Die Flugbahn eines Geschosses lässt sich auf weite Entfernung leicht ermitteln. Was aber ist mit Funktion und Wirkung? Claudia Elbing, Michael Schmid und Andreas Bach haben das Aufpilz- und Zerlegungsverhalten von Jagdprojektilen auf unterschiedliche Distanzen überprüft.
Im Schuss eine kurze Flucht, danach wechselte das Schmaltier im Troll in ein Latschenfeld. Merkwürdig, die Entfernung war exakt gemessen und mit 210 Metern
fürs Hochgebirge nicht ungewöhnlich weit. Die Auflage sehr gut, der Puls ruhig und die
Schussleistung der Büchse zuvor noch gründlich überprüft. Am Anschuss keine Pirschzeichen, dennoch legte der Berufsjäger in Anbetracht des schwierigen Abstiegs seine Tiroler Bracke bereits nach einer Stunde zur Fährte. Der Hund führte sicher, aber ohne Schweißkontrolle nach 400 Metern zum im Wundbett sitzenden Stück. Ein Schuss auf den Träger beendete die Nachsuche. Was war passiert? Die Kugel des Jagdgastes hatte das Stück tiefblatt gefasst und den Wildkörper schräg durchschlagen. Die Verletzungen im Bereich des Wundkanals waren minimal, der Ausschuss gerade mal kalibergroß. Ganz offensichtlich hatte sich das Verbundkernprojektil nicht oder nur geringfügig deformiert – ein glatter Lungen-Durchschuss mit ungenügender Tötungswirkung. Auf weite Entfernung
kommt es immer wieder vor, dass Geschosse nicht das tun, was der Hersteller verspricht.
Moderne Projektile setzen auf kontrollierte Funktion. Dabei ist neben der geschwindigkeitsabhängigen temporären Wundhöhle (kurzzeitige Verdrängung von flüssigkeitsgefülltem Gewebe V > 500 m/ sec.) die mechanische Erweiterung des Schusskanals entscheidend. Unabhängig vom verwendeten Geschossmaterial (Beispiel:
Blei, Tombak, Kupfer) kann dies in Form von Deformation oder Teilzerlegung erfolgen. Die dadurch initiierte Querschnittsvergrößerung zerstört Muskelgewebe, Organe und Gefäße. Sie sorgt zudem für genügend großen Ausschuss und somit für Schweiß und Pirschzeichen. Je nach Konstruktion des Projektils werden Verformung oder Splitterab gabe mittels Hohl- oder offener Spitze, dünnem Bug-Geschossmantel, Kunststoffstarter oder einer Blechhaube
eingeleitet. Pressrillen, Kernabschottung, Bonding, zunehmende Mantelstärke oder massives Heckmaterial beenden den Vorgang. Eine sichere Funktion der konstruktiven
Merkmale ist nur bei angepasster Zielenergie garantiert. Das heißt im Klartext:
Die Projektile sprechen nur in einem bestimmten Geschwindigkeitsrahmen an. Ist das Geschoss zu langsam, erfolgt keine oder nur eine geringe Verformung/Zerlegung.
Es tritt, wie oben beschrieben, ein „Vollmanteleffekt“ ein. Bei zu hoher Geschwindigkeit
ist unkontrolliertes Zerplatzen und somit mangelnde Tiefenwirkung die Folge. Abgesehen von einigen extrem schnellen Magnumlaborierungen und instabilen Geschosskonstruktionen besteht im jagdlichen Einsatz meist die Gefahr des Unterschreitens der Mindestgeschwindigkeit. Gründe können zu weite Schussdistanz, kurze Läufe oder schlappe Laborierungen sein. Es genügt also nicht, sich bei der Munitionsauswahl nur mit Präzision
und Wirkungsprinzip zu befassen. Auch der funktionale Geschwindigkeitsbereich ist, vor allem bei Schüssen auf weite Entfernung, wichtig. Nur die wenigsten Munitionshersteller
machen dazu Angaben. Es wird davon ausgegangen, dass die Projektile innerhalb
jagdlich üblicher Distanzen grundsätzlich wirken und zuverlässig ansprechen. Um die Probe aufs Exempel zu machen, haben wir fünf Laborierungen (Deformations- und Teilzerlegungsgeschosse, bleihaltige Teilmantel- und bleifreie Vollgeschosse) im Kaliber
.308 Win. einem Schießversuch unterzogen. Mit von der Partie waren Brenneke „TOG“ 10,7 g, Hornady „Superformance GMX“ 10,69 g, Jaguar „Classic“ 9,2 g, RWS „H-Mantel“ 11,7 g und Sako „Super Hammerhead“ 9,7 g. Die Beschussversuche fanden auf Entfernungen von 100, 200 und 300 Metern statt. Damit sind alle jagdlich relevanten Distanzen im In- und Ausland abgedeckt. Als Wildkörpersimulation dienten tropfnasse Telefonbücher. Schicht für
Schicht abgetragen, gewähren sie Einblick in Ausprägung und Tiefe des „Wundkanals“.
