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Die Chronologie der Rotwildbrunft

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Die Rotwildbrunft bedeutet Natur pur. Selbst Nichtjäger streben alljährlich in großer Zahl zu bekannten Brunftplätzen, um das Konzert der Hirsche live zu erleben. Für uns Jäger aber hängt etwas mehr daran. Die Brunft ist die Krönung eines arbeitsreichen Jahres im Rotwildrevier – vielleicht mit einem unvergesslichen Jagderlebnis verbunden, ganz sicher aber mit Freigaben, Abschussplänen und eventuell der Führung von Jagdgästen. Vor allem aber mit der Frage: Wann geht’s los?

 

Es ist Spätsommer im Rotwildrevier. Die Luft ist voller Herbstduft, der Tau durchnässt den Bodenbewuchs und irgendwie herrscht eine merkwürdige Stille. Das gewohnte morgendliche Vogelkonzert ist bis zum nächsten Frühjahr verstummt und auch die Vegetation scheint sich langsam auf ihre herbst- und winterliche Ruhe vorzubereiten. Und doch liegt etwas in der Luft – eine fast knisternde Spannung ist es, die unsere Sinne fesselt. Es folgt vielleicht noch eine Nacht, noch eine Morgenpirsch oder ein Ansitz, ein weiterer Abend und so weiter. Bis… ja bis endlich der erste Hirsch meldet und plötzlich eine unvergleichbare Atmosphäre „im Busch“ schafft.

 

Zur Brunft kommen die Hirsche im wahrsten Sinne des Wortes in Fahrt. Ihre Bewegungsaktivität ist jetzt höher als in jeder anderen Phase des Jahres. Die Gewichtsverluste können 30 und mehr Kilogramm betragen. Foto: Jürgen Weber

Was ist der Zeit- beziehungsweise Taktgeber?

Jeder Rotwildjäger kennt die gespannte Erwartung und die Vorfreude auf die Brunft der Rothirsche, die ohne Zweifel zu den beeindruckendsten Naturschauspielen der heimischen Wildbahn zählt. Doch warum brunftet das Rotwild in unseren Breiten im Spätsommer und Frühherbst? Wer oder was ist der Zeit- beziehungsweise Taktgeber? Wann beginnt die Brunft und wann endet sie? Fragen, die Generationen von Jägern und Jagdscheinanwärtern beschäftigten und weiterhin beschäftigen werden. In jedem Jahr, immer wieder.

Um sie zu beantworten, muss zunächst geklärt sein, was unter „Brunft“ zu verstehen ist. Das Wörterbuch der Jägerei von Walter Frevert, fraglos das deutschsprachige Standardwerk, wenn es um die Deutung jagdlicher Ausdrücke geht, beschreibt die Brunft als „die Begattung und die Begattungszeit allen Schalenwildes mit Ausnahme des Schwarzwildes (Rauschzeit)“, was der zoologischen Definition sehr nahe kommt. Die Brunft umfasst also sämtliche Segmente der Fortpflanzung oder Reproduktion mit Ausnahme der Tragzeit, des Setzens und der Kälberaufzucht. Und sie nimmt fraglos auch ohne das Röhren der Hirsche ihren Lauf, wenn auch weniger spektakulär. Redewendungen wie „schlechte Brunft“ oder „die Brunft ist ausgefallen“ beziehen sich folglich ausschließlich auf das Schreien der Hirsche. Doch hier geht es darum, wer oder was die Brunft im Sinne der Fortpflanzung auslöst und steuert. Die Beantwortung dieser Frage ist eindeutig: Hormone – jene körpereigenen und hochwirksamen Verbindungen, die, in besonderen Zellen gebildet und an die Körperflüssigkeit abgegeben, entfernt von ihrem Entstehungsort quasi als Botenstoffe die Funktion von Zellen oder Organen in spezifischer Weise steuern. Die Geschlechtshormone werden in den Keimdrüsen, den Brunftkugeln (Hoden) und Eierstöcken gebildet. Sie sind es, die letztlich das komplette Geschlechtsleben – inklusive der Ausbildung sekundärer Geschlechtsmerkmale, zum Beispiel des Geweihes – steuern. Ihre vermehrte Produktion beziehungsweise ihr Ausstoß oder ihre Reduktion wiederum werden über die Tageslänge, die Zeit zwischen Sonnenauf- und -untergang, gesteuert. Dies ist der Grund, warum die Rotwildbrunft zum Beispiel in Argentinien etwa Mitte März beginnt. Die Einbürgerung in Argentinien erfolgte mit Rotwild aus den Karpaten in den Jahren 1910 und 1911. Doch zurück nach Mitteleuropa.

