Ökosystemgerechte Jagd – Teil 1:
Wer oder was wirbt in den zurückliegenden etwa zehn Jahren nicht alles mit dem Begriff oder dem Zusatz „Öko“? Waschmaschinenhersteller, Autokonzerne, Forstverwaltungen, ja selbst Jagdverbände. Das nicht überall, wo „Öko“ draufsteht, auch wirklich „Öko“ drin ist, zeigt der folgende Beitrag.
Von Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Paul Müller
Der Wind des Wandels weht um die Welt. Rechte, Traditionen und Institutionen werden einer Neubewertung unterzogen. Das gilt auch und gerade für die Jagd als eine der ältesten Nutzungsformen der Menschheit. Forderungen unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppen, neue wissenschaftliche Erkenntnisse, Neubewertungen und Beschränkungen fordernde internationale Konventionen sowie nationale und internationale Gesetzesinitiativen erfordern eine Standortbestimmung der Jagd – zumindest eine argumentative Auseinandersetzung mit ihren Kritikern.
Die Jagd muss die Wirkungen ihrer Eingriffe einschätzen können
Dabei gilt es, zwischen unserer Jagdmotivation und der Qualität der Jagdausübung – insbesondere in ihrer Wirkung auf Populationen und Ökosysteme, sorgfältig zu unterscheiden. Die Jagd muss, ausgehend von real existierenden Lebensgemeinschaften, die Wirkungen ihrer Eingriffe einschätzen können, die Einflüsse von Beutegreifern (Prädatoren) auf andere Tierpopulationen sowie jene von Pflanzenfressern auf Pflanzengemeinschaften verstehen und ergebnisorientierten Artenschutz von ideologisch motivierten Nebenkriegsschauplätzen unterscheiden – sie muss ökosystemgerecht sein.
Im April 2001 legte das Bundesamt für Naturschutz Vorschläge zur Änderung des Kataloges der jagdbaren Arten vor und ging davon aus, dass die Jagd nur ausgeübt werden darf, wenn
– ein jagdlich konsumtives Nutzungsinteresse an den bejagten Arten besteht,
– diese sich in einem günstigen Erhaltungszustand befinden und
– fachliche Voraussetzungen zur Erhaltung der Arten durch einen Managementplan sichergestellt werden.
Die konsumtive Nutzung von Wildtieren setzt im Sinne des Bundesamtes für Naturschutz eine Verwertung der erlegten Tiere zur menschlichen Nutzung (Ernährung, Kleidung usw.) voraus. Würde man diese enge Definition tatsächlich als Ausschlusskriterium verwenden, entfällt eine Vielzahl von sinnvollen, sogar gesetzlich vorgeschriebenen Eingriffsnotwendigkeiten. So erfordert allein der Seuchenschutz (vgl. u.a. § 23, 24, 25 BJG; § 24 Tierseuchengesetz; § 11 Tollwutverordnung; Verordnung zum Schutz gegen die Schweinepest usw.) eine intensive Bejagung von „nicht nutzbaren“ Arten oder Individuen einer jagdbaren Population. Tier- und Artenschutzgründe widersprechen also einer starren Bindung der jagdbaren Arten an ein konsumtives Nutzungsgebot. Im Gegenteil sind auch im Sinne des Naturschutzes gerade in Kulturlandschaften flexiblere Eingriffsregelungen notwendig, als sie durch die starren Lagermentalitäten fixiert werden. Eine sorgfältige Analyse aller derzeit diskutierten Vorschläge zu einer Novellierung einzelner Paragraphen des Bundesjagdgesetzes macht deutlich, dass einerseits viele Vorschläge auf ihre Wirkungen nicht nur auf das Jagdgesetz nicht zu Ende gedacht wurden, andererseits aber auch eine durch internationale Vereinbarungen und neuere wissenschaftliche Erkenntnisse zwingend notwendige inhaltliche Veränderung und Erweiterung des Jagdgesetzes noch nicht umgesetzt wurde.
