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Keine „Pille“ ohne Folgen

1999


Die Wildbahn als Versuchslabor:
Während einige Veterinärmediziner zum Beispiel den Einsatz von „Antybabypillen“ und Impfstoffen bei Wildtieren weiter befürworten, warnen etliche Kollegen und Wildbiologen davor, der Natur medikamentös ins Handwerk zu pfuschen – unter ihnen Prof. Dr. Dr. Klaus Pohlmeyer, Leiter des Institutes für Wildtierforschung an der Tierärztlichen Hochschule Hannover. Der erfahrene und international renommierte Experte sagt warum.

 

Die kombinierte Impfung von Wildkaninchen gegen die Myxomatose und RHD birgt unabsehbare Gefahren in sich. Zahlreiche Veterinäre raten dringend davon ab

Von Prof. Dr. Dr. Klaus Pohlmeyer

Durch das Schweinepestgeschehen in mehreren Bundesländern ist die in der oberen Titelzeilen aufgestellte These so aktuell wie selten zuvor. Bei etwa drei Milliarden Euro Kosten durch direkte oder indirekte Seuchenschäden des noch immer nicht vollständig abgeklungenen derzeitigen Seuchenzuges ist das nicht verwunderlich. Während die sicher diskussionswürdige Seuchenpolitik der EU die Schweinepest im Hausschweinbestand mit den probaten massiven Mitteln der Keulung, der Handelsverbote etc. relativ schnell beherrscht, stellt die Bekämpfung der Seuche im Schwarzwildbestand eine äußerst schwierig zu lösende Aufgabe dar.

Nachdem nachweislich aus dem Hausschweinbestand das Virus der Europäischen Schweinepest (ESP) in die Sauenpopulation eingetragen war, lehrten immer wieder auftretende Pestnachweise bei Sauen in mehreren Bundesländern die Seuchenexperten und die Wirtschaft das Fürchten. Obwohl die hohen, regional sicher auch überhöhten Sauenbestände nicht ursächlich für den Ausbruch der ESP verantwortlich waren, muss eingeräumt werden, dass die hohe Sauendichte die Situation erheblich gefördert und verstärkt hat.

„Antifrischlingspillen“

Da jede Seuche nur durch die Reduktion der empfänglichen Tiere zum Erlöschen gebracht werden kann, wurde zur verstärkten Bejagung der Sauen – einschließlich des Fangens von Frischlingen – aufgerufen. Weiterhin wurde mit Ausnahmegenehmigungen der EU in den Pestgebieten ein Impfstoff zur oralen Aufnahme eingesetzt. Von den Jägern wurden Höchststrecken geliefert, und auch die Impfungen zeigten Erfolg. Mehr als 50 Prozent der untersuchten Sauen wiesen Impf-Antikörper auf und waren damit immun gegen das ESP-Virus. Sowohl der Landwirtschaft als auch einigen Seuchenexperten reichten – aus wirtschaftlicher wie seuchenmedizinischer Sicht verständlich – diese Erfolge jedoch nicht aus, da die sich stetig erhöhenden Schwarzwildstrecken bei gleichzeitigem Fortschreiten der Pest Zweifel an einer realistischen Absenkung des Schwarzwildbestandes durch die Bejagung aufkommen ließen. Die hieraus entstehenden Überlegungen führten schnell zu einer ernsthaften Erörterung des Einsatzes von „Antifrischlingspillen“. Ohne Zuwachs müssten bei gleich bleibend intensiver Bejagung über einen vergleichsweise kurzen Zeitraum die Bestände erheblich zu reduzieren und damit dem Pestvirus die Verbreitungsmöglichkeit genommen sein – ein Gedankengang, dem man sich in seiner logischen Konsequenz vorab nicht verschließen kann.

Vielen erfolglose Therapieversuche

Damit hätten wir aber allein im derzeitigen Schweinepestgeschehen zwei Medikamente in der Wildbahn, nämlich den erfolgreich eingesetzten Impfstoff und einen Ovulationshemmer zur Aussetzung der Reproduktion. Der Einsatz dieser Medikamentengruppen in der Wildbahn stellt im Übrigen nichts Neues dar, da Impfstoffe und Kontrazeptiva sowohl in Deutschland als auch in Übersee bei Wildtieren schon zum Einsatz kamen.

Als Wildbiologe mit veterinärmedizinischen Wurzeln hat mich während meiner Studienzeit (beginnend Mitte der 60er Jahre) das gesamte Spektrum der Wildtierkrankheiten besonders interessiert. Im Vordergrund standen damals bei allen Wildarten die Parasitosen, die häufig – ohne eine Differenzierung in primäre oder sekundäre vorzunehmen – als Todesursache auf den Sektionsprotokollen nachzulesen waren. Rehböcke schoben so genannte Wurmgehörne, Hasen verendeten vornehmlich an Kokzidiose, Fasanen erkrankten und starben in Aufzuchtstationen an Haar- und Roten Luftröhrenwürmern etc.

