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Die Botschaft toter Knochen

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DAS GEWEIH: KULTOBJEKT UND INDIKATOR:
Kultobjekt, jagdliches Erinnerungsstück, Kleiderhaken, Knopfmaterial, Staubfänger – all dies sind oder können Geweihe sein. Doch neben dem persönlichen Erleben und der plastischen Verwendung erzählen sie uns auch interessante Geschichten oder sind selbst Geschichte. Sie verkörpern damit einen objektiven Wert, der sie vom Kultobjekt zum kulturellen Objekt werden lässt. Und von diesen objektiven Geschichten, die uns Geweihe erzählen können, soll hier die Rede sein.

 

Der Speisesaal im Moritzburger Schloss, mit ausgewählten Rothirschtrophäen

Von Burkhard Stöcker

Sie ist in Bezug auf die Stärke der Trophäen die bedeutendste in Deutschland: Die Moritzburg-Geweihsammlung. August der Starke, sächsischer Kurfürst, begründete sie im 16. Jahrhundert. Heute sind hier in mehreren Sälen sowohl kapitale als auch abnorme Trophäen zu sehen. An der Spitze der Moritzburger Sammlung steht die bislang weltweit kapitalste Rothirschtrophäe: Der gewaltige 24-Ender mit einer noch aktuellen Masse von 19,68 kg bringt es nach einer Vermessung durch den CIC aus dem Jahre 1991 auf 298,25 Punkte. Er liegt damit mehr als zwanzig Punkte über dem aktuellen Weltrekord aus Bulgarien. Auch die Nummer zwei aus Moritzburg liegt noch über dem aktuell Weltstärksten: Der ungerade 24-Ender bringt es immerhin noch auf stattliche 276,06 Punkte. Insgesamt ist die Anzahl der kapitalen Rothirschtrophäen in Moritzburg beeindruckend: Etliche Hirschgeweihe erreichen über 250 Punkte, und die zahlreichen Goldmedaillen-Trophäen bieten Stoff für eine eigene Geschichte.

Menschliche Hilfeleistung

Der berühmte 66-Ender macht allerdings wahrlich nur dem Namen nach viel her – weder hat er nach heutiger Definition 66 Enden (das Geweih ähnelt eher einer überdimensionalen Becherkrone mit Damwildschaufelrand), noch ist er besonders langstangig oder gar kapital. Wahrscheinlich hat man diesem Hirsch während der Bastzeit „mit Schrot einen in die Krone gebrannt“ – die so genannten Enden sind die schlichte Kallusbildung in direkter Folge dieses „Hegeschusses“.

Wirklich gewaltig sind jedoch die stärksten erhaltenen Rothirschgeweihe der Welt, auch hier: Holzauge sei wachsam! Spätestens seit den beeindruckenden Ergebnissen der Futterversuche aus dem Gatter Schneeberg, wissen wir, was direkte menschliche Hilfeleistung beim Wachstum von Cervidenknochen so zu leisten vermag.

“Mastbulle“ oder „Naturprodukt“

Der 66ig-Ender zeigt uns, dass gewisse Hegepraktiken auch in damaligen Fürstenhäusern nicht unbekannt waren. Und um die Gleichung „viel Futter gleich viel Geweih“ aufzustellen, bedarf es auch wahrlich keiner höheren neuzeitlichen mathematischen Begabung. Die Jagdregister der sächsischen Kurfürsten bestätigen übrigens die enorme Stärke des damaligen Wildes: Im Jahre 1609 wurde von Kurfürst Christian II. ein Hirsch von zehn Zentnern und vier Pfund erlegt (Ein Zentner gleich 51,4 Kilogramm!). Der Hirsch wog demnach über fünfhundert Kilogramm – starke Hirsche bringen es heute gerade mal auf die Hälfte an Lebendgewicht. Auch hier bleibt natürlich eine gewisse Unschärfe: „Mastbulle“ oder „Naturprodukt“.

Weitere umfangreiche öffentlich zugängliche Geweihsammlungen finden sich im deutschen Jagdmuseum in München, in dessen Außenstelle im Tambacher Schloss und im Schloss Kranichstein in Hessen. Einige der berühmten Rominter Hirsche sind im ostpreußischen Landesmuseum in Lüneburg zu sehen.

