – erlegt, während in dem viel zu kleinen „Adelegg“ regulär nach Abschussplänen und mit Blick auf die Sozialstruktur gejagt wird. Ähnlich wie in „Adelegg“ sieht es an den Grenzen aller Rotwild bezirke Bayerns aus: Innerhalb des Bezirkes wird – oft mit vielen Mühen verbunden – nach Abschussplan gewirtschaftet, und die angrenzenden Reviere müssen beziehungsweise dürfen jedes Stück von Amts wegen erlegen. Der Grund für diese äußerst restriktive Politik ist die Angst vor Wildschäden. Diese Angst stammt noch aus Zeiten, in denen Horst Stern zu Recht anprangerte, dass sich der Wildbestand am jagdlichen Interesse orientiere und nicht an der Tragfähigkeit der Lebensräume.

Mittlerweile sind die Verhältnisse in Bayern aber in das andere Extrem umgeschlagen. So heben Landkreise am Alpenrand, wie Garmisch- Partenkirchen, das Nachtjagdverbot auf, da sich das Wild tagsüber aufgrund des Jagddruckes nicht mehr zeigt. Dagegen wandte sich die Rotwildhegegemeinschaft „Bayrische Rhön“ vor wenigen Wochen mit einer Resolution an den Bayerischen Landwirtschaftsminister Helmut Brunner: In der 180 Reviere umfassenden Hegegemeinschaft wurde im vergangenen Jagdjahr nur noch in 70 Revieren Rotwild erlegt. Eine der Ursachen sei, so die Autoren, eine Anweisung an die Unteren Jagdbehörden, die Abschusspläne der Bayerischen Staatsforsten (BaySF) ungeprüft und unabhängig von ihrer Höhe zu bestätigen. Unter der Hand wird von einigen Forstbetriebs leitern immer wieder bemerkt, dass sie in den nächsten Jahren keine Rothirsche mehr in den Revieren schreien hören wollen. Bereits im Herbst 2009 machten die BaySF von sich Reden, als die Regierung von Niederbayern ihren Antrag auf Abschuss von Rotwild im Wintergatter genehmigte. Nicht zuletzt durch Intervention des Bayerischen Jagdverbandes konnte dies in letzter Sekunde verhindert werden.
Besonders an den für Deutschland einmaligen Wintergattern entzündet sich in Bayern immer wieder ein Konflikt. Vor allem im Alpenraum und im Bayerischen Wald werden große
Teile der Rotwildbestände von November bis April, vereinzelt sogar bis in den Mai hinein, in kleine Wintergatter gelockt und dort „gehalten“, damit sie keine Schäden am Wald anrichten. Neben der grundsätzlichen Über legung, ob eine „Winterhaltung“ von Wildtieren legitim ist, spielen bei der Diskussion vor allem Aspekte des Tierschutzes eine Rolle: So manches Kalb
wurde und wird im Mai in den Wintergattern gesetzt. Wem bewusst ist, dass sich Alttiere zum Setzen stets isolieren und jedes Jahr das gleiche Gebiet auf suchen, der begreift, wie sehr das winterliche Gattern die natürlichen Verhaltensweisen des Rotwildes beeinflusst. Diese Gründe waren es sicher auch, die den Nationalpark Bayerischer Wald im Jahr 2007 dazu bewogen, die bestehenden Gatter in seinem Gebiet zur Diskussion zu stellen. In einem Nationalpark, der auf riesigen Flächen durch den natürlichen Einfluss des Borkenkäfers gestaltet wurde, ist die Angst vor Wildschäden ungerechtfertigt. Somit war die Auflösung der Winter gatter ein nachvollziehbares Ziel. Letztendlich scheiterte die Diskussion bereits nach wenigen Anläufen und dies nicht zuletzt am starken Widerstand seitens der Jägerschaft. Sie befürchtete massive Wildschäden in Wäldern, die an den Nationalpark angrenzen und für die sie hätte aufkommen müssen.
Am Beispiel des Bayerischen Waldes lässt sich noch ein anderes Dilemma bayerischer Rotwildpolitik erkennen: In seinen großen Wäldern existiert nur ein relativ kleiner Bewirtschaftungsbezirk, der größtenteils im Nationalpark liegt. Allerdings kommt Rotwild entlang der tschechischen Grenze flächendeckend bis hinauf zum Fichtelgebirge „illegal“

vor. Der Grund für diese eigentlich zu begrüßende Verbreitung liegt in einer langen Kette von Kirrungen und Fütterungen, die jährlich in der Jagdzeit entlang der Grenze eingerichtet wird. Auf diese Weise wird das Rotwild aus dem tschechischen Böhmerwald in Gebiete gelockt, die nach dem bayerischen Jagd- gesetz „rotwildfrei zu machen und zu halten“ sind. Am Boden dieser Missstände ist man aber erst angelangt, wenn man begreift, warum sich die Jäger der Region zum Teil vehement gegen eine Ausweisung ihrer Reviere als Rotwildbezirke ausgesprochen haben: In Rotwildbezirken wären sie der Hege und damit auch einem regulären Abschussplan verpflichtet. Außerhalb der Rotwildbezirke muss jedes Stück, ob männlich oder weiblich, alt oder jung, erlegt werden. Und so wird häufig das Kahlwild geschont und auf den Kronenhirsch gewartet. Am Ende der Jagdzeit werden dann viele Kirrungen nicht mehr beschickt, und das über die Grenze gelockte Rotwild geht in den Wäldern zu Schaden.
Diese Beispiele zeigen, dass der Stolz der Bajuwaren auf ihren Rothirsch häufig nicht über den Stammtisch hinausreicht. Zwar ist der Bestand dieser Wildart in Bayern zweifellos gesichert, doch ein Blick in das bayerische Jagdgesetz reicht, um zu erkennen, dass das Edelwild im Freistaat weit von einem artgerechten Leben entfernt ist. In keinem anderen Bundesland ist der Rothirsch außerhalb der vorgegebenen Verbreitungsinseln so „vogelfrei“ wie in Bayern. Andere Bundesländer, die ebenfalls den Lebensraum auf Rotwildbezirke einschränken, lassen zumindest die Wanderbewegungen von mehrjährigen Hirschen zwischen den Rotwildgebieten zu. Innerhalb der Bezirke ist die Jagd auf den Rothirsch von langen Jagdzeiten, Kirrungen und Nachtjagd geprägt. So lassen die Umgangsformen mit Rotwild in Bayern einiges zu wünschen übrig, und manche Jäger müssen sich den Vorwurf gefallen lassen, dass sie die Gelegenheit zum Missbrauch, die das Bayerische Jagdgesetz an einigen Stellen bietet, gerne annehmen.

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