ANZEIGE

Schwarzes Dynamit

1576


 

Mathematische Modelle helfen seit langem, gezielte Maßnahmen im Wildtiermanagement zu entwickeln. Die Sauen kamen hier aber immer zu kurz. Zwei Forscher haben sich jetzt die explodierenden Populations-Zahlen der Schwarzkittel vorgeknöpft.

 

Sauen, Sauen, Sauen: Das Fortpflanzungs-Potenzial wird noch immer weit unterschätzt. Dies umso mehr, als dass die Zahl der reproduzierenden Frischlinge bei einer dauerhaft guten Nahrungversorgung weiter steigen dürfte

von Dr. Claudia Bieber und Prof. Dr. Thomas Ruf

Das Problem ist bekannt und im „Sauen-Sommer“ von WILD UND HUND in den zurückliegenden Ausgaben wiederholt dargestellt worden: Das Schwarzwild ist in vielen Teilen Europas auf dem Vormarsch. Landwirtschaftliche Schäden in astronomischen Höhen gehen mit der permanenten Gefahr neuer Seuchenzüge der Europäischen Schweinepest Hand in Hand. Verursacht wird das enorme Populations-Wachstum letztlich durch die hohe Fortpflanzungsleistung der Schwarzkittel. Unter günstigen Bedingungen – bei gutem Fraßangebot – frischen bereits die Frischlinge ihrerseits zu einem hohen Anteil. Zusätzlich verringert sich die Wintersterblichkeit, und die Fruchtbarkeit der älteren Bachen steigt.

Effektive Kontrolle noch möglich?

An diesem Punkt kommt der Mensch ins Spiel. Durch die vorherrschende Form der Landwirtschaft sowie durch unsachgemäße Fütterung und Kirrung werden Nahrungsquellen für das Schwarzwild verfügbar gemacht, die zwangsläufig zu einem dramatischen Anwachsen der Bestände führen müssen. Auch die generelle Schlussfolgerung liegt auf der Hand: Nur durch intensive Bejagung und die Entnahme des gesamten jährlichen Zuwachses wäre das Wachstum der Bestände zu stoppen.

Diese allgemeine Feststellung lässt allerdings entscheidende Fragen zu konkreten Maßnahmen unbeantwortet. Kann Schwarzwild in der modernen Kulturlandschaft überhaupt noch effektiv kontrolliert werden? Wenn ja, wie? Welche Rolle spielen die einzelnen Altersklassen für die Populationsdynamik? Welche Gruppe hat den bedeutendsten Einfluss auf die Bestandsentwicklung? Lassen sich fixe Richtwerte für die Bejagung bestimmter Altersklassen angeben? Diese und weitere Fragen wollen wir hier beantworten.

Die Leslie-Matrix-Modelle

Der erste unabdingbare Schritt zur Entwicklung solider Management-Empfehlungen muss eine gründliche Analyse der Populationsdynamik sein. Dazu haben wir mathematische Modelle verwendet, die in den letzten Jahren international eine große Rolle im Wildtiermanagement erlangt haben – die so genannten Leslie-Matrix-Modelle. Anhand dieser mathematischen Methode lässt sich die Entwicklung von Wildtier-Populationen unter verschiedenen Umweltbedingungen vorhersagen.

Gerechnet wird dabei mit Fruchtbarkeits- und jährlichen Überlebensraten – überlebende Stücke nach einem Jahr und nach allen Abgängen durch natürliche Sterblichkeit, Fallwild und Bejagung – in den einzelnen Altersklassen. Es werden also fortlaufend Wechselwirkungen zwischen der Zusammensetzung des Bestandes hinsichtlich seiner Altersstruktur sowie des Geschlechterverhältnisses und die Geburten- und Sterbe-Raten mit eingerechnet. Weiterhin können wir so herausfinden, wo die „Achillesferse“ einer Population liegt, welcher Faktor also den stärksten Einfluss auf die Bestandsentwicklung hat.

Immer häufiger kommt es zu beachtlichen Masten

Auf der Grundlage der von Professor Lutz Briedermann sehr gut dokumentierten Daten über die Fortpflanzungsleistung und natürliche Sterblichkeit des Schwarzwildes unter verschiedenen ökologischen Bedingungen haben wir solche Berechnungen durchgeführt. Die Modelle konzentrieren sich in diesem Fall nur auf weibliche Sauen, da nur sie letztlich für das Populationswachstum entscheidend sind. Dabei gehen wir von einem ausgewogenen Geschlechterverhältnis (1:1) bei der Geburt aus.