Nicht vergessen sollte man aber die zahlreichen privaten Abwurfstangen- und Geweihsammlungen. Viele regionale und lokale Erkenntnisse ließen sich daraus ableiten hinsichtlich Geweihformen, Enden-und Massenreichtum, Witterungs- und Umwelteinflüssen. Eine der beeindruckendsten Privatsammlungen finden wir im kleinen Örtchen Heidelberg in Brandenburg (siehe WuH 10/1996, Seite 32). Hier werden seit Jahrzehnten Abwurfstangenserien der regionalen Hirsche gesammelt. Zwei wesentliche, auch für den praktizierenden Rotwildjäger wichtige Erkenntnisse, lassen sich aus inzwischen fast drei Jahrzehnten ableiten: Den größten Massesprung machen Hirsche vom dritten zum vierten Kopf – es gibt von gut veranlagten Hirschen Abwurfstangen vom nachweislich vierten Kopf von über 3,5 Kilogramm.

Vom ersten bis zum dritten Kopf ist auch das Geweih als Anhaltspunkt bei der Altersansprache hilfreich. Ab dem vierten Kopf ist dies ein Vabanquespiel – gut veranlagte vierjährige Hirsche können Geweihe tragen wie schlecht veranlagte Zwölfjährige. Vom vierten bis zum 14. Kopf fällt das Geweih als Ansprechmerkmal fast vollständig aus.

Interessante historische Quellen

Dass Riesenhirsche einst bei uns ihre Fährte zogen, wissen wir eigentlich nur aus Geweih- und Skelettfunden. Die Trophäen bestätigen wahrlich aber den wissenschaftlichen Namen Megalocerus giganteus: Mit maximalen Stangenlängen von über zwei Metern und Auslagen von mehr als vier Metern stellen sie auch heutige Kapitalelche spielend in den Schatten. Die meisten Funde verdanken wir übrigens der konservierenden Wirkung irischer Moore.

Doch Geweihe bergen noch mehr Informationen als Masse, Auslage oder Stangenlänge: Stichworte wie Bio- oder Schadstoffmonitoring erfreuen sich in den Medien ja immer größerer Beliebtheit. Und auch hier kann dank Jagd und Trophäenleidenschaft vergangener Jahrhunderte der schon leicht angeblichene Wandknochen wesentliche Schützenhilfe leisten.

Für Stoffe, die sich in Knochen ablagern, können Geweihe oder auch Unterkiefer interessante historische Quellen sein. Im Rahmen des Forschungsvorhabens „Wildtiere als Bioindikatoren von Schadstoffbelastungen der Umwelt in Nordrhein-Westfalen“ wurden insgesamt 141 Rothirschgeweihe auf Fluorid- und Bleigehalte untersucht. Die Geweihe stellen Zeitreihen vom frühen 17. Jahrhundert bis zum Ende der 90er Jahre des vergangenen Jahrhunderts aus insgesamt vier Regionen Nordrhein-Westfalens dar. Die Schwerpunkte der Untersuchungen lagen im Raum Schmidtheim (Eifel) und im Arnsberger Wald. Das Proben-Material wurde aus winzigen Bohrlöchern im rückseitigen Bereich der Geweihe in Höhe der Augsprossen gewonnen.

Von 1950 bis 1979 ist der höchste Fluoridgehalt zu messen

Bei den Fluoridgehalten liegen die niedrigsten Werte bei den ältesten Geweihen – hier ist erst mit dem Beginn der Industrialisierung eine Erhöhung in den Probewerten sowohl in der Eifel als auch im Arnsberger-Raum festzustellen. In der Eifel parallel zur industriellen Entwicklung im belgischen und luxemburgisch-lothringischen Industrierevier, im Arnsberger-Raum parallel zur Industrialisierung des Ruhrgebiets.

Fluor wird bei einer Vielzahl von industriellen Prozessen freigesetzt, besonders bei der Kohleverbrennung. Im Arnsberger Wald stiegen die Fluoridgehalte in den Geweihen erst mit dem Beginn der Politik der hohen Schornsteine an, die die Schadstoffe über eine größere Entfernung aus dem Herkunftsgebiet wegtransportierten. Daher erreichen die Geweihe ihre höchsten Fluoridgehalte in den Jahren 1950 bis 1979, in der Zeit starken industriellen Wachstums nach dem Zweiten Weltkrieg.

Erst in den 80er und 90er-Jahren sinken die Fluoridgehalte wieder ab, ohne jedoch die extrem niedrigen Werte aus der Zeit vor der industriellen Revolution wieder zu erreichen. Im Schmidtheimer-Raum verlief die Entwicklung der Fluoridgehalte ähnlich, ohne jedoch die Konzentrationen des Arnsberger-Raumes zu erreichen. Hier zeigen sich dann doch entscheidende Unterschiede zwischen einem industriefernen Raum (Eifel) und dem ruhrgebietsnahen Arnsberger Wald.

