Der Beste wird Jagdkönig:
Drückjagd in der Lüneburger Heide. Jagdterrier „Oskar“ muss Kopf und Kragen riskieren, um den Bassen aus der Dickung zu komplimentieren. Er schafft es mit Mut, Können und Routine. Der Keiler kommt den beiden Jägern von der Regierung aus der Landeshauptstadt breit auf günstige Entfernung.
Von Seeben Arjes
Der „Oskar“ stammt aus Ostfriesland, dem Land, in dem man bedächtig handelt, ruhig bleibt und gelassen reagiert. „Oskar“ stammt zwar von dort, verhält sich aber nicht so. Er regt sich furchtbar auf, kreischt, zetert und sucht dauernd Streit. Als Jagdterrier steht ihm das zu, sagen die Jäger, die „Oskar“ kennen. Und Ulli, sein Chef, meint, diese sonst so unangenehmen Eigenschaften seien gerade das, was den kleinen schwarzen Teufel bei der Jagd auf Sauen so wertvoll mache.
Die Schwarzkieferndickung ist umstellt. Leise brauchten wir dabei nicht zu sein. Wenn Sauen drin sind, müssen sie uns längst vernommen haben. Nicht uns Jäger selbst, wohl aber das markerschütternde Geschrei, das schon im Anfahren aus dem grünen Allradwagen drang. Ältere Bachen müssten dieses schrille Gekreische eigentlich schon lange kennen. Immer danach gibt’s Zoff, Ärger mit dem Giftzwerg „Oskar“, Dampf aus blanken Rohren und Verluste in den eigenen Reihen.
Niemand zu Hause?
Andreas bläst das Treiben an. Das heißt: Hunde schnallen. Und schon stürmen sie los: „Artus“, ein Tiroler Vieräugel mit tiefem Hals, „Bea“ und „Quinta“, zwei schnelle, kleine Bracken. Verhaltener und sichtlich verstimmt „Sir“, der distanziert-selbstwürdige Quotendackel, der zu seinem Leidwesen immer wieder in der Nähe dieses ungehobelten Schweinevolkes ausgesetzt wird. Für ihn sind solche Tage geografische Durchschlageübungen. Mit Sauen hat er nichts im Sinn, er muss aber immer mit, er gehört nun mal dazu.
Und Jochens „Batzel“, der schweinekundige Wachtelschecke. Der kennt sich aus. Allerdings muss er am anderen Ende der Dickung geschnallt werden, damit er und „Oskar“ sich möglichst nicht begegnen. Beide sind sich seit Jahren in unverbrüchlicher Feindschaft verbunden und „Oskar“ setzt bei jeder Gelegenheit alles daran, diesen verhassten Erzfeind umzubringen. Noch ist es still in der Dickung. Sollten die Sauen nicht zu Hause sein? Haben sie sich gar beim Nachbarn eingeschoben, der so üppig und listig füttert? Ein Eichelhäher rätscht, andere fallen ein und schimpfen mit. Meinen sie die Hunde? Oder sind doch Sauen da?
Da knackt ein Ast. Jetzt wird’s spannend! Und schon geht’s los, rechts neben der Schneise. Das ist der Laut von „Artus“, tief, dunkel, seinem Wesen entsprechend gemessen, zwar mit Druck, aber keineswegs hysterisch. Man hört ihm nicht an, was er jagt. Es könnte auch ein Reh sein. Er müsste es gleich über die Schneise bringen.
Die Schwarzkittel haben gute Nerven
Aber, da kommt nichts. „Artus“ gibt immer an einer Stelle Laut. Das ist bestimmt kein Reh, das können nur Sauen sein. „Wouu–wouu–wouu“, klingt es immer nur monoton, mehr tut sich zunächst nicht. Ich kann mir gut vorstellen, was da vor sich geht. Die Rotte rückt im Familienkessel eng zusammen, bildet eine feste Burg und erträgt gelassen die Belästigung.
„Artus“ schätzt seine Gesundheit und bleibt deshalb auf Distanz. Es entsteht ein Patt.