Diese wirklichkeitsgetreue Modellierung der Populationsdynamik von Schwarzwild erlaubt uns, die Auswirkungen veränderter ökologischer Bedingungen – besonders der Nahrungsgrundlage – im Detail zu verstehen. Eine der wichtigsten Nahrungsquellen der Schwarzkittel ist die Mast von Buchen und Eichen. Bei beiden kommt es immer häufiger zu beachtlichen Masten. Dass diese Zunahme für die Sauen aber nur eine untergeordnete Rolle spielt, können wir durch die Anwendung von kombinierten Leslie-Matrix-Modellen verdeutlichen. Dabei werden Bestandsentwicklungen bei natürlichen Abfolgen der Vollmast, Halbmast und Fehlmastjahre berechnet, basierend auf den Fruchtbarkeits- und Sterblichkeitsdaten der Sauen unter günstigen, mittleren und ungünstigen Nahrungsbedingungen.

Es zeigt sich, dass eine Population von 100 Stück Schwarzwild nur geringfügig schwankt und sich langfristig bei etwa 200 Stück einpendelt. Im modellierten Zeitraum von insgesamt 22 Jahren gab es sechs Ausfalljahre, 13 mittlere Jahre und drei Vollmastjahre. Auch diese hohe Zahl von Mastjahren führt aber noch nicht zu einer Explosion des Bestandes.

Durch die moderne Landwirtschaft – aber auch durch falsche Fütterungs- und Kirrungspraktiken – haben die Sauen heute jedoch die Möglichkeit, in schlechten Mastjahren auf andere Fraßquellen auszuweichen. Wirklich „schlechte“ Jahre kommen für das Schwarzwild in mitteleuropäischer Kulturlandschaft praktisch nicht mehr vor. Simuliert man nun diesen Wegfall der ungünstigen Jahre und ersetzt sie durch mittlere Jahre – was realistisch ist– so sehen wir ein extremes Anwachsen der Population. Nach 22 Jahren sind aus 100 Stück 1631 Stück Schwarzwild geworden – Tendenz steigend!

Nahrungsbedingungen nehmen Einfluss auf Frischlingsbestand

Hier wird unzweifelhaft deutlich, wie entscheidend die Möglichkeiten des Ausweichens auf „menschengemachte“ Nahrungsquellen für die Dynamik von Schwarzwildbeständen sind. Fehlen die schlechten Jahre und damit wiederholte, natürliche Dezimierungen des Bestandes auf Grund von Futtermangel, so ist, selbst nach vorsichtigen Berechnungen, ein sehr starkes Anwachsen der Schwarzwildpopulation unvermeidlich. Welche Rolle spielen nun aber Fruchtbarkeit und Sterblichkeit der einzelnen Altersklassen bei diesem Bestands-Anstieg?

Ein wesentliches Ergebnis unserer Analysen ist, dass in wachsenden Beständen die jährliche Überlebensrate der Frischlinge den größten Einfluss auf die Wachstumsrate der Population hat. Hier liegt eindeutig der Motor des Anstiegs – aber auch die Achillesferse des Schwarzwildes. Steigt die Zahl der jährlich überlebenden Frischlinge etwa um zehn Prozent, dann wächst die Population viel schneller, als würde zum Beispiel die Überlebensrate der älteren Bachen oder deren Fruchtbarkeit um den gleichen Prozentsatz steigen. Wie viele Frischlinge überleben können beziehungsweise dürfen, ohne dass der Bestand langfristig wächst, ist wiederum abhängig von den Nahrungsbedingungen. Bei dauerhaft gutem Fraßangebot dürfen nur höchstens 20 Prozent der Frischlinge überleben, um den gleichen Bestand zu halten – vorausgesetzt, dass die Sterblichkeit bei Überläuferbachen bei 60 Prozent und bei reifen Bachen bei 40 Prozent liegt! Sind die Nahrungsbedingungen dagegen andauernd ungünstig – ein zunehmend unrealistisches Szenario – kommt es erst zu einem weiteren Anwachsen der Population, wenn mehr als etwa 40 Prozent der Frischlinge überleben.