Folgerichtig wurde der Feldzug gegen die Parasiten eröffnet: Lecksteine mit Wurmmitteln lagen in den Krippen der damals üblichen Rehwildfütterungen, und in Präparaten gegen die Kokzidiose sowie ebenfalls in Wurmmitteln getränkte Apfel- und Zuckerrübenstücke wurden Hasen und Fasanen in der Hoffnung angeboten, gesünderes, stärkeres und reproduktiveres Wild zu erzielen. Erst nach vielen erfolglosen Therapieversuchen setzte sich die Erkenntnis durch, dass das Wild sich mit den in seinem Lebensraum vorkommenden Parasiten auseinander setzen muss und hierbei auftretende Jungtierverluste als natürliche, über die Zeit nicht zu beeinflussende Abgänge zu betrachten sind. Diese untauglichen Behandlungsversuche beinhalteten einerseits viel nutzlos vergeudetes Geld, andererseits hinterließen sie jedoch keine negativen ökologischen Auswirkungen.

Die Tollwut konnte bis auf Einzelfälle getilgt werden

Ganz anders dagegen ist die zur Zeit diskutierte (kombinierte) Impfung des Wildkaninchens gegen die Myxomatose und die RHD (Chinaseuche) zu beurteilen. So notwendig bei der aktuell desaströsen Lage der Kaninchenpopulationen eine Schutzimpfung auch erscheinen mag, der Einsatz des existierenden rekombinanten (so genannten) Impfstoffes, der – einfach formuliert – ein labortechnisch hergestelltes Kombivirus darstellt, ist nicht zu verantworten. Niemand kann prognostizieren, wie sich ein solches rekombiniertes Virus in der Natur verhält, wie es sich entwickeln kann. Sich unbeeinflussbar entwickelnde Mutanten könnten unabsehbare Folgen für unsere Ökosysteme haben.

Als klassisches Beispiel für erfolgte negative ökosystemische Auswirkungen steht die Mitte der 80er Jahre begonnene Bekämpfung der sylvatischen Tollwut durch orale Schutzimpfungen des Fuchses. Die in den 70er Jahren besorgniserregend zunehmenden Tollwutfälle vornehmlich beim Fuchs stellten ein hohes Risiko für das Weidevieh und damit auch für seine Halter dar, da zu dieser Zeit verlässlich schützende, vorbeugende Schutzimpfungen noch nicht möglich waren. Die ersten Maßnahmen gegen die Tollwut durch Baubegasungen belegen die damals geringen wildbiologischen Kenntnisse über den Fuchs und mussten erfolglos bleiben. Die nachfolgenden Impfkampagnen, die die Veterinärbehörden mit Hilfe der Jäger flächendeckend durchführten, waren medizinisch wie seuchenhygienisch gesehen unzweifelhaft Erfolge. Die Tollwut konnte bis auf sehr seltene Einzelfälle getilgt werden.

Das Infektionsrisiko für den Menschen minimieren

Medizinisch-ökonomisch gesehen waren diese Schutzimpfungen notwendig und mussten nach geltendem Recht (§ 24 BJG) durchgeführt werden. Aus Sicht der Wildbiologie waren sie jedoch falsch, da durch die Eliminierung der Tollwut der Fuchspopulation das bedeutendste natürliche Regulativ genommen wurde, was uns die Füchse mit zuvor unbekannten Populationszuwächsen gedankt haben. Diese Zuwächse haben nachweislich erhebliche Auswirkungen in den Ökosystemen unserer Kulturlandschaften, die regional bis zur Existenzbedrohung wildlebender jagdbarer wie nicht jagdbarer Tiere gehen. Darüber hinaus korreliert die Ausbreitung des Kleinen Fuchsbandwurmes eindeutig mit der hohen Besatzdichte des Fuchses, durch die heranwachsende Jungtiere zu weiten Wanderungen auf der Suche nach freien Territorien gezwungen sind. Die überraschend schnelle und flächendeckende Ausbreitung dieses auch für den Menschen gefährlichen Bandwurmes ist hierin begründet.

Auch bei der Echinokokkose wurden sehr rasch Methoden entwickelt, mit probaten Medikamenten den Erreger im Fuchs abzutöten, um das Infektionsrisiko für den Menschen zu minimieren. Selbstverständlich wurden nach dem Ausbringen entsprechend präparierter Köder in lokal begrenzt verseuchten Gebieten – und nur hier macht es Sinn – signifikant geringere Befallsraten diagnostiziert. Es bleibt jedoch zweifelhaft, ob diese Befallsraten ohne Dauermedikation gehalten werden können.