Anhand der aufgefangenen Projektile lassen sich Deformation, Splitterabgabe und Restgewicht ermitteln. Um maximale Schusspräzision zu garantieren, kamen als Testwaffen eine Tikka „T 3 Tactical“ mit Schmidt&Bender „PM II 3-12×50“ und eine Remington „700 Police LTR“ mit Leupold „VX-R 3-9×50“ zum Einsatz. Die Absehenschnellverstellung
der beiden Zieloptiken erlaubt die auf weite Entfernung nötige Flugbahnkorrektur. Beide Büchsen sind mit 51 Zentimeter langen, kräftig dimensionierten Matchläufen ausgestattet. Vor Testbeginn wurde die Mündungsgeschwindigkeit (V) jeder Munitions-/Waffenkombination ermittelt (Messgeräte: BMC 17, RCBS AmmoMaster).
Mithilfe des Ballistik-Programms „Easy bullet“ erfolgte eine Berechnung der Geschossgeschwindigkeit auf 100, 200 und 300 m. Somit war die VZiel für jeden einzelnen
Beschussversuch bekannt.
Brenneke „TOG“ .308 Win. 10,7 g
Typ: Deformationsgeschoss
Aufbau: Tombakmantel und Bleikern des torpedoförmigen Geschosses sind gebondet.
Die offene Hohlspitze startet den Deformationsprozess. Ein Innenring und die deutlich zunehmende Mantelwandstärke stoppen die Verformung. Das Geschoss verfügt über einen abgesetzten Scharfrand.
Funktion laut Hersteller: Aufpilzen bis zur Mantelverdickung, Restgewicht 90 Prozent
Testergebnis: Mit zunehmender Entfernung reduzierte sich das Aufpilzverhalten merklich. Die Verformung sank zwischen 200 und 300 m vom 1,9-fachen Kaliber auf den 1,4-fachen Wert. Mit Wirkungseinbußen ist in diesem Bereich zu rechnen. Weitgehend stabil blieben die Restgewichte (91 – 95 Prozent).
Hornady „Superformance GMX“ .308 Win. 10,69 g
Typ: Deformationsgeschoss
Aufbau: Bleifreies Gilding-Vollgeschoss.
Die stromlinienförmige Polymerspitze leitet in Verbindung mit einer kegelförmigen Bohrung den Verformungsprozess ein. Das Bohrungsende stoppt die Deformation. Zwei Pressrillen zur Gasdruckreduktion.
Funktion laut Hersteller: Aufpilzen des ersten Geschossdrittels, Restgewicht 95 Prozent, sichere Geschossfunktion im Bereich von 610 m/sec. bis 1 037 m/sec.
Testergebnis: Nur minimale Deformations-Unterschiede waren festzustellen. Im Bereich zwischen 200 und 300 m reduzierte sich der Durchmesser lediglich vom 1,8-fachen auf das 1,7-fache Kaliber. Mit 99 Prozent blieben die Restgewichte identisch. Eine gleichbleibende Geschossfunktion ist im gesamten Geschwindigkeitsbereich garantiert.
Jaguar „Classic“ .308 Win. 9,2 g
Typ: Teilzerlegungsgeschoss
Aufbau: Das aus einer Kupferlegierung gefertigte Vollgeschoss verfügt über eine Expansionsbohrung. Diese initiiert die Splitterbildung, das Bohrungsende stoppt die Zerlegung. Drei schmale Führungsringe reduzieren Gasschlupf und Laufbelastung.
Funktion laut Hersteller: großformige Splitter- und Fahnenabrisse bis zum ersten
Führungsring, Restgewicht bis 85 Prozent.
Testergebnis: Unabhängig von der Schussentfernung absolut gleichmäßige Funktion. Unterschiede bezüglich der Splitterbildung waren nicht festzustellen. Im gesamten Test-Geschwindigkeitsbereich ist eine identische Wildwirkung zu erwarten. Restgewichte zwischen 61- und 66 Prozent liegen unter den Herstellerangaben.
RWS „H-Mantel“ .308 Win. 11,7 g
Typ: Teilzerlegungsgeschoss
Aufbau: Mantelprojektil mit zwei Bleikernen.
