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Wer jetzt jagt, schält Wälder!

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Rotwild braucht im Winter vor allem Ruhe. Dem entgegen veranstalten öffentliche Forstverwaltungen gewinnbringende Verkaufsjagden bis zum Ende der Jagdzeit. Warum dies der falsche Weg ist, der zu erhöhten Schäl- und Verbissschäden führt, erklärt Prof. Dr. WALTER ARNOLD vom Forschungsinstitut für Wildtierkunde und Ökologie in Wien.

FOTO: REINER BERNHARDT

Ohne Zweifel können Verbiss und Schälschäden untragbare Ausmaße annehmen. Doch verantwortlich für Wildschäden durch Rotwild sind nicht immer überhöhte Bestände. Oftmals sind es Fehler in der Bewirtschaftung, die aus Unkenntnis der Biologie gemacht werden. Warmblütige Pflanzenfresser haben im Winter ein doppeltes Problem zu bewältigen: Das Äsungsangebot ist bei geringer Qualität knapp, und darüber hinaus behindert eine oft mächtige Schneedecke die Nahrungssuche. Gleichzeitig verbraucht das Wild mehr Energie, um seinen Stoffwechsel aufrecht zu erhalten.

Einige Säuger halten Winterschlaf oder fallen in die so genannte tägliche Kältestarre. Beides sind Reaktionen, bei denen durch Herabsetzen der Körpertemperatur der Stoffwechsel und damit der Energiebedarf beträchtlich gesenkt wird. Gleichzeitig bestreiten diese Arten den noch verbleibenden Energiebedarf während des Winters fast überwiegend aus zuvor angefressenen Fettreserven.

Alte Untersuchungen darüber, ob Huftiere ähnliche Strategien verfolgen, kamen zu einem negativen Ergebnis. Ein Fehlschluss – verursacht durch die unnatürliche Situation in Kleingehegen oder Stoffwechselkammern.

Um diese Fehlerquellen auszuschließen, wurde am Forschungsinstitut für Wildtierkunde und Ökologie in Wien Rotwild in großen Gehegen untersucht. Dort konnte es sich unter naturnahen Bedingungen frei bewegen. Ganzjährig wurden störungsfrei der Energieverbrauch, die Körpertemperatur und die Aktivität mit einem speziell dafür entwickelten Telemetriesystem gemessen. Ein in Höhe des Brustbeines implantierter Minisender maß dabei die Herzschlagfrequenz, die die Stoffwechselaktivität gut widerspiegelt.

Weiterhin infomierte der Sender permanent über Bewegungen und Halsstellung seiner Träger. Das System ermöglichte neben der Langzeitmessung physiologischer Kennwerte auch eine genaue Abschätzung der mit der Nahrungsaufnahme verbrachten Zeit. Mittlerweile wurde das System weiterentwickelt, um es auch in freier Wildbahn anzuwenden. Der neue Sender wird von den Stücken geschluckt und bleibt dauerhaft im Netzmagen liegen. Das Gerät liefert zusätzlich eine neue, wichtige Information: die Temperatur im Körperinneren. Eichenund Buchenmischwald sowie Freiflächen boten dem Rotwild Äsung wie in freier Wildbahn. Die hohe Wilddichte erforderte jedoch eine zusätzliche Fütterung, die die Forscher wiederum für Experimente nutzten: Ganzjährig fütterten sie dem Rotwild Pellets an einer computerkontrollierten Fütterung. Die Station registrierte exakt, wie viel welches Stück äste, und wie viel es auf die Waage brachte.

Die Pellets enthielten geringe Mengen einer unverdaulichen Substanz. Aus gesammelten Losungsproben ließ sich über die Verdünnung dieser Substanz nachweisen, wie viel Naturäsung zusätzlich aufgenommen wurde. Obwohl stets unbegrenzt viele Pellets zur Verfügung standen, glich das Rotwild den jahreszeitlich bedingten Nahrungsengpass nicht aus. Die Stücke verbrauchten im Winter nur etwa halb soviel wie im Sommer (Abb. 1). Dies zeigt, dass ein großer Teil des täglichen Energiebedarfes im Winter durch den Abbau von Fettreserven gedeckt wird.

