Vor fast genau drei Jahren dokumentierte WILD UND HUND erstmals die langjährige Streckenentwicklung der wichtigsten Wildarten Deutschlands und ließ sie von führenden Fachleuten kommentieren. Was ist seither geschehen? Wie werden sich die Wildbestände weiter entwickeln?
Die Rotwildstrecke ist – abgesehen von einem Anstieg Anfang der Neunziger Jahre – weiter fallend |
Von Ulrich Wotschikowsky, Dr. Michael Petrak, Prof. Dr. Christoph Stubbe, Dr. Kornelia Dobiás
Rotwild: Tendenz weiter fallend
Der bundesweite Abwärtstrend der Rotwildstrecken hält unvermindert an. In einer Zeitspanne von nur fünf Jahren (1993-1997) sind sie um fast 30 Prozent gefallen.
Verbirgt sich dahinter ein abnehmender Bestand, oder aber ein Bestandsaufbau aufgrund einer langjährig zurückhaltenden Bejagung? In allen alten Bundesländern außer in Nordrhein-Westfalen sind die Strecken weiter gesunken.
Gemeinsam mit der Zunahme rotwildleerer Reviere muß dies wohl als Indiz für rückläufige Bestände interpretiert werden und nicht als gewollte Zurückhaltung beim Abschuss. In den neuen Bundesländern blieben die Strecken in Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern seit drei Jahren etwa gleich, in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen gingen sie drastisch zurück.
Hier fällt die Interpretation noch schwerer, denn anfangs waren z. T. weit überhöhte Bestände abzubauen. Ob dies inzwischen gelungen ist, lässt sich nicht sagen.
Deshalb verbietet sich auch eine Wertung; denn die Streckendaten allein sagen leider nicht genug über die tatsächliche Populationsentwicklung aus. Dazu müsste man u. a. auch das Abschusssoll sowie die räumliche Verteilung des Abschusses kennen.
Vor allem der neuerdings vielerorts beklagte Arealschwund bleibt im Verborgenen. Trotz aller Interpretationsprobleme erscheint ein erneuter großflächiger Anstieg der Gesamtstrecken als sehr unwahrscheinlich. Das Gegenteil dürfte eher zutreffen.
Ulrich Wotschikowsky, Wildbiologische Gesellschaft München
Damwild: Maß halten – so oder so
Das Damwild hat seinen Lebensraum in Deutschland in den letzten Jahren weiter vergrößert. Als Mischäser mit Tendenz zum Rauhfutterfresser profitiert es nicht nur von der aktuellen Form der Landwirtschaft, sondern ist gleichzeitig die den Wald am wenigsten belastende wiederkäuende Schalenwildart.
Die annähernde Verdopplung der Strecke in den alten Bundesländern von 1974 bis 1994 von 9155 auf 17 500 Stück und die Steigerung um 900 Prozent(!) in den neuen Bundesländern von 2074 auf 18 920 Stück belegen die Förderung des Damwildes sowohl als jagdlich interessante Art als auch aus Gründen der Wildbretproduktion.
Die Damwildvorkommen konzentrieren sich auf das Nord- bzw. Nordostdeutsche Tiefland. 85 Prozent der Strecke werden in Niedersachsen, Brandenburg, Schleswig-Holstein, Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt erlegt.
Die gleichbleibend hohen Abschusszahlen der letzten Jahre spiegeln auch das Bemühen wider, die Damwildvorkommen zu begrenzen, so dass wesentliche Steigerungen nicht zu erwarten sind.
Heute ziehen in Deutschland etwa 85 000 bis 90 000 Stück Damwild ihre Fährte. Damit belegt diese Wildart, das mit der Weichseleiszeit in Mitteleuropa ausgestorben war und dessen Rückzugsgebiete jahrtausendelang auf Kleinasien und Südost-Europa beschränkt waren, die Fähigkeit des Menschen, auch große Wildtiere langfristig in überlebensfähigen Populationen zu erhalten. Diese Fähigkeit bedeutet auch Verantwortung!
Dr. Michael Petrak, Forschungsstelle für Jagdkunde und Wildschadenverhütung, Bonn
Rehwild: Noch nicht ausgereizt
Die Gesamt-Rehwildstrecken in Deutschland befinden sich tendenziell weiterhin im Aufwärtstrend. Die vorläufig höchste Strecke wurde im Jagdjahr 1997/98 mit 1 044 809 Stück erreicht. Im folgenden Jagdjahr wurden zwar etwa 10 000 Rehe weniger erlegt, doch liegt dieser Wert mit nur 0,95 Prozent im Bereich normaler Schwankungen.
Andererseits wird der Umweltdruck auch auf das Rehwild immer größer. Doch ist das Reh neben Rotfuchs und Steinmarder fraglos die Wildart, die sich in relativ kurzen Zeitspannen veränderten Umweltbedingungen mehr oder minder problemlos anpassen kann. Das Reh wird die mit großem Abstand häufigste Schalenwildart in Deutschland bleiben. Die lokale oder regionale Reduzierung anderer Schalenwildarten – besonders in den neuen deutschen Bundesländern – wird ihm vielerorts neue Möglichkeiten bieten.