Starke Bejagung notwendig

Umgekehrt lässt sich leicht zeigen, welche Folgen eine fehlende jagdliche Regulation der Frischlinge bei günstigen Bedingungen hat: Überleben 60 Prozent der Frischlinge bei guter Nahrungsgrundlage, erreichen Frischlings- und Überläuferbachen bereits so hohe Fortpflanzungsraten, dass die ausgewachsenen Bachen für die Bestandszunahme praktisch keine Rolle mehr spielen. Selbst bei der theoretischen Annahme einer Sterblichkeit von 100 Prozent für ausgewachsene Bachen wäre ein weiteres Anwachsen der Population nicht aufzuhalten.

Unsere Analyse zeigt klar, dass eine starke Bejagung speziell der Frischlinge nicht nur Voraussetzung für eine effektive Bestandskontrolle ist, sondern auch das geeignete Instrument, um das Wachstum empfindlich zu reduzieren. Allerdings muss die Abschussrate der Frischlinge möglichst genau festgelegt werden, entsprechend der von Jahr zu Jahr verschiedenen Fraßsituation. Ein genereller Richtwert – zum Beispiel 75 Prozent – kann für manche Jahre und Gebiete zutreffen, für andere aber den gewünschten Effekt durchaus verfehlen. Bleibt die Überlebensrate der Frischlinge in günstigen Jahren nur wenige Prozent über dem anzustrebenden Wert, kommt es trotz allen jagdlichen Aufwands zu einem starken Anwachsen der Population.

Stabilisierung der Population

In der Praxis sind natürlich nicht nur prozentuale Anteile bei den Entnahmen, sondern auch die absolute Populationsdichte ein wesentlicher Faktor. Geht man davon aus, dass ein Jäger durchschnittlich rund 20 Stunden aufwenden muss, um ein Stück zu erlegen, dann wird klar, dass bei einer bereits stark angewachsenen Population mit sehr hoher Dichte die Überlebensrate von Frischlingen kaum auf das erforderliche Maß abgesenkt werden kann. Die Entnahme eines bestimmten Anteils der Frischlinge ist zwar am wirkungsvollsten, bei den erforderlichen hohen Stückzahlen in Populationen mit normaler Altersstruktur, aber wesentlich aufwändiger als die Entnahme des gleichen Prozentsatzes ausgewachsener Tiere. Darüber hinaus ist abzusehen, dass eine übertriebene Schonung der reifen Bachen bei starkem Jagddruck auf Frischlinge zu einer Verhaltensanpassung der Altbachen führt. Sie entziehen sich und ihren Nachwuchs der weiteren Entnahme.

Aus diesen Gründen ist eine Bejagung aller Alterklassen angezeigt. Das Ausmaß der notwendigen Erlegungen von Überläufer- und reifen Bachen hängt in erster Linie vom Erfolg der Frischlingsabschüsse ab. Aber natürlich auch von der Nahrungssituation (Mastjahre) und damit von der tatsächlichen Wachstumsrate des Bestandes. In den zwei Graphiken auf der linken Seite sind die Grenzwerte der Überlebensraten von stabilen, nicht anwachsenden Beständen unter verschiedenen Bedingungen zusammengefasst. Diese Graphiken machen deutlich, dass die Entnahme eines möglichst hohen Frischlingsanteils die absolute Grundvoraussetzung einer erfolgreichen Kontrolle ist. Die Stabilisierung einer Population kann dann durch verschiedene Kombinationen der zusätzlichen Entnahme von Überläufer- und reifen Bachen erreicht werden; die gezeigten blauen gestrichelten Linien stellen jeweils nur eine Beispiel-Kombination dar. Soll die Population nicht nur eingedämmt, sondern tatsächlich dezimiert werden, dann müssen die Überlebensraten unter die gezeigten Grenzwerte gesenkt werden.

Effektives Schwarzwild-Management

Dennoch kann die Bejagung nur ein Standbein eines effektiven Schwarzwild-Managements sein. Will man die rapide Vermehrung wirksam eindämmen, so muss möglichst ausgeschlossen werden, dass sich das Schwarzwild zusätzliche Nahrungsquellen erschließen kann, oder dass es durch falsch bestückte Ablenkfütterungen oder Kirrungen zu einem zusätzlichen Fraßangebot kommt. Gelingt es nicht, die „Dauermast“ des Schwarzwildes zu beenden und eine intensive und erfolgreiche Bejagung setzt zu spät ein, werden die Sauen mancherorts mit jagdlichen Mitteln schon bald nicht mehr ausreichend zu kontrollieren sein.

Leben wie „Schwein in Deutschland“: Wo die Sauen auch hinkommen, sie finden überall ein reichhaltiges Fraßangebot

 

ANZEIGE

ANZEIGE
Aboangebot