Einer sollte hingehen und ihm helfen. So wird das nichts. Aber wer wird schon in eine von scharfen Waffen und motivierten Jägern umstellte Dickung kriechen? Das wäre viel zu gefährlich. Da bekommt „Artus“ Hilfe. Das muss „Bea“ sein, vielleicht „Quinta“, vielleicht auch beide. Diese beiden Geschwister sind äußerlich kaum und am Laut gar nicht zu unterscheiden. Die Stimmen sind jetzt hell, giftig, aufgeregt. Das sollte hoffentlich die Sauen so nerven, dass sie endlich ihren Kessel verlassen. Aber die Wutze denken gar nicht daran. Sie bleiben trotzig und halten durch, denn – egal ob „Bea“ oder „Quinta“ – die beiden feinzelligen Damen haben ebenfalls ein ökonomisches Verhältnis zum Risiko, sie sind nicht dumm.
Die Schwarzkittel haben gute Nerven. Die Hunde bellen, schimpfen – ohne Erfolg. Wo ist denn „Batzel“? Und vor allem, wo ist „Oskar“? Die Dickung ist riesig, sie werden woanders suchen. Und das ist gut so, man kann nur hoffen, dass sie sich nicht begegnen. Im unmittelbaren Feindeinsatz sind sie sich ja noch einig, sobald aber Zeit übrig ist, sieht „Oskar“ in diesem „Batzel“ seine Lebensaufgabe.
Keiner schießt so schnell wie Rudi
„Bea“, „Quinta“ und „Artus“ geben sich alle erdenkliche Mühe, aber ihr akustischer Einsatz allein reicht einfach nicht aus, das Selbstbewusstsein dieser Rotte zu knacken. Das Ganze spielt sich nur etwa achtzig Gänge vor mir ab. Vielleicht sollte ich doch mal hingehen und den Hunden helfen? Vielleicht ist es ja gar keine Rotte, sondern ein einzelner Keiler. Den könnte ich ganz einfach gegen den Wind angehen und vor Standlaut im Kessel erlegen. Wie bei Nachsuchen. Aber nein, nein! So sehr diese Vorstellung auch lockt, so etwas macht man nicht, das ist zu gefährlich. Andere der angestellten Jäger könnten zu gleicher Zeit solche Gedanken haben. In der dichten Dickung würden wir uns nicht sehen, vielleicht gleichzeitig schießen…
Aber irgend etwas muss jetzt geschehen. Die Sauen bewegen sich keinen Meter, die Hunde werden langsam müde, sie verausgaben sich. Aber jetzt passiert etwas! Plötzlich überschlagen sich die Hundestimmen. Artus brüllt, Bea jault, Quinta kreischt. Und dazwischen ein unverkennbarer Schrei, laut, hell, mutig und entschlossen. Den kenne ich. Oskar hat das Problem gelöst. Er kennt keine verbale Diskussion mit Sauen. Jedenfalls mit geringeren nicht. Die Rotte spritzt auseinander, gefolgt von den Hunden, ihr Laut entfernt sich im Dickicht der Schwarzkiefern. Am jenseitigen Rand fallen zwei Schüsse von einem Stand. Ganz schnell hintereinander. Das kann nur Rudi gewesen sein. Keiner schießt so schnell wie Rudi. Dann noch ein Schuss drüben aus dem Altholz. Die Schüsse wirken wie eine Erlösung. Die Sauen sind raus, das war’s.
Strategischer Versand und wenig Respekt
Ich repetiere eine Patrone aus dem Lauf und sehe, wie etwa hundert Meter neben mir auch Manfred seinen Rucksack einpackt. Eigentlich könnte Andreas jetzt abblasen. Er tut es aber nicht. Keiner weiß, warum. Und es ist richtig so, denn da kommt neuer Laut aus der Dickung. Drüben aus der Ecke am alten Zaun. Das ist wieder Oskar! Wieder sein schrilles Gejohle in immer gleicher Tonfolge. Aber etwas anders als vorher klingt es doch. Eine Nuance tiefer, langsamer und verhaltener. Das ist nicht sein Schrei von blinder Kampfeswut, das klingt zwar entschlossen, aber auch nach strategischem Verstand und sogar ein wenig nach Respekt. Klar: Das ist eine einzelne starke Sau!