Abbildung 1: Die tägliche Nahrungsaufnahme von Rotwild zeigt deutliche jahreszeitliche Unterschiede. Im Winter sinkt der Äsungsbedarf fast um die Hälfte des Sommerniveaus.
GRAFIK: PROF. DR. WALTER ARNOLD

Weitere Informationen hierzu lieferten die Losungsanalysen. Mit dem Kot
werden Abbauprodukte von Hormonen ausgeschieden. Im Zusammenhang mit dem Fettabbau sind so genannte Glucokortikoide von Bedeutung. Hohe Werte führen zur Mobilisierung von Fettreserven, niedrige hingegen kennzeichnen deren Aufbau. Das jahreszeitliche Muster beim untersuchten Rotwild passte genau zur Nahrungsaufnahme: Im Winter schieden die Tiere fast doppelt soviel Abbauprodukte von Glucokortikoiden aus als im Sommer. Dieser regelmäßige Wechsel im Jahresverlauf von Fettauf und -abbau ist ein wesentliches Merkmal der Biologie des Rotwildes.

Um harte, lange Winter zu überstehen, muss es jedoch diese Reserven möglichst sparsam nutzen. Rotwild ist dazu
in einem bisher ungeahnten Maße in der Lage. Der Verlauf der Pulsrate zeigt, dass der Energieverbrauch im Spätwinter auf etwa 40 Prozent des Jahreshöchstwertes von Mai/Juni sinkt (Abb. 2, oben).

Die Kurven zeigen jahreszeitliche Veränderungen physiologischer Kenngrößen und des Verhaltens von Rotwild. Die Phasen des Fortpflanzungsgeschehens stellen die Balken am unteren Rand der Grafik dar. Jeder Punkt entspricht dem Mittelwert der untersuchten Stücke für den entsprechenden Tag im Jahr.
Oben links: Energieverbrauch, gemessen als Pulsrate bei Aktivität (hellrot) und in Ruhephasen (dunkelrot).
Mitte: Körpertemperatur unter der Haut mit täglichem Minimum und Maximum als Maß der Streuung (Striche).
Blau: Tagesmittelwert der Lufttemperatur.
Unten: Tägliche Aktivitätszeit der untersuchten Tiere.
GRAFIK: PROF. DR. WALTER ARNOLD
Oben rechts: Die Wärmebildkamera zeigt, wie stark der
Wildkörper im Winter auskühlt.
GRAFIK: PROF. DR. WALTER ARNOLD

Im Winter sind die Stücke deutlich weniger aktiv (Abb. 2, unten). Diese Veränderung kann jedoch keinesfalls den kompletten Rückgang des Energieverbrauches erklären. Die Pulsrate im Ruhezustand zeigt nämlich einen identischen Verlauf wie bei Aktivität (Abb. 2, oben). Im Sommer bleibt die tägliche Aktivität etwa gleich hoch, während die durchschnittliche Pulsrate im selben Zeitraum merklich abnahm. Insgesamt waren die jahreszeitlichen Veränderungen im Energieverbrauch so groß, dass die energetischen Auswirkungen von Brunft, Trag- oder Säugezeit kaum noch auffielen (Abb. 2, unten).

Darüber hinaus reduziert ein weiteres Phänomen den Energieverbrauch im Winter: Organe, die wegen der geringeren Nahrungsaufnahme weniger gebraucht werden, schrumpfen. Das Fassungsvermögen des Pansens ist im Spätwinter um etwa 40 Prozent geringer als im Sommer. In freier Wildbahn erlegtes Rotwild belegte sogar, dass auch Leber, Nieren und Herz im Winter beträchtlich verkleinert sind.

Den bedeutsamsten Beitrag zum enorm verringerten Energiebedarf im Winter liefert jedoch eine Reaktion, die man bisher nur von Winterschläfern kannte. Gliedmaßen und äußere Teile des Rumpfes werden weniger durchblutet,die Wärmeproduktion somit zurückgefahren. In den äußeren Körperregionen kühlen die Stücke stark aus. Selbst im Körperkern wurden nur 15 Grad Celsius gemessen. Zonen mit höherer Temperatur an der Oberfläche, die viel Körperwärme abstrahlen, gibt es nur in der Kopfregion.

Niedrige Körpertemperaturen traten überwiegend in kalten Nächten des Spätwinters auf, wenn widrige Wetterverhältnisse und ausgehende Körperfettreserven zusammentrafen. Niedrige Lufttemperaturen allein führen nicht zu niedrigeren Körpertemperaturen. Am kältesten während dieser Studie war es in den Tagen um den Jahreswechsel. Die Tagesmittel der Unterhauttemperatur erreichten die niedrigsten Werte jedoch im Februar und März (Abb. 2, Mitte ).

Eine automatische Fütterungsstation ermöglicht die genaue Erfassung der Nahrungs aufnahme und des Körpergewichtes.
FOTO: ERNST KAINERSTORFER

Die Analyse einzelner Winternächte zeigte, dass die verringerte Wärmeproduktion im Körper unmittelbar den Energieverbrauch drosselte. Je mehr die äußere Körpertemperatur sank, desto stärker fiel die Pulsrate. Sowohl in Ruhe als auch während der Aktivität. Abbildung 3 zeigt diesen Effekt beispielhaft an einem zehnjährigen Hirsch. Während in der Nacht vom 30. März innere Wärmeproduktion und Stoffwechsel reduziert wurden, erfolgte dies nur fünf Tage später nicht mehr.