Der sukzessive Wandel ist Normalzustand
Ökosysteme sind regionaltypische „Antworten“ von Lebensgemeinschaften auf die an einer Erdstelle wirkenden Faktoren. Sie werden weder von menschlichen Harmoniebedürfnissen noch von dauerhaften Gleichgewichten bestimmt. Der sukzessive Wandel ist ihr Normalzustand, nicht nur weil die jeweils vorkommenden Arten unterschiedliche Arealsysteme, Herkunftsgebiete und ökologische Fähigkeiten besitzen. In nacheiszeitlich entstandenen und/oder gestörten Ökosystemen lässt sich häufig feststellen, dass sich nicht nur die im Laufe der Evolution erworbenen Abstände zwischen Räuber und Beute verschoben, sondern auch ehedem komplizierte Nahrungsnetze zu einfachen Systemen degeneriert sind. Populationszusammenbrüche können natürlich von Faktorenbündeln aus Klimawandel, Landnutzung und opportunistischen Beutegreifern bewirkt werden. Entscheidend ist jedoch, dass der Einfluss der Prädatoren auf die Populationen ihrer Beutetiere dann am stärksten ist, wenn sich diese in einem Populationsminimum befinden.
„Jagen
Ökosystemgerechte Jagd erfordert daher ein umfassendes Wissen und Einfühlen in die Lebensprozesse der Landschaften. Ökosystemgerechte Jagd erfordert den Willen zur sorgfältigen Umweltbeobachtung und macht aus den Jagdterritorien Bausteine einer integrierten Umweltbeobachtung. Die Entscheidung, ob im Interesse der Erhaltung der gesamten Artenvielfalt gejagt werden muss, gejagt werden kann oder die Jagd auf bestimmte Arten unterlassen wird, folgt nicht mehr dem „Bedürfnis zu jagen“, sondern der Verpflichtung für die Erhaltung des Artenreichtums in unserer Biosphäre. Dabei hat der Mensch gelernt, dass er, auch um seine Schutzziele zu erreichen, sich vor vielleicht schmerzhaften Eingriffen auch in Dinge, die ihm persönlich lieb und wert sind, nicht mehr drücken darf. „Jagen, um zu schützen“ ist für viele Tier- und Naturschützer eine nicht immer nachvollziehbare Position. Sie kann jedoch, gestützt durch populationsbiologische und ökosystemare Forschungsergebnisse, zur zwingenden Notwendigkeit werden. So begründen gezielte Wildlife-Management-Strategien die kontroverse Diskussion um den richtigen Schutz großer Herbivoren (Elefanten, Bison, Wisente u.a.) wie die Erhaltungskonzepte für zahlreiche Großraubtiere.
Unabhängig von der jeweiligen Weltanschauung, von der naturgemäß auch kulturgeprägten Ethik, ist für eine nachhaltige Nutzung von Wildtierpopulationen die Schaffung bestimmter Grundinformationen zwingend erforderlich. Denn jede Bewertung oder Risikoanalyse von Tier- oder Pflanzenpopulationen hängt von soliden Grundlagen über ihr Vorkommen und ihre Populationsdichten in unseren Landschaften ab. Unbegründete Horrorszenarien über ein mögliches Artensterben oder aus einseitigem Nutzungsinteresse geborene Beschwichtigungen sind für Schutz- und nachhaltige Nutzungsstrategien kontraproduktiv.
Das weitgehende Fehlen flächendeckender Daten über die Populationsdynamik der meisten Tiere Deutschlands – mit Ausnahme einiger Vogelarten – führt zwangsläufig zu Fehleinschätzungen über den tatsächlichen Status vieler Arten. Auch für Tierarten, die dem Jagdrecht unterliegen, waren bisher flächendeckend keine Angaben über die Populationsdichten, wohl aber über die jährlich in allen Bundesländern getätigten Abschusszahlen verfügbar. Allen Fachleuten ist aber seit Jahrzehnten bekannt, dass die Streckenstatistik – wenn überhaupt – nur sehr begrenzte Aussagen über die Populationsdynamik gestattet. Bei sinkendem Jagdinteresse an einer bestimmten Wildart, bei Verbot oder Veränderung traditioneller Jagdarten, bei freiwilligem Jagdverzicht, bei veränderten gesellschaftlichen Bedürfnissen oder einer Verlagerung der Jagdzeiten sinken die Strecken im allgemeinen mehr oder minder deutlich ab. Von steigenden herbstlichen Abschusszahlen zum Beispiel bei der Waldschnepfe von 7 578 im Jagdjahr 1999 auf 8 758 im Jahr 2 000 oder bei im selben Zeitraum von 658 410 auf 606 456 sinkenden Zahlen beim Fuchs, wird sicherlich kein Fachmann Schlüsse auf die Populationsdichte beider Arten in Deutschland ziehen wollen. In vielen Fällen erlauben selbst langjährige Zahlenreihen der Streckenstatistik noch nicht einmal eine Trendaussage für einzelne Bundesländer.