In den 80er und 90er-Jahren ist in allen untersuchten Räumen eine Abnahme der Fluoridgehalte festzustellen – sicher eine direkte Folge der Festsetzung niedrigerer Grenzwerte (Großfeuerungsanlagenverordnung etc.).

Blei-Erzbergbau und Bleiverhüttung

Bei den Bleigehalten gestalten sich die zeitlichen Entwicklungen gänzlich anders: Hier fallen aus dem Eifelraum extrem hohe Werte schon in die Zeiträume des 17. und frühen 18. Jahrhunderts und aus dem Arnsberger-Raum ins 19. Jahrhundert. Die Gründe hierfür liegen in dem schon in damaliger Zeit betriebenen Blei-Erzbergbau und der Bleiverhüttung.

In der Neuzeit sind deutlich bessere Werte zu verzeichnen

Innerhalb des Aktionsraumes der damaligen Schmidtheimer Hirsche gibt es Quellen, die einen Blei-Erzbergbau schon für den Anfang des 16. Jahrhunderts belegen. Durch die Gewinnung als auch die Weiterverarbeitung des Bleis, entstanden in der Umgebung erhebliche Bleibelastungen – für die auch die Bleigehalte in den Geweihen aus der Zeit Zeugnis ablegen.

In der Neuzeit liegen die Bleigehalte der Hirsche sowohl aus dem Schmidtheimer- als auch aus dem Arnsberger-Raum deutlich unter den Werten der historischen Geweihe, mit einer Ausnahme: Ein Hirsch aus dem Schmidtheimer-Raum aus dem Jahre 1964 liegt mit 700 Milligramm Blei pro Kilogramm deutlich über dem Durchschnitt dieses Zeitraumes – er hatte seinen Einstand möglicherweise auf einem immer noch bleibelasteten Haldenstandort.

Eine noch einmal deutliche Abnahme der Bleigehalte in den Geweihen ist ab den 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts zu verzeichnen: Hier schlägt sich die schrittweise Verringerung der Bleigehalte im Benzin in den 70er und 80er Jahren als auch das Verbot von bleihaltigem Normalbenzin Ender der 80er Jahre nieder.

Mit 80 prozentiger Sicherheit

Auch bei der Altersansprache erlegter Hirsche spielt das Geweih eine Rolle: Dem Engagement der Proffessoren Karl Willi Lockow und Christoph Stubbe aus Eberswalde haben wir wesentliche Erkenntnisse zur vereinfachten Altersansprache und zur unkomplizierten Trophäenbewertung zu verdanken. An einer Sammlung von vierhundert Rothirschgeweihen wurden umfangreiche biometrische Messungen durchgeführt. Hierbei fielen hochinterressante Zusammenhänge auf: Mittels Rosenstockdurchmesser und mittlerer Höhe des ersten und zweiten Molars ließ sich das Alter der Rothirsche in 80 Prozent der Fälle auf plus/minus ein Jahr genau ansprechen. Die entsprechenden Werte lassen sich aus einem so genannten Nomogramm ablesen: Man nimmt die Rosenstockdurchmesser und die mittleren Höhen des ersten und zweiten Molars seines Hirsches und liest dann im Nomogramm das Alter des Geweihten ab – das dann mit 80 prozentiger Sicherheit stimmt!

Einfache Anhaltspunkte

Beim Damhirsch kamen leider nur 49 Schädel zur Vermessung: Mit den Werten aus Rosenstockhöhe und Höhe des M1 kommt man hier sogar auf eine Sicherheit von über 90 Prozent. Aufgrund des jedoch deutlich kleineren Probeumfanges sind diese Angaben statistisch weniger gesichert als die des Rotwildes.

Will man sich die aufwändige Gesamtvermessung eines Geweihs schenken, haben Lockow und Stubbe auch hier einfache Anhaltspunkte geschaffen: Aus den beiden Werten Rosenumfang und oberer Stangenumfang lässt sich wieder über ein entsprechendes Nomogramm die Internationale Punktzahl abschätzen. In der Hälfte der untersuchten Fälle beträgt die Abweichung nach dieser Schnelleinschätzung nur zwei Internationale Punkte vom aufwändig gewonnen kompletten Messwert.

Ungerader 24-Ender, 298,25 IP, weltstärkstes Rothischgeweih, Herkunft unbekannt

 

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