Auch dieser Laut bewegt sich nicht. Der Basse sitzt fest in seinem Kessel. „Oskar“ ist nahe dran, bedrängt ihn giftig. Aber er weiß wohl, dass es nicht ratsam ist, diesen Brocken mit den langen Zahndolchen zu irgend etwas zwingen zu wollen. Zu oft hat er das in ähnlicher Lage versucht. Immer bekam er Hiebe, Wunden und Narben. Zu oft landete er unversehens bei Lothar auf dem OP-Tisch. Sein kohlschwarzes Fell gleicht jetzt im Alter von sieben Jahren einem Flickenteppich.
Wo sind die anderen Hunde? Jetzt müss-ten sie dem „Oskar“ helfen. Keiner von ihnen kommt. Sie sind erschöpft und haben aufgegeben. Aber „Oskar“ hält durch. An seinem Laut ist zu hören, dass er den Keiler umtanzt, ärgert und zwickt. Der aber rührt sich nicht vom Fleck. Einer müsste hingehen und… Aber das geht natürlich auch diesmal nicht.
Ein starker Keiler
Alle müssen warten. Außer „Oskar“. Dem reißt die Geduld. Plötzlich kreischt er laut und lang in wilder Wut. Dann Knurren – Fassen – Kampfgetümmel und wieder ein Schrei von“Oskar“. Diesmal aber passiv, gepresst, fast klagend. Dann ist es still. Lange und unheimlich still. Was ist passiert? Wo ist „Oskar“? Wir können vorerst nur warten. Nichts ist mehr zu hören. Nur die Augen wandern ständig am Dickungsrand auf und ab, wünschen „Oskar“ herbei.
Endlich! Da ist „Oskar“! Drüben am Rand des breiten Weges vor der Sandgrube. Er steht und wartet. Aber nein, das ist nicht „Oskar“. Der schwarze Klumpen ist größer als ein Hund, viel größer. Eine Sau ist es, der Keiler! Er steht sichernd am Dickungsrand unter überhängenden Ästen, hebt den Wurf in den Wind, schiebt sich noch etwas vor und verhofft wieder. Ein starker Keiler ist es, kohlschwarz und silbern bereift. Der Traum vieler Jäger. Immer noch steht er prüfend da und sondiert mit allen Sinnen die Lage. Ihm gegenüber stehen zwei Jäger. Die Herren Brüll und Besserwasser. Wenn der Basse den Wechsel hält, müsste er einem von ihnen kommen. Beiden wäre es zu gönnen, denn sie hatten einen weiten Weg aus der Landeshauptstadt und haben hohe Ämter. Zur Weisung richtiger Wege schreiben sie wichtige Verordnungen auf amtliches Papier. Und sie versorgen die jagdliche Praxis gerne mit höher bezahlten Erkenntnissen.
Der Basse liegt. Waidmannsheil!
Plötzlich kommt der Keiler in Fahrt. Er will über die freie Fläche, trollt auf die beiden Jäger zu. Auf etwa vierzig Schritt will er zwischen ihnen durch. Scheibenbreit, riesig und gar nicht so schnell. Warum schießt denn keiner? Sehen die denn beide dieses „Klavier“ nicht? Die Sau wird schneller, hat die Freifläche fast geschafft, da knallt es doch noch. Gleich zweimal. Der Basse liegt. Waidmannsheil!
Aber Achtung! Er bewegt sich noch. Schlegelt mit den Vorderläufen und hebt immer wieder das mächtige Haupt mit den blitzenden Waffen. Der ist nur gekrellt! Jetzt muss ein schneller Fangschuß kommen. Aber keiner der Herren rührt sich. Gebannt stehen beide da und blicken sich suchend um, auch nach rückwärts. Die Sau schlegelt, schlägt mit dem Haupt, hebt sich vorn immer höher und klappt gefährlich mit dem riesigen Gebrech. Wenn das so weiter geht, wird sie gleich weg sein, und auch Hirschmann wird sie nicht mehr kriegen.