Die Tragweite für die Jagd ist die Überlegung

Gerade die Krankheitsgeschehen um den Fuchs – Tollwut und Echinokokkose – zeigen die Brisanz des medikamentellen Einsatzes. Da es zwischenzeitlich preisgünstige Impfstoffe zum Schutz aller Haustiere – also auch der Nutztiere mit Weidegang – gibt, sollte bei einem erneuten Ausbruch der Tollwut sehr wohl überlegt werden, ob die Impfpflicht der Haustiere nicht die bessere Wahl anstelle einer erneuten Fuchsimmunisierung wäre.

In dieser Angelegenheit besteht dringender und grundlegender Diskussionsbedarf zwischen Veterinärmedizinern und Wildbiologen. Dies gilt in hohem Maße auch für die Überlegungen, die Sauenbestände durch die Verabreichung von Antikonzeptiva in den Griff zu bekommen. Unzweifelhaft stellt weniger die Herstellung der „Antifrischlingspille“ als vielmehr der für den Einsatz zu erarbeitende Managementplan eine hohe wissenschaftliche Herausforderung dar. Diese dürfte aber jeden Epidemiologen und Reproduktionsmediziner reizen, zumal vor dem Hintergrund der hohen volkswirtschaftlichen Schäden sicher Geldquellen bei der EU erschließbar wären.

Bei den Überlegungen zur Entwicklung und zur Anwendung dieser Hormonkombinationen kann man leicht auf die Erfahrungen beim Weißwedelhirsch in Amerika zurückgreifen. Auch die Erfahrungen bei der Herstellung und dem Einsatz von Ovulationshemmern in Vorversuchen beim Elefanten sind heranziehbar, und nicht zuletzt ist hier die Taubenpille zu nennen, die in Deutschland aufgrund tierärztlicher Anordnungen in so genannten Feldversuchen bei unerwünscht großen Stadttaubenpopulationen eingesetzt wird. In Frankreich arbeitet man intensiv an der Entwicklung eines Ovulationshemmers für Füchse, und in Amerika denkt man über eine hormonelle temporäre Reproduktionsunterbrechung bei Kanadagänsen nach, die sich regional durch das Verkoten von Golfplätzen den Ärger des Homo sapiens zugezogen haben!

In ihrer Tragweite für die Jagd sind die Überlegungen, Wildtiere in ihren natürlichen Lebensräumen durch Medikamente zu manipulieren, höchst bedeutsam. Lassen wir die nicht diskussionswürdigen, untauglichen Behandlungsversuche nicht Menschen gefährdender Parasitenerkrankungen beim Wild unberücksichtigt, finden wir zwei wesentliche Gründe für medikamentelle Eingriffe beim Wild. Der erste Grund ist der für jedermann nachvollziehbare Schutzgedanke, da von der Tollwut und vom Kleinen Fuchsbandwurm unzweifelhaft gesundheitliche Risiken für den Mensch ausgehen. Die Tollwut verursacht darüber hinaus ökonomische Schäden beim Hausvieh, die – wie wir leidvoll erfahren haben – in weit höherem Maße auch durch die Schweinepest hervorgerufen werden. Die Überlegung, durch wirksame Impfungen die Zahl der für eine Seuche empfänglichen Tiere zu reduzieren, um die Infektionskette zu unterbrechen, macht Sinn, wenn dies durch andere Methoden nicht zu erreichen ist. Wären mit jagdlichen Methoden die Populationen von Fuchs und Sau niedrig gehalten worden, hätten sich die oralen Immunisierungen gegen Tollwut und ESP erübrigt oder hätten sich auf wenige lokale Brennpunkte reduzieren lassen!

Wild muss nicht mehr als Nahrungsmittel genutzt werden

Während gesundheitliche und wirtschaftliche Begründungen diese Impfmaßnahmen trotz aller negativen wildbiologischen Folgen als ultima ratio zu rechtfertigen scheinen, verbirgt sich hinter dem gewollten Einsatz von Antikonzeptiva das Gedankengut des vermenschlichten Tierschutzes. Dieser fordert gleiches Recht für Mensch und Tier und erkennt eine Tötungsrechtfertigung für Tiere nicht an. Diesem Gedankengut – das im übrigen zur Begrenzung überzähliger Haustiere auch vom ethischen Tierschutz vertreten und zwischenzeitlich auch von einigen seiner Vertreter zur Regulierung des Wildbestandes laut diskutiert wird – folgend, erscheint die unabdingbare Einregulierung einiger Schalenwildarten durch hormonelle Reproduktionssteuerung nahe liegender als eine Entnahme von Individuen im Rahmen einer nachhaltigen jagdlichen Nutzung. Da die Jagd in Deutschland unbestreitbar nicht mehr mit der Existenz- beziehungsweise Nahrungssicherung zu begründen ist, muss Wild nicht mehr als Nahrungsmittel genutzt werden, wodurch sich jede Diskussion einer Rückstandsproblematik im Sinne des Verbraucherschutzes erübrigt. Zweifelsohne sind diese Anschauungen zurzeit nicht mehrheitsfähig, Jagd und Jäger sollten jedoch für anstehende Diskussionen gewappnet sein!