 

Die Kämpfe können jetzt schon über das „Scherzen“ hinausgehen

Zur Chronologie: Vor der Brunft zerfallen zunächst die Feisthirschrudel. Ihre Mitglieder befinden sich körperlich jetzt in bester Verfassung, vergleichbar mit einem vollgeladenen Akku. Es sind in der Regel die alten Hirsche – sofern nicht als Einzelgänger unterwegs –, die sich zuerst aus dem „Männerbund“ verabschieden. Der Auslöser ist ihre gesteigerte Unruhe, Unverträglichkeit, Aggressivität und Angriffslust gegenüber ihren Geschlechtsgenossen, die wiederum auf einen erhöhten Testosteron-Ausstoß am Ende der Feistzeit zurückzuführen sind. Die Kämpfe mehren sich und können schon jetzt über das so genannte „Scherzen“ hinaus gehen.

Ihre Wechsel führen die Hirsche in die individuell bevorzugten Brunftgebiete, die von den Feisteinständen weit entfernt liegen können und häufig über Jahre hinweg immer wieder zielgerichtet angesteuert werden. In Ausnahmefällen ziehen Rothirsche über mehr als 100 Kilometer alljährlich in ihr angestammtes Brunftgebiet. In der Regel sind die zurückgelegten Strecken aber deutlich kürzer und umfassen häufig nur wenige Kilometer. Dort suchen die Hirsche „ihre“ Kahlwildrudel, ziehen mit diesen zur Äsung und bewinden den Genitalbereich der weiblichen Stücke, ihre Betten, Fährten und Losung. Das Kahlwild ist in dieser frühen Phase wohlgemerkt noch nicht brunftig – Ausnahmen bestätigen die Regel. In diesem Anfangsstadium der Brunft trennt sich der Hirsch noch regelmäßig vom Rudel, um etwas abseits seinen Einstand zu beziehen.

 

Unzutreffene These

Es sind also zuerst die Hirsche, die ihrerseits Verhaltensweisen zeigen, die ohne jeden Zweifel der Brunft beziehungsweise der Fortpflanzung zuzuordnen sind, bevor die Schmal- und Alttiere in die Brunft „einsteigen“. Die immer wieder zu hörende These, das Brunftverhalten der Hirsche würde allein durch die Brunftigkeit oder Fortpflanzungsbereitschaft des Kahlwildes induziert, ist also unzutreffend. Ein weiteres Indiz dafür ist, dass Hirsche auch ohne Kahlwild schreien, was besonders auf junge und mittelalte Hirsche zutrifft. Es ist also ein Wechsel im eigenen Hormonhaushalt der das Brunftverhalten der Hirsche einleitet, und nicht – wie vielfach angenommen – die Geschlechtsduftstoffe (Pheromone) die an das weibliche Geschlechtshormon Östrogen gekoppelt sind und im Zyklus von Alt- und Schmaltieren mit dem Harn ausgeschieden werden.

 

Der quergestellte Wedel

In der Folgezeit werden dann die ersten Alt- und Schmaltiere brunftig. Erst jetzt steht der Platzhirsch permanent beim Rudel, verteidigt es gegen Rivalen und hält es zusammen, er „rudelt“. Versucht ein Tier sich vom Rudel zu entfernen, treibt der Hirsch es zurück. Im Laufe der nächsten Tage werden nun immer mehr Tiere brunftig und die Brunft erreicht ihren Höhepunkt. Die Zykluslänge des weiblichen Rotwildes umfasst etwa 18 Tage, das heißt, kommt es bei der ersten Ovulation nicht zur Befruchtung der Eizelle, folgt nach etwa 18 Tagen eine weitere.

Ein untrügