Vierläufiger Helfer mit Borsten :
Man muss sich eben zu helfen wissen. Die anspruchsvollen Bedingungen zum Bestehen der Vorprüfung des Vereins Hirschmann werden durch eine zahme Wildsau namens „Meyer ohne“ erheblich erleichtert. Der Obmann der Landesjägerschaft Niedersachsen für das Jagdhundwesen, Henning Johns aus der Nähe von Helmstedt, schildert den Werdegang seiner außergewöhnlichen Fährtensau.
Von Henning Johns
Nach der Prüfungsordnung (PO) des Vereins Hirschmann muss auf der Vorprüfung für Hannoversche Schweißhunde die kalte Gesundfährte eines einzelnen Stückes Hochwild in einer Länge von 400 Metern und nach einer Stehzeit von mindestens drei Stunden von den jungen Schweißhunden sicher ausgearbeitet werden, um die Prüfung zu bestehen. Zum Nachweis für die praktische Eignung eines Schweißhundes sind Kaltfährten wichtig.
Hierzu ist es notwendig, dass ein Richter ein Stück Hochwild beobachtet hat, dessen Fährte von dem jungen Schweißhund gearbeitet werden muss. Die Arbeiten der einzelnen Hunde sollen natürlich möglichst chancengleich bewertet werden. In der Praxis ist das nicht immer einfach, denn so wahnsinnig viele einzelne Stücke Hochwild laufen nunmal nicht zum festgesetzten Termin bei Licht und unter Erfüllung der anderen Bedingungen in den Revieren herum.
Ferkelstarter-Futter mit Torfgemisch
Die erkaltete Gesundfährte einer „gelenkten“ Wildsau ist nach der Prüfungsordnung erlaubt, kommt sie doch dem Bemühen um eine objektive Bewertung erheblich entgegen. Denn es ist ja bekannt, wo genau diese Sau entlanggezogen ist. Auf der Prüfung folgen dann die Richter in seitlichem Abstand dem Gespann und dokumentieren den Verlauf der Fährtenarbeit an Ort und Stelle – meistens auf einem Diktiergerät. So finden sie zu einem gerechten Urteil über Haupt-Kriterien wie den Fährtenwillen und den Gebrauch der Nase des vierläufigen Prüflings. Wie kam man nun darauf, sich einer zahmen Wildsau zu bedienen?
Anfang Mai 1995 brachte Burkhard Meyer mir ein zwei bis drei Wochen altes Frischlings-Keilerchen, das er in seinem Revier Schöningen in der Nähe einer viel befahrenen Bundesstrasse gefunden hatte. Dort irrte es verlassen umher. Wahrscheinlich war die dazugehörige Bache entweder dem Straßenverkehr oder der nahen Bundesbahn-Strecke zum Opfer gefallen.
Ich nahm mich des Findelkindes an und quartierte es in einem mit Stroh ausgelegten Stall ein. Eine Rotlichtlampe sorgte für die nötige Nestwärme. Ein Hausschweinzüchter aus unserem Dorf empfahl mir, so genanntes Ferkelstarter-Futter mit Torf gemischt zu füttern. Das klappte. Frischlinge wühlen nämlich gern im Torf nach Nahrung und nehmen, was für ihre Verdauung wichtig ist, Teile davon auch mit dem Futter auf. Von Anfang an nahm „Meyer“, so hatte ich den Kleinen inzwischen nach seinem Finder getauft, das Gemisch an. Eine Nuckelflasche mit spezieller Ferkel-Aufzuchtmilch wurde zu unserer Verwunderung von ihm abgelehnt.
Zwei Tage später bekamen wir von Burkhard Meyer noch einen Frischlingskeiler gebracht, der ebenfalls nahe der ersten Fundstelle eingefangen worden war. Der zweite war etwas stärker, weshalb eine gute Unterscheidung möglich war. Auch der Neue nahm das Futter an und überstand die ersten kritischen Tage gut. Die Ferkelstarter-Pellets übernahmen schon bald die Funktion von Leckerlis, um die Frischlinge daran zu gewöhnen, stets in der Nähe von „Herrchen“ zu bleiben und auf Ruf zu kommen. Später wurden dann auch Welpenfutter und andere Leckereien als erzieherische Hilfsmittel eingesetzt.
Meyers Bruder ward nie wieder gesehen
Im Stall klappte dies bald schon hervorragend, sodass der erste Freiheitstest erfolgen konnte. Aber einzeln, das war wichtig! Zuerst wurde Meyer aus dem Stall geholt, Ferkelstarter in die Hand und raus auf den Hof. Es funktionierte alles wie gewünscht, wir waren happy, und Meyer folgte nach einem Rundgang wieder willig in sein Quartier.
Interessant war, was dann mit Meyers Bruder geschah, der ja die gleiche Ausgangslage hatte. Also, auch den zweiten Frischling auf den Arm, raus auf den Hof und laufen gelassen. Und was geschah? Die Vertrautheit, die auch dieser Frischling im Stall stets gezeigt hatte, war hier im Nu verflogen. Sowie er den „wahren Himmel“ über sich eräugte, gab er sofort Gas und ras-te wie wild vom Hof auf ein Nachbargrundstück, wo ich ihn mühevoll wieder einfangen konnte.