Der Einsatz von Medikamenten ist ein erheblicher Eingriff in die Wildbahn

Um Missverständnissen vorzubeugen: Die derzeitigen Diskussionen um die „Antifrischlingspille“ werden nicht aufgrund eines bestimmten Tierschutzverständnisses geführt. Sie sind (noch) ausschließlich Ausflüsse massiver wirtschaftlicher Schäden, obwohl Überlegungen zum Einsatz von Hormonen, die nach vielen Skandalen aus der Nutztierzucht verbannt wurden, bei Wildtieren geradezu grotesk anmuten müssen. Diesem Ansinnen begegnen Jäger mit dem Argument des Verbraucherschutzes. Dies ist zu kurz gedacht: Eine zwingend vorgegebene Untersuchung sämtlich erlegten Schwarzwildes (körperlicher Nachweis) auf den Hormongehalt im Tierkörper – natürlich auf Kosten der Jäger – würde schnell und eindeutig über die Genusstauglichkeit des Wildbrets entscheiden und somit den Verbraucherschutz hervorragend gewährleisten. Während im Sinne des Verbraucherschutzes Verabreichungen entsprechender Hormoncocktails sogar praktikabel erscheinen, bergen sie aus wildbiologischer Sicht ein nicht abschätzbares Gefahrenpotenzial. Da Dosis und Häufigkeit der Aufnahme der Köder definitiv nicht kontrollierbar sind, sind ökologisch und reproduktionsmedizinisch nicht absehbare Folgen zu erwarten, die unter anderem auch tierschutzrelevant sein werden. Es bedarf keiner prophetischen Gabe, um ein völlig unphysiologisches Reproduktionsverhalten vornehmlich im jahreszeitlichen Verlauf nach Verabreichung der Pille vorauszusagen, das eine tierschutzgerechte Bejagung unmöglich machen würde.

Zusammenfassend bleibt festzuhalten, dass der Einsatz von Medikamenten in der Wildbahn einen erheblichen Eingriff darstellt, der in seinen möglichen Auswirkungen grundsätzlich nicht mit dem Einsatz von Medikamenten bei Haustieren vergleichbar ist. Die Gefahrenpotenziale derartiger Vorgehensweisen sind vornehmlich in den nicht absehbaren biologischen und ökosystemischen Konsequenzen zu sehen. So berechtigt der Schutz menschlicher Gesundheit und der Schutz seiner Nutztiere als Wirtschaftsgut im Vordergrund stehen muss, so zwingend ist das umfassende Überdenken der langfristigen Auswirkungen, die derartige Prophylaxe- oder Therapiemaßnahmen bei Wild haben könnten. Eine einseitige veterinärmedizinische Betrachtungsweise ist wissenschaftlich nicht mehr zu vertreten. Grundsätzlich müssen in derartige Überlegungen wildbiologische Erkenntnisse als gleichgewichtig einbezogen werden. Eine gemeinsame Entscheidungsfindung beider wissenschaftlicher Disziplinen ist unabdingbar. Bei allen Entscheidungen muss vorab die Maxime gelten, dass Medikamente auch in Kulturlandschaften grundsätzlich nicht in die Wildbahn gehören, da entsprechende Jagdstrategien, gemeinsam in der Fläche umgesetzt, die meisten Probleme lösen könnten.

Der Grad der Bereitschaft der Jäger, an der Lösung auftretender Probleme mitzuwirken sowie die Effektivität der jagdlichen Methoden werden die Parameter sein, an denen nicht nur die Wissenschaft, sondern auch eine sensibilisierte Bevölkerung die Jäger messen werden. Denn letztlich liegt es vor allem in ihrer Hand, durch eine entsprechende Reduktion der Sauen und des Fuchses, dem Einsatz von Medikamenten und deren möglichen unabsehbaren negativen Folgen für die Wildbahn entgegenzuwirken.

Aus Sicht der Seuchenbekämpfung war die orale Tollwutimmunisierung erfolgreich – für den Bodenbrüterschutz kontraproduktiv

 

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