Eine gleichermaßen verwendbare Informationsbasis schaffen
Wildbiologen und Jägern ist seit längerem klar, dass auf die Streckenstatistik nicht verzichtet werden kann, dass sie aber wesentlich verbessert werden muss.
Voraussetzungen für eine nachhaltige Nutzung von Tierpopulationen sind jedoch
– belastbare Informationen zu Populationsdichte und -trends sowie
– die Dokumentation und Aufklärung der Zusammenhänge zwischen Wild und Lebensräumen.
Vor diesem Hintergrund wurden bereits vor zwei Jahrzehnten in vielen Gebieten Deutschlands Wildbestandserhebungen ins Leben gerufen, die methodisch jedoch von Bundesland zu Bundesland meist unterschiedlich durchgeführt wurden und ebenfalls nicht geeignet waren, die Dynamik der meisten Wildtiere flächendeckend befriedigend darzustellen. Nach einer sorgfältigen Diskussion der artspezifisch unterschiedlichen Aufnahmemethodik wurden vom Deutschen Jagdschutzverband daher die Grundlagen für das „Wildtier-Informationssystem der Länder Deutschlands“ (WILD) als flächendeckendes Monitoring-System geschaffen (WuH berichtete). Ziel des Projektes ist die bundesweite und fortlaufende Erfassung von Wildtierarten mit wissenschaftlichen Methoden, um zukünftig eine für Schutz und Nutzung gleichermaßen verwendbare Informationsbasis zu schaffen. „WILD“ hat die Aufgabe, verlässliche Daten über Populationstrends und damit auch über mögliche Folgen jagdlicher Management-Methoden zu erstellen. Es ist kein jagdpolitisches Instrument, sondern ausschließlich einer soliden und transparenten Erfassung von Wildtieren verpflichtet. Es verhindert nicht, dass eine Art auf die „Rote Liste“ kommt, aber es begründet sorgfältig, warum es so sein sollte oder nicht. Da heute unter „Hege“ alle Maßnahmen verstanden werden, die eine nachhaltige Nutzung des Wildes sichern bei gleichzeitiger Bewahrung, Wiederherstellung und Entwicklung regionaltypischer Ökosysteme mit ihren zugehörigen Tier- und Pflanzenarten, haben Jagd und Naturschutz ein bedeutendes gemeinsames Anliegen: den Schutz wild lebender Tiere. Auch zu diesem Schulterschluss möchte „WILD“ einen Beitrag leisten.
Erste Ergebnisse verdeutlichen, dass ein solches System für den Schutz von Wildtieren sowie eine nachhaltige jagdliche Nutzung gleichermaßen bedeutsam, vielleicht unverzichtbar ist. So weisen die Daten der ersten bundesweiten Scheinwerferzählung beim Feldhasen in allen großen Naturräumen Deutschlands Hasendichten zwischen 0,5 bis 177,9 bei einem Durchschnitt von 19,6 Hasen pro 100 Hektar Referenzgebietsfläche aus. Diese Daten belegen einerseits, wie groß die Schwankungen in der Populationsdichte des Feldhasen auch kleinräumig sein können, sie verdeutlichen andererseits, dass einfache Hochrechnungen auf Gesamtbesatzdichten derzeit zu Fehleinschätzungen führen müssen.
Forstliche Hilfestellung ist notwendig
Doch belegen die Erhebungen bereits jetzt, dass die Hasenbesätze in den ostdeutschen Bundesländern und Berlin deutlich geringer sind als im übrigen Deutschland. Sie erreichen nur in 84,3 Prozent der insgesamt 185 Referenzgebiete dieser Länder Hasendichten bis zu zehn Stück pro 100 Hektar. Demgegenüber wurden beispielsweise in Nordrhein-Westfalen in keinem Referenzgebiet Dichten unter zehn Hasen pro 100 Hektar Zählfläche registriert. Auf eine weitergehende Diskussion der Daten soll an dieser Stelle verzichtet werden. Auffallend sind jedoch gewisse Zusammenhänge mit den Naturräumen Deutschlands und – nicht überraschend – mit den großflächigen Wald-Feld-Verteilungsmustern.