Der vordere Kern steht in Verbindung mit einer Kupferhohlspitze für Splitterbildung, das stabile Heck für sicheren Ausschuss. Kontrollierte Teilzerlegung durch zunehmende Mantelstärke mit H-Einschnürung. Funktion laut Hersteller: Splitterbildung bis zum „H“, keine Angaben zum Restgewicht
Testergebnis: Mit zunehmender Schussentfernung veränderte sich das Zielverhalten.
Definierte Teilzerlegung war nur beim Schuss auf 100 m festzustellen. Danach reduzierte sich die Splitterbildung vor allem im Mantelbereich, die Restgewichte stiegen von 62 auf 74 Prozent. Ein tendenzieller Wechsel in der Geschosswirkung vom Teilzerleger hin zum unkontrolliert aufpilzenden Deformationsgeschoss ist die Folge.
Sako „Super Hammerhead“ .308 Win. 9,7 g
Typ: Deformationsgeschoss
Aufbau: Verbundgeschoss mit Bleikern. Die Mantelstärke ist im vorderen Drittel reduziert. In Verbindung mit der offenen Spitze wird so der Aufpilzprozess eingeleitet. Zunehmende Manteldicke sowie eine Pressrille stoppen die Verformung.
Funktion laut Hersteller: Aufpilzen bis zur Krimprille, Restgewicht 98 %.
Testergebnis: Die Deformation reduzierte sich mit zunehmender Schussentfernung
deutlich. Die Verformung sank vom 2,2fachen auf das 1,7fache Kaliber. Die Restgewichte stiegen von anfänglich 88 auf 96 %. Reduzierte Wildwirkung ist bei Schüssen jenseits der 200 Meter-Marke zu erwarten.
Fazit: Kontrolliert und entsprechend den Herstellerangaben reagierten alle Geschosse auf die Testdistanz von 100 Metern. Darüber hinaus wurden jedoch signifikante Unterschiede festgestellt. Im Entfernungsbereich zwischen 200 und 300 m verzeichneten die Verbundkernprojektile („TOG“, „SHH“) spürbare Deformationseinbußen
Das Teilzerlegungs-Mantelgeschoss (H-Mantel) reduzierte bereits auf 200 Meter die Splitterabgabe deutlich. Lediglich die beiden „bleifreien“ („Jaguar“,„GMX“) überzeugten durch annähernd identisches Ansprechverhalten. Ein grundsätzlicher Vorteil bleifreier Vollgeschosse kann aufgrund geringer Stichprobe und differenzierter Konstruktion jedoch
nicht abgeleitet werden. Die Testergebnisse lassen folgende jagdpraktischen Schlüsse zu:
Bei hochwertiger Jagdmunition (kontroliert reagierende Teilzerlegungs- und Deformationsprojektile) ist im Entfernungsbereich bis circa 150 Meter eine sichere Geschossfunktion zu erwarten. Sind Weitschüsse geplant (> 150 m), ist bei fehlenden Herstellerangaben die Geschossfunktion zu prüfen (Telefonbuchbeschuss auf persönliche Maximalentfernung). Besonders „verdächtig“ sind kurzläufige Büchsen, hart aufgebaute Projektile, einfache Teilmantelgeschosse und „langsame“ Kaliber. Bei Deformationsgeschossen steigen aufgrund des reduzierten Querschnitts Eindringtiefe und Hinterlandgefährdung mit zunehmender Schussentfernung. Teilzerlegungsgeschosse können auf weite Distanz wie Deformationsprojektile reagieren. Das Restgewicht steigt, die
Splitterneigung sinkt. Was dem Verbraucher Fett- oder Zuckergehaltangaben auf dem Joghurtbecher sind, ist dem Jäger die klare Deklaration auf der Munitionsschachtel. Hier haben viele Hersteller Nachholbedarf. Um allen jagdlichen Ansprüchen gerecht zu werden,
sind abgesehen von Kaliber, Laborierung und Geschossgewicht folgende Angaben auf der Packung unverzichtbar:
• Länge des Messlaufes, Geschossenergie (Joule) und Geschwindigkeit (m/sec.) auf 0, 100, 200 und 300 m Entfernung
• Günstigste Einschießentfernung in Meter (GEE: 4 cm Hochschuss auf 100 m)
• Geschossabfall auf 0, 100, 200 und 300 m (eingeschossen auf GEE)
• Funktionaler Geschwindigkeitsbereich des Geschosses
• Ballistischer Koeffizient
• Für den europäischen Markt sind alle Angaben im metrischen System Pflicht