Das Lapua Naturalis-Geschoss:
In der unendlichen Geschichte der Entwicklung neuer Geschosstypen gibt es ein neues Kapitel: Lapua bietet Munition mit dem „Naturalis“ an, einem Büchsengeschoss ohne Bleikern. Arndt Bünting setzte es im In- und Ausland über ein Jahr lang ein.
Von Arndt Bünting
Vorsichtig zieht ein Kudu halbverdeckt zwischen Kameldornbäumen und Dornbüschen auf ein Wasserloch zu. Als der Bulle auf etwa 150 Meter verhofft, halte ich hochblatt an und schieße. Im Schuss bricht die Antilope zusammen und fällt auf die Einschussseite. Ich laufe hin, gebe zur Sicherheit noch einen Fangschuss und freue mich, dass das Stück am Anschuss liegt. Schließlich ist die .308 Winchester nicht unbedingt die erste Wahl, wenn Jagdgäste in Afrika Wild in der 350-Kilo-Klasse erlegen wollen. Aber wie heißt es so schön: „Treffen ist immer noch das beste Kaliber.“
Wenn man allerdings mit einem für die Größe des Wildes relativ schwachen Kaliber loszieht, dann kommt dem Geschoss besondere Bedeutung zu. Egal, ob man mit der 6,5×57 auf ein Hauptschwein schießen will, mit der .375 H & H auf einen Büffel oder eben mit der .308 auf einen Kudu – hier muss das Geschoss auf Tiefenwirkung ausgelegt sein, um im Fall der Fälle starke Muskelpartien, zähe Decken oder schwere Knochen durchschlagen zu können. Nur dann erreicht das Geschoss sicher Herz oder Lunge und kann so seine tödliche Wirkung entfalten.
Kontrolliertes Aufpilzen
Um eine entsprechende Eindringtiefe erreichen zu können, bedarf es zweierlei: Erstens muss das Geschoss vom Aufbau her so konstruiert sein, dass es beim Durchdringen eines Wildkörpers ein möglichst hohes Geschossrestgewicht behält. Zweitens muss es eine entsprechend hohe Querschnittsbelastung (das Verhältnis zwischen Geschoss-Querschnittsfläche und Geschossmasse) aufweisen. Das heißt in der Praxis: Ein 9,7-Gramm-Geschoss im Kaliber .30 hätte eine geringere Tiefenwirkung als ein kalibergleiches 11,7- Gramm-Geschoss, wenn alle anderen Faktoren (Geschossaufbau, Auftreffgeschwindigkeit, Zielwiderstand etc.) gleich sind.
Das in diesem Fall verwendete Geschoss war das neue 11,7-Gramm-„Naturalis“ in der Lapua-Fabriklaborierung. Es besteht zu 99 Prozent aus Kupfer, das speziell behandelt beziehungsweise gehärtet wurde. Im vorderen Drittel des runden Geschosskopfes befindet sich eine Art Hohlspitze, die durch einen Kunststoff-Einsatz verdeckt ist. Lapua nennt das ein „druckregulierendes Kunststoff-Ventil“. Trifft das Geschoss auf, wird der Kunststoff-Einsatz in den luftgefüllten Hohlraum gedrückt und das kontrollierte Aufpilzen der Geschossspitze eingeleitet. Laut Hersteller arbeitet es „innerhalb einer Bandbreite zwischen 600 m/s und 950 m/s Auftreffgeschwindigkeit perfekt, und es behält dabei ein Restgewicht von nahezu 100 Prozent“.
Weitgehend unabhängig vom Zielwiderstand vergrößert sich der Geschosskopf auf etwa den zweifachen Kaliberdurchmesser. Im Gegensatz zu anderen „Bleifreien“, zum Beispiel dem „Barnes-X“, bei dem eine kleine Hohlspitze in Verbindung mit Sollbruchstellen am Geschosskopf das Geschoss in vier Fahnen aufpilzen lässt, können beim Naturalis-„Pilz“ durch die fehlenden Sollbruchstellen keine Fahnen abreißen. Beim Barnes-X kommt das je nach Zielgeschwindigkeit – vz über etwa 920 m/s – vor. Dann schlägt dieses Geschoss manchmal ohne aufzupilzen durch den Wildkörper.
Ergebnisse bestätigten sich in der Prxis
Bei Beschuss-Versuchen mit Gelatine auf 50 Meter, in die Rinderknochen eingegossen waren, pilzte das „Naturalis“ im Kaliber .30-06 direkt nach dem Auftreffen auf etwa den zweifachen Kaliberdurchmesser auf, durchschlug den schweren Knochen und wurde geringfügig abgelenkt. Beim Gelatine-Beschuss ohne Knochen kam es auf den gleichen Durchmesser. Auch auf Fangschussdistanzen (etwa zehn Meter) sowie beim direkten Beschuss nasser Telefonbücher bot sich das gleiche Bild, übrigens auch mit der wesentlich höheren Auftreffgeschwindigkeit aus der .300 Win. Mag. (Aufnahmen einer Hochgeschwindigkeits-Kamera, wie ein „Naturalis“-Geschoss in einen Gelatineblock eindringt, können Sie auf unserer Website unter wildundhund.de sehen.)
Die Ergebnisse der Gelatinebeschüsse bestätigten sich in der Praxis, wie das Beispiel des brettelbreit beschossenen Kudus zeigte: Das geborgene Geschoss wurde im Wildkörper etwas abgelenkt und fand sich aufgepilzt mit etwa zweifachem Kaliberdurchmesser und leicht verbogen unter der Decke am Trägeransatz des Kudus wieder, nachdem es das Schulterblatt auf der Einschussseite durchschlagen hatte. Der aufgepilzte Geschossteil riss an zwei Stellen zwar ein wenig ein, aber das Restgewicht betrug tatsächlich 11,7 Gramm – also wie versprochen 100 Prozent. Da die Schussentfernung etwa 150 Meter betrug und das Projektil aus einem kurzen (50 Zentimeter) Lauf abgefeuert wurde, dürfte die Auftreffgeschwindigkeit etwa um die 610 m/s betragen haben.
Aufgrund des „harten“ Geschossaufbaus eignet sich das „Naturalis“ aber auch sehr gut zum Verschießen aus Magnumpatronen mit hoher Auftreffgeschwindigkeit, bei denen die Verwendung von einfachen Teilmantelgeschossen häufig zu Problemen in Form von geringer Tiefenwirkung, großer Hämatombildung und Wildbretentwertung führt.
Als ausgezeichnet erwies sich das Penetrationsvermögen des „Naturalis“ aus der .308: Das zeigte der Schuss auf eine etwa 650 Kilogramm schwere Kap-Elenantilope, die, auf etwa 60 Meter hochblatt beschossen, nach einer Todesflucht 40 Meter vom Anschuss entfernt lag – mit einem Ausschuss hinter dem Blatt.
Ein auf 70 Meter erlegter Warzenschwein-Keiler (etwa 40 Kilogramm), bei dem beide Blätter (hoch) durchschossen waren, benötigte aber leider noch einen Fangschuss.
Letzteres zeigt den Nachteil von Geschossen, die „massiv“ aufgebaut oder vor allem auf Penetrationsvermögen ausgelegt sind: Da sie nicht splittern und bei leichterem Wild viel Energie durch den Ausschuss wieder mit herausnehmen, muss man in diesen Fällen entsprechende Fluchtstrecken beziehungsweise schlechtere Augenblickswirkung einkalkulieren – dafür hat man aber etwas mehr „Reserven“.
„Ist das bleifreie
Fehlende Splitter haben aber auch Vorteile: Stellende Hunde sind nicht so gefährdet, und die Wildbretentwertung ist in der Regel geringer als bei „herkömmlichen“ Teilmantelgeschossen, wenn diese je nach Konstruktion zur Splitterbildung neigen. Gleiches gilt übrigens auch für Verbundkern-Geschosse, deren Mantel mit dem Bleikern durch spezielle Verfahren „verschweißt“ werden, und die deswegen kaum splittern und in der Regel sehr hohe Restgewichte von über 90 Prozent erreichen (zum Beispiel Swift, Trophy Bonded, TOG etc.).
In der Praxis bewährte sich das „Naturalis“ auch auf Rehwild sowie schwächere Sauen. Allerdings lagen nicht alle Stücke bei guten Schüssen (Distanz bis maximal 100 Meter) am Anschuss. Fluchtdistanzen zwischen 20 und 60 Metern kamen vor. Hämatome waren bei Rehwild maximal Handteller groß, die Wildbretentwertung gering. Erlegte Füchse hatten – wenn das Geschoss nicht das Blatt oder die Wirbelsäule gefasst hatte – etwa Fünf-Mark-Stück große Ausschüsse.
Im Kaliber .308 erwies sich das Geschoss zudem als sehr präzise, und Fünf-Schuss-Streukreise auf 100 Meter zwischen 25 und 30 Millimetern konnten regelmäßig erzielt werden. Ein weiterer Vorteil: Im Gegensatz zu vielen Geschossen mit „weicheren“ Tombak-Legierungen zeigten sich im Lauf kaum Abblagerungen. Das spart Reinigungszeit und -kosten.
Letztlich lässt sich die Frage „ob das bleifreie ,Naturalis‘ eine Alternative ist?“ so beantworten: Sicher hat das neue Lapua-Geschoss ein besseres Penetrationsvermögen als viele herkömmliche Teilmantelgeschosse und eignet sich damit besonders gut für stärkeres Wild oder für den Einsatz in Magnumpatronen. Allerdings hat es nach den bis jetzt gemachten Erfahrungen unter gleichen Bedingungen keine bessere Augenblickswirkung als herkömmliche Teilmantelgeschosse. Aber wer auf Tiefenwirkung und nahezu 100 Prozent Restgewicht wert legt und ein neues Geschoss ausprobieren will, der liegt mit dem „Naturalis“ sicher richtig.
So folgte der Gelantinebeschuss: Hinter dem Gelantine-Block wurde das Geschoss durch Telefonbücher aufgefangen |