Um Verteilungsmuster meist anderer Art sowie weitere, wesentlich komplexere (ökologische) Verknüpfungen geht es bei der Wald-Wild-Problematik. In den Diskussionen um eine ökosystemgerechte Jagd spielt das Rehwild im Lebensraum Wald seit Jahrzehnten eine, wenn nicht gar die Hauptrolle. Zu den Tatsachen: In den sommergrünen Laubwäldern West- und Mitteleuropas bedingen die klimatisch gesteuerten Wuchspotenziale auf den meisten Standorten eine Dominanz der Buchen. Die vielfach – besonders von Naturschützern – gewünschten hohen Artenmischungen sind auf den meisten Standorten Illusion und können ohne forstliche Hilfestellung nicht erreicht werden. Ein weiteres Beispiel dafür, dass Ökosystemschutz häufig eben nicht mit dem übereinstimmt, was der Naturschutz möchte. Unabhängig von diesem Naturschutz-Dilemma bleibt jedoch, dass die Organismen in den Ökosystemen gegenüber bestimmten Störungen spezifische Reaktionsmuster zeigen. Diese werden jedoch nur erkannt, wenn wir ihre Reaktionen vorurteilsfrei, das heißt wirklich wissenschaftlich analysieren.
Seit langem ist bekannt, dass zwischen Pflanzenfresser-Populationen und Vegetationsstrukturen enge, allerdings sehr komplexe Zusammenhänge bestehen, deren Aufklärung unter bestimmten Bedingungen als Indikator für Veränderungen und Belastungen nicht nur von Waldökosystemen Verwendung finden kann. Ohne auf die komplexen Zusammenhänge zwischen Pflanzenfressern und Pflanzengesellschaften einzugehen oder die Wirkungen von Äsungsgewohnheiten, die Pflanzenverwertbarkeit, Verbiss oder Verbissschaden genauer zu beleuchten, wurde in der Praxis der „Zustand der Waldvegetation“ durch die „Feststellung und Bewertung des Verbisses“ in vielen Bundesländern als Grundlage für Abschussvorgaben eingesetzt.
Heute existieren in fast allen deutschen Bundesländern flächendeckende und gegenüber sachlich, fachlicher Kritik oftmals außerodentlich resistente „Bewertungsverfahren“. Während einige Bundesländer sich hinsichtlich ihres Verfahrens zur „Subjektivität“ bekennen und der Entscheidung durch den Forstexperten vor Ort großen Raum geben, betonen andere ihre „Objektivität“. Im Gegensatz zur „immissionsökologischen Zustandserfassung des Waldes“, die seit 1983 bundesweit einheitlich durchgeführt wird, indiziert das Festhalten mancher Forstverwaltungen an ihren Länderverfahren, dass auch bei ihnen berechtigte Zweifel über den Wahrheitsgehalt der Verbissgutachten – zumindest des jeweils „anderen“ Bundeslandes – bestehen müssen.
Das Rehwild hat Revolutionen, unterschiedlichste und länderspezifische Bejagungsrichtlinien, Überhege und „Rattenbekämpfungsaktionen“ überstanden. Die aktuelle Flächennutzung, die Zunahme stickstoffliebender Pflanzen, aber auch das „Zusammenschießen“ der die Wilddichte mitbestimmenden Altersstrukturen haben die Rehwildbestände ansteigen lassen. In einigen Regionen befinden sich die Rehpopulationen – bedingt durch intensive Bejagung – in einer dauerhaften Pionierphase, wodurch Verbissschäden verstärkt werden können.
Viele Autoren haben sich kritisch mit den Länderverfahren auseinandergesetzt. Allein vom Biogeographischen Institut der Universität Trier wurden seit 1987 auf Staatsforstflächen im Saarland, in Bayern, Schleswig-Holstein, Sachsen-Anhalt und in Frankreich die wichtigsten heute eingesetzten Verfahren parallel getestet. Aus Platzgründen kann hier nur auf einige wenige Kritikpunkte verwiesen werden. Eine besondere Rolle für Fehlbewertungen spielen bei den veschiedenen Länderverfahren
– die Größe der Verjüngungsflächen,
– die Mindestpflanzenanzahl,
– die Festlegung der Bewertungsrichtlinien auf der Fläche,
– die variablen und systematischen Fehler,
– die Berücksichtigung und Bewertung der unverbissenen Pflanzen,
– die Erfassung und Bewertung der Kräuter,
– die Relevanz der Verbissaufnahme für Reviere und Hegegemeinschaften,
– die Verknüpfung mit dem Lebensraum der Bäume und des Wildes,
– die Transparenz der Interpretation der Daten durch das Forstamt,
– die Transparenz bei der Festlegung der Abschusszahlen (Welcher Zusammenhang besteht zwischen Verbiss und Abschussvorgabe?),
– die Zusammenhänge zwischen Verbiss-aufnahmen auf gezäunten und ungezäunten Weiserflächen sowie
– die Beteiligung der Jäger.
Während einige Länderverfahren – zum Beispiel im Saarland – dieser bereits 1992 geäußerten Kritik zumindest in einigen Punkten Rechnung getragen haben, versuchen andere, das einmal gewählte Verfahren unbeirrt und konsequent beizubehalten. Es ist zum Beispiel leicht feststellbar, dass – bedingt durch die Vermehrung der auf Wiebke und andere Orkane zurückführbaren naturbedingten Kahlschläge – der Lebensraum für das Rehwild verbessert wurde. Der Verbissdruck auf den ursprünglichen Aufnahmeflächen sank dabei häufig, da sich das Wild auf einen erweiterten Äsungsraum verteilen konnte. Soll deshalb weniger geschossen werden, nur weil die Verbissprozente sinken?
Mit der Büchse allein ist das Wald-Wild-Problem nicht zu lösen
Sachdienliche und kenntnisreiche Interpretation ist also gefordert. Der entschuldigende Hinweis auf die Notwendigkeit „schnell einsetzbare und praktikable Verfahren“ für die Verbissaufnahmen wählen zu müssen, brachte uns der Wald-Wild-Wahrheit kein Stück näher. Denn das, was diese so genannten Gutachten begründen wollen – „mehr Rehe zu schießen“ – kann man auch ohne Einsatz von Steuergeldern fordern.
Trotz der bekannten komplexen Zusammenhänge zwischen Rehen und unterschiedlichen Pflanzengesellschaften, die nachdrücklich belegen, dass Verbiss in vielen Fällen weder von der Rehwilddichte abhängen muss, noch gleichgesetzt werden darf mit Vegetationsschäden, soll durch diese Kritik an den „praxisnahen Verfahren“ nicht bezweifelt werden, dass Rehwild die forstlichen Zielsetzungen bei Bestandsgründungen infrage stellen kann. Unbestritten ist ebenfalls, dass die Jäger in einigen Bereichen ihrer jagdgesetzlichen Pflicht nicht nachkamen und insbesondere durch die Vernachlässigung des Abschusses weiblicher Stücke Rehwildbestände ermöglichten, die den Aufbau naturnaher Wirtschaftswälder lokal erheblich erschwerten. Mit der Büchse allein ist aber das Wald-Wild-Problem nicht zu lösen. Die in vielen Fällen geforderte Vielfalt in den Waldbeständen, die von einigen Autoren gleichgesetzt wird mit größerer Naturnähe, hat mit der heutigen potenziellen natürlichen Vegetation der Standorte oftmals genausowenig zu tun, wie die aus wirtschaftlichen Erwägungen angepflanzten Fichtenreinkulturen auf Buchenwaldstandorten.
Der Einfluss von Pflanzenfressern kann auch positiv sein
Das zeigen insbesondere unsere mehrjährigen Analysen von gezäunten Weisergattern. Im Zaun entfaltet sich nämlich auch die standortspezifisch unterschiedliche Konkurrenzkraft einzelner Pflanzenarten auf erstaunliche Weise. Him- und Brombeeren überwachsen plötzlich unsere Eichenverjüngung und zeigen, dass der Einfluss von Pflanzenfressern auch für Waldbäume sehr wohl positiv sein kann. Und auch, wenn in Naturverjüngungen zunächst zahlreiche Baumarten aufkommen können, muss Wildverbiss keineswegs der Hauptverursacher für die oftmals zu beobachtende allmähliche Entmischung der Bestände sein.