Dieser erste Versuch mit ihm war absolut gescheitert, aber ich gab nicht auf. Etwa zwei Wochen später wurde – nach weiteren Fortschritten bei der „Stubendressur“ – das Experiment wiederholt. Meyers Bruder verhielt sich wieder völlig wild und flüchtete diesmal kopflos über den Hof in die Feldmark hinaus und ward nie wieder gesehen. Meyer hingegen war und blieb vertraut, geradezu anhänglich. Er betrachtete mich offensichtlich als seine Bezugsperson und folgte mir wohin ich ging. Vielleicht hatte seine Prägung in den zwei Tagen stattgefunden, die er eher bei mir war als sein Bruder.
Da Bekannte von mir mit einem „richtigen“ Keiler auf ihrem Grundstück mit zunehmendem Alter äußerst schlechte Erfahrungen gemacht hatten, beschlossen wir, Meyer vom Tierarzt unter Narkose kastrieren zu lassen. Von dem Moment an hieß er – logisch – „Meyer ohne“. Den Eingriff hat er uns übrigens nicht übel genommen, sein Verhalten war friedlich bis zum heutigen Tag. Ab seinem vierten Lebensjahr wog Meyer ohne 100 bis 120 Kilogramm und hat dieses Gewicht seitdem annähernd gehalten.
Meyer verschwand im hohen Getreide
Als Frischling und Überläufer war er auch noch häufig zu Kurzbesuchen im Wohnhaus. Als er jedoch höher wurde als der Stubentisch nahm die Gefahr für Porzellan, Geschirr und Mobiliar so erheblich zu, dass er draussen bleiben musste.
Seit 1996 machen „Meyer ohne“ und ich uns auf den Vorprüfungen des Vereins Hirschmann im Elm nützlich. Dort treten, oder besser laufen wir die erforderlichen Gesundfährten in der gewünschten Länge und zwar immer eine nach der anderen. Mein zahmer Keiler läuft dabei frei neben mir und macht auch mal den einen oder anderen Schlenker – wie in der Natur.
Schon bei Tagesanbruch machen wir uns dann vom Hof aus zu Fuß auf den Weg zum gut einen Kilometer entfernten Elm, wobei wir eine stark befahrene Bundesstrasse überqueren müssen. Aus Sicherheitsgründen werden dann zwei Helfer mit Funkgeräten ausgestattet und so postiert, dass sie beruhigend auf den Verkehr einwirken können, bis wir sicher auf der anderen Fahrbahnseite angelangt sind. Abends geht es auf selbem Weg zurück. „Meyer ohne“ hat offenbar seine Freiheit nie vermisst, jedenfalls hat er bis auf eine Ausnahme nie Anstalten gemacht wegzulaufen. Das war so:
Im Juni 1998 bekamen wir Besuch, und der wollte natürlich unseren zahmen Keiler auch mal in Aktion erleben. Ich holte Meyer aus dem Stall, und danach spazierten wir einen Feldweg entlang, an den ein etwa 25 Hektar großer Wintergerstenschlag grenzte. Ich dachte mir nichts dabei, als Meyer im hohen Getreide verschwand, um sich an den reifenden Ähren gütlich zu tun. Das hatte er schon häufiger getan. Aber an diesem Tag kam er nicht wie gewohnt kurz darauf wieder zum Vorschein.
Alles Rufen und Locken blieb dieses Mal vergebens. Nach etwa einer halben Stunde Wartezeit – es dämmerte bereits – wurden wir langsam unruhig. Auf dem feuchten Boden in den Schlepperspuren im Getreide standen allerdings deutlich die Trittsiegel des Ausreißers. Wir gingen die Fährte etwa 800 Meter weit aus, brachen aber wegen einbrechender Dunkelheit ab und kehrten mit mulmigen Gefühlen in der Magengegend wieder zurück nach Hause.
Verschlafen im Strohkessel
Bevor ich versicherte: „Morgen in aller Herrgotts Frühe suchen wir weiter“, stellten wir noch einen mit Mais gefüllten Napf an den Einwechsel, um zu kontrollieren, ob Meyer sich noch in der Nähe aufhielt. Vorsichtshalber blieb auch das Hoftor offen, um ihm gegebenenfalls eine freiwillige Rückkehr zu ermöglichen.
Es folgte eine recht unruhige Nacht mit wenig Schlaf. Punkt 4 Uhr 30 standen wir abmarschbereit auf dem Hof als einer von uns auf die Idee kam, vorher noch kurz in Meyers Stall nachzuschauen. Und siehe da, wir trauten unseren Augen nicht. Meyer schälte sich verschlafen aus seinem Strohkessel und begrüßte uns freudig als sei nichts geschehen. Das anschließende Frühstück zog sich bis weit nach Mittag hin. Dem Getränkeverbrauch und der guten Stimmung nach hätte man denken können, wir hätten „einen ganz dicken Keiler totgetrunken“.
Der verlassene Frischling war erst wenige Wochen alt, als Henning Johns sich seiner annahm |