Noch immer nutzen wir unsere Rehwildbestände in vielen Gegenden Deutschlands ungenügend, was u. a. die nach wie vor immens hohen Rehwildverluste im Straßenverkehr belegen. Je weiter wir den Anteil der Jagd an der Gesamtmortalität des Rehwilds erhöhen, um so höher werden die Strecken.
Doch erfordern eine sinnvolle Hege und Bejagung der Rehe ein hohes Wissen und weidmännisches Können. Dies wird leider, offensichtlich bedingt durch die relativ geringe Größe der Rehe und die scheinbar höhere Begehrlichkeit nach anderen Schalenwildarten, unterschätzt.
Prof. Dr. Christoph Stubbe, Fachgebiet Wildtierökologie und Jagd der Bundesforschungsanstalt für Forst- und Holzwirtschaft Eberswalde
Muffelwild: Die Reduktion hat gegriffen
In WuH 24/1996 wurde die Streckenentwicklung von 1990 bis 1995 ausgewertet und bereits ein Rückgang der Muffelwildstrecke prophezeit. Viel schneller als erwartet sank jedoch die Strecke unter die 6000er-Grenze und erreichte 1998/1999 nicht einmal mehr 5600 Stück. So dürfte in den meisten Bundesländern der Abbau der Muffelwildbestände sehr schnell gegriffen haben.
Lediglich in Brandenburg, Bayern und Mecklenburg-Vorpommern wurden im Jagdjahr 1997/1998 noch hohe Strecken erzielt. In allen anderen Ländern sind die Abschüsse kontinuierlich zurückgegangen.
Insgesamt deutet dies auf einen erheblichen Rückgang der Bestände hin. Es bleibt darauf hinzuweisen, dass vor allem die weiter zu bewirtschaftenden Bestände einem altersklassengerechten Abschuss unterliegen sollten, um den Aufbau bzw. Erhalt der notwendigen Sozialstrukturen zu garantieren. Störungen im Biosozialgefüge führen unter Umständen zu Zuwachsdepressionen, die den Gesamtbestand gefährden können.
Das Hauptaugenmerk ist auch beim Muffelwild auf den Eingriff in die Jugendklasse zu richten.
Die Nichterfüllung des Abschussanteiles an Lämmern und einjährigen Stücken führt unwillkürlich zu einem Anwachsen der Stückzahl im mittelalten Bereich und damit zu ungewollter Unruhe und Konkurrenz innerhalb der Population, die meist mit erhöhten Wildschäden einhergehen.
Inwieweit ein weiteres Sinken der Muffelwildbestände in den nächsten Jahren eintreten wird, hängt sicherlich auch von der richtigen Bewirtschaftung der Wildbestände ab, um Wildschäden in erträglichem Maße zu halten. So werden die Strecken auch in den nächsten Jahren die 6000 Stück-Marke wohl nicht mehr überschreiten.
Dr. Holger Piegert, Muffelwildexperte, Vizepräsident des LJV Sachsen-Anhalt
Schwarzwild: Sauen und kein Ende?
Bis in die 50er Jahre war das Schwarzwild in Deutschland nur regional verbreitet. Sein Vorkommen beschränkte sich im wesentlichen auf geschlossene Waldgebiete oder reich strukturierte Lebensräume des Norddeutschen Tieflandes. Der dann beginnende Anstieg der Populationen setzt sich bis heute tendenziell fort. Mit 362 214 erlegten Sauen erreichte die Strecke im Jagdjahr 1996/97 ihren vorläufigen Höhepunkt.
Der Streckenrückgang der letzten zwei Jahre darf nicht überbewertet werden. Die ersten „Zwischenergebnisse“ aus dem laufenden Jagdjahr lassen aufhorchen und auf eine Gesamtstrecke erneut jenseits der 300 000er-Marke schließen.
Weder Bodennutzungsformen noch geomorphologische Strukturen oder menschliche Besiedlungsdichten stellen ein Hemmnis für hohe Schwarzwildvorkommen dar. Bis auf wenige Ausnahmen – im Küstenraum und im Hochgebirge – besiedelt Schwarzwild in Deutschland fast flächendeckend alle Lebensräume, lokal bis weit in menschliche Siedlungen hinein.
Ein ganzjährig gutes Nahrungsangebot bildet die Grundlage für hohe Zuwachsraten. Fehleinschätzungen der tatsächlichen Bestandesgrößen und der Reproduktionsfähigkeit führen gemeinsam mit erschwerten Bejagungsmöglichkeiten und mangelnder Bejagungsintensität zu anhaltend hohen Beständen. Die Folgen sind hohe Wildschäden in der Landwirtschaft und das wachsende Risiko der Europäischen Schweinepest.
Zur Wildschadenssenkung und Erhaltung eines gesunden Schwarzwildbestandes ist die konsequente Rückführung der überhöhten Bestände in Waldgebieten sowie eine schrittweise Zurückdrängung der Sauen aus der offenen Landschaft im Interesse des Niederwildes und weiterer Arten zu fordern.
Dr. Kornelia Dobiás, Forschungsstelle für Wildökologie und Jagdwirtschaft der Landesforstanstalt Eberswalde