Verlauf der Körpertemperatur in der Unterhaut in zwei Spätwinter nächten und der Zusammenhang mit dem Energieverbrauch (gemessen als Herzschläge pro Minute) bei einem zehnjährigen Hirsch. Die schwarze Kurve oben zeigt deutlich die Reduktion der Körpertemperatur am 30. März, die am 4. April (rot) nicht erfolgte. Die unteren Kurven zeigen den daraus resultierenden Energieverbrauch bei Bewegungsaktivität (Balken) und Ruhe (Punkte).
GRAFIK: PROF. DR. WALTER ARNOLD

Der wichtigste Faktor im Winter ist daher Ruhe! Spätestens um Weihnachten muss der Abschuss erfüllt sein. Die deutschen Jagdzeiten für Rotwild missachten jedoch massiv die biologischen Bedürfnisse dieser Wildart. Wo im fortgeschrittenen Winter noch gejagt wird, braucht man sich über Wildschäden am Wald nicht zu wundern. Ruhe im Revier betrifft aber nicht nur die Jagd, sondern jegliche Art der Landschaftsnutzung.

Wie man erfolgreich die Bedürfnisse des Rotwildes berücksichtigen kann, zeigt der Schweizer Kanton Graubünden. Dort weisen die Gemeinden zahlreiche Wildruhezonen aus mit einem absoluten Betretungsverbot im Winter. Solche Zonen müssen nicht riesengroß sein und stehen nicht im Widerspruch zu (forst)-wirtschaftlichen Interessen. Vielmehr stellen sie dem Wild auch in Regionen mit intensivem Wintertourismus geeignete und ruhige Einstände zur Verfügung.

In Graubünden leben etwa 14000 Stück Rotwild auf 7000 Quadratkilometern. Das entspricht einer durchschnittlichen Dichte von deutlich mehr als zwei Stücken pro 100 Hektar, denn etwa die Hälfte der Fläche ist in dieser Gebirgsregion für das Rotwild nicht nutzbar. Trotzdem sind die Schäl- und Verbissschäden – ganz ohne Winterfütterung – erträglich.

Erfolgreiches Wintertreiben auf Rotwild. Der Abschussplan sollte allerdings bis Weihnachten erfüllt sein, danach braucht Rotwild absolute Ruhe. FOTO: JÖRG FISCHER

Die Jagd auf Rotwild nach Weihnachten wird oft damit begründet, dass die Wildbestände anders nicht zu regulieren seien. Graubünden demonstriert das Gegenteil: Jährlich werden dort etwa 4000 Stück Rotwild erlegt. Zirka 75 Prozent davon kommen in einer dreiwöchigen Jagdzeit im September zur Strecke. Der Rest, falls erforderlich, wird bei regional geplanten Sonderjagden erlegt. Diese beginnen frühestens im November und enden spätestens Mitte Dezember. Bei diesen Jagden werden gezielt Kälber und Alttiere erlegt, um eine möglichst natürliche Populationsstruktur zu erreichen. Durch kürzere Jagdzeiten und Intervalljagd ist das Wild vertrauter, der Bestand lässt sich deshalb in relativ kurzer Zeit erfolgreich regulieren.

Der Rothirsch fristet heute in Deutschland, eingesperrt in kleinen Restlebensräumen, ein trauriges Dasein. Der wissenschaftliche Fortschritt zeigt jedoch Alternativen auf. Vielerorts könnten sogar höhere Rotwildbestände existieren. Auch in Regionen, aus denen sie heute aufgrund wirtschaftlicher Bedenken verbannt sind. Voraussetzung dafür ist aber ein Management, das es den Tieren ermöglicht, ihren Energieverbrauch im Winter in vollem Umfang zu reduzieren. Dazu müssen sie sich aber in ungestörte Einstände zurückziehen können. Eine Bejagung des Rotwildes bis Ende Februar, wie sie die Bundesjagdzeitenverordnung ermöglicht, ist demnach sowohl aus wildbiologischer als auch aus forstlicher Sicht höchst bedenklich und uneffizient.

Auch Rothirsche zehren – ähnlich wie Winterschläfer – im Winter vor allem von gespeicherten Fettreserven. Die körpereigene Wärmeproduktion wird wie die Aktivität deutlich reduziert. FOTO: MARCO LOEBEL
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