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7GÄNSEHAUT, daran erinnern sich viele, die zum ersten Mal einem Rothirsch in freier Wildbahn begegnet sind. Elegant, stolzen Hauptes, erhaben – so traben die großen Tiere durch Wald und Feldflur, und die meisten Menschen glauben dann vermutlich, das Wichtigste über den europäischen Rothirsch bereits zu wissen, nämlich, dass er einen letzten Rest Wildnis symbolisiert. Aber weit gefehlt: es dürfte im Gegenteil nur wenige Tiere geben, deren Schicksal so stark vom Menschen abhängt, wie das des Rothirschen. Ein Tier der Irrtümer ist er neben seiner Eleganz eben auch. Als »König der Wälder« wird er stets und immer noch gern besungen – aber genau das ist er nicht. Er stammt aus der Steppe und zieht sich nur vor dem Menschen in den Wald zurück. Als nachtaktives Wild verbringt er den Tag in der Dickung – vor menschlichen Augen verborgen. Aber dieses Verhalten ist ihm gar nicht angeboren, er macht aus Furcht vor Störung und Jagd die Nacht zum Tage. Einem König stünde es frei, zu gehen, wohin er möchte – aber dem einstigen Weltenbummler Rothirsch hat man das Wandern vielerorts in Deutschland bei Todesstrafe verboten und ihn in Reservaten untergebracht. Als König galt der Hirsch auch deshalb, weil er keinen natürlichen Feind zu fürchten brauchte außer den Menschen. Aber auch das ändert sich mit der Rückkehr von Wolf und Luchs gerade grundlegend. Und nach der Wiederkehr des 800 Kilogramm schweren Wisents ins Rothaargebirge und mit dem Auftauchen erster einsamer Elche in Ostdeutschland ist der Rothirsch auch nicht mehr das größte Landsäugetier deutscher Wälder. Selbst die Kegelrobbe an Deutschlands Küste wird mit ihren bis zu 300 Kilogramm viel schwerer als der kapitalste Rothirsch. Es gibt also viele Gründe, um die Rolle des Rothirsches in der Natur ganz neu zu beleuchten. Sie ist nicht weniger faszinierend als vorher, aber es ist an der Zeit, den großen Graser nicht nur als Jagdbeute des Menschen, sondern als Teil eines großen Ganzen zu betrachten. Der Rothirsch ist von Natur aus weder ein Waldschädling noch ein Bauernschreck, er dient nicht nur dem Ernten von Spitzengeweihen, sondern bietet auch bestes, natürliches Wildbret. Er ist zwar kein König, aber edel und faszinierend genug, um auch nach vielen Jahrtausenden in Mythologie und Glaubenswelten bis heute einen Platz im Herzen der Menschen zu finden. Dieses Buch ist deshalb auch ein Plädoyer für Freiheit und Wildnis – und zwar ganz im Sinne einer Natur, die wir so natürlich gestalten sollten wie in einer Kulturlandschaft möglich. Mit wandernden Hirschen und einem Verständnis von biologischen Zusammenhängen, das weit über das traditionelle Bild des röhrenden Königs der Wälder hinausgeht. Auf ein paar Worte – Einleitung Rothirsch_2.6Korrektur.indd 7 17.08.16 11:13 | |
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