Versucht man zunächst ohne Rücksicht auf Vorbehalte der so genannten Praktiker ein Verfahren zu entwickeln, das der ökologischen und ökonomischen Rolle von Pflanzenfressern in komplexen, von Natur- und Kulturfaktoren geprägten und immer wieder unterschiedlich beeinflussten Ökosystemen gerecht wird, so muss man sich zunächst mit den verbisssteuernden Faktoren und deren räumlicher Verteilung auseinander setzen. Für den Rehwildbestand sind das unter anderem die Sozial- und Altersstruktur, das Geschlechterverhältnis, mögliche Interaktionen mit anderen Pflanzenfressern sowie das Bejagungssystem und andere Störungen. Darüber hinaus muss eine klare Definition der später benutzten Verbissparameter gewählt werden (spezieller Verbiss, spezielle Verbissschadensgrenze, spezielle Verbissbelastung, Gesamtverbiss, spezielles Äsungsangebot, aktuelles und potenzielles Äsungspektrum usw.).
Gezielte Analysen zeigten schon vor Jahren, dass Anzahl, Größe, Lage und Heterogenität der Aufnahmeflächen die Ergebnisse von Verbissaufnahmen entscheidend bestimmen. Alle in Deutschland eingesetzten Verfahren erkennen zwar die Komplexität der Wald-Wild-Problematik an, kommen jedoch aus praktischen Erwägungen (u.a. Personaleinsatz, Kosten) zu teilweise extremen Vereinfachungen, die insbesondere bei Veränderungen des Äsungsangebotes auf und/oder im Umfeld der Fläche zu erheblichen Fehlbewertungen führen müssen.
Auch Pflanzensoziologische Kenntnisse und Erfahrungen sind notwendig
Es wurden umfangreiche Untersuchungsverfahren in verschiedenen Naturräumen Deutschlands überprüft. Es wurde eine kritische Sichtung der zu diesem Themenkomplex vorliegenden Literatur vorgenommen. Und es wurde nachgewiesen, dass insbesondere in den Bundesländern Bayern, Baden-Württemberg, Hessen und Rheinland-Pfalz mit den angewendeten Verfahren an gleichen Standorten extrem abweichende Ergebnisse erzielt wurden. Aus all dem muss geschlossen werden, dass Verbissgutachten nur dann für den Abschussplan verwertbar sind, wenn auch die Randbedingungen, die auf die Aufnahmeflächen einwirken, sorgfältig erfasst und transparent gemacht werden. Die für eine ökosystemgerechte Verbisserfassung notwendigen Mindestanforderungen verlangen neben forstlichen und ökologischen Vorarbeiten insbesondere auch pflanzensoziologische Kenntnisse und Erfahrungen. Es müssen nicht nur alle Pflanzen in ihrer relativen Häufigkeit und Verteilung auf den Aufnahmeflächen erfasst, sondern diese Flächen zugleich in Zusammenhang mit ihrem regionalen Umfeld gestellt werden.
Dialogbereitschaft fördern
Unsere Untersuchungen im Freiland verdeutlichen mit Nachdruck, dass es geboten ist, mit der derzeit geübten „praxisnahen Verbisserfassung und -bewertung“ Schluss zu machen. Entweder man entscheidet sich zu einer, der tatsächlichen ökologischen Differenziertheit Rechnung tragenden Verbisserfassung auf der Ebene von Pflanzengemeinschaften oder man reduziert die so genannten praxisnahen Verbisserfassungsmethoden auf Besprechungen von Revierforstbeamten und Jägern vor Ort. Letzteres würde nicht nur Kosten einsparen und einer scheinwissenschaftlichen Verbiegung ökologischer Tatsachen entgegenarbeiten, sondern zugleich die notwendige Dialogbereitschaft zwischen Naturnutzern und Naturschützern im Sinne einer nachhaltigen, gemeinsamen Schutz- und Nutzungsstrategie erheblich fördern.
Ökosystemgerechte Jagd folgt nicht mehr dem “Bedürfnis zu jagen”, sondern der Verpflichtung für den Erhalt des bestehenden Artenspektrums |