Endlich kommt einer im Lodenmantel. Er hat von seinem Stand alles beobachtet, eilt wortlos an Herrn Besserwasser vorbei, gibt dem Keiler den Fangschuss und geht wortlos wieder auf seinen Stand zurück. Inzwischen hat Andreas abgeblasen. Die Schützen dieser Flanke laufen am Keiler zusammen. Ja, es ist ein Hauptschwein. Wer ist denn nun der Erleger? Zweimal hat es geknallt, beide haben geschossen. Herr Brüll muss es wissen. Wo ist er eigentlich? Er steht dort an dem Baum und äugt mit langem Hals zum Keiler. Er soll mal zeigen, wo er abgekommen ist.
Herr Brüll zögert und ruft: „Ist er tot?“ „Ja!“ „Wirklich?” Wir suchen den Einschuss, müssen die Sau umdrehen. Herr Brüll möchte sie noch nicht anfassen. Herr Bessewasser auch nicht.
Jäger und bewährter Feldarzt
Wir wuchten den Bassen auf die andere Seite. Da ist der Einschuss. Hoch und hinten, durch’s Kreuz. Gerade noch Glück gehabt. Ein Schlumpschuss. Der andere ging ganz daneben. Also: Einschuss von links, Brüll war’s. Immer wieder: „Waidmannsheil!“
Herr Brüll wächst wie ein Hefekuchen, findet zunehmend seine Sprache wieder, schildert mehrfach und wortreich sein Meisterstück. Ja, er ist ein großer Jäger und hat einen starken Keiler erlegt. Das wissen jetzt alle. Nur einer noch nicht, das ist Ulli. Allein kommt er den dämmerigen Weg herauf. Er schaut ernst, trägt seinen „Oskar“ auf dem Arm: „Wo ist Lothar?“, fragt er knapp. Lothar ist unser Veterinär und bei allen unseren Jagden als Jäger und bewährter Feldarzt für die Schweiß- und Stöberhunde dabei. Er flickt „Oskar“ immer zusammen, so auch diesmal. Auf der Heckklappe seines Geländewagens näht und klammert er den örtlich betäubten „Oskar“ mit routinierter Hand wieder in Form. „Oskar“ hat wieder mal Glück gehabt. Der Dolch des Keilers verfehlte seine Halsschlagader nur um Zentimeter. Ulli legt seinen „Oskar“ auf den Beifahrersitz seines Autos. Dort wo „Oskar“ immer sitzt, wo er sich wohl fühlt und zu Hause ist. Im Gasthaus zu Polau ist der Tisch festlich geschmückt und reich gedeckt. Es gibt Wildschweinbraten mit Rotkohl, Preiselbeeren und gefüllten Williams-Christ-Birnen. Dazu erlesene Weine von Saar und Nahe. Alles reichlich. Kein Wunder, denn wir feiern ein Fest. Ein schönes Fest, denn es war ja auch ein schöner Tag. Hermann erlegte ein Rotkalb, Jürgen einen Überläufer und der schnelle Rudi auch einen. Aber was ist das alles gegen den Herrn Brüll. Der bezwang das Hauptschwein aus dem Birkengrund. Er ist heute unser Jagdkönig.
Im Schlaf jagt schon wieder durch’s Revier
„Jagdkönig, what’s that?”, fragt der jagdlich passionierte Austauschschüler Tom aus Kalifornien. Herr Brüll erklärt ihm das selbst: „Nach jeder Jagd ehren wir den Jäger, der an diesem Tag der Beste und Tüchtigste war. Er ist der Jagdkönig.“ Tom blickt verständnislos grübelnd ins Leere. Vielleicht versteht er die deutsche Sprache nicht. Vielleicht denkt er in diesem Zusammenhang aber an einen anderen Jäger. Der liegt zusammengerollt auf dem Beifahrersitz des grünen Autos. Seine schwarzen Pfoten vibrieren und jagen im Schlaf schon wieder durch’s Revier, seine Lefzen zucken und in seiner Kehle knurrt es wild entschlossen. Im Traum ist er schon wieder dabei, die Lüneburger Heide endlich von den verhassten Sauen zu befreien. Und natürlich von seinem Erzfeind „Batzel“. Der muss auch weg.
„Oskar“, der kleine Hund mit dem großen Herzen.
“Bea” und “Quinta”, die Geschwister. Zwei leistungsstarke Stöberhunde “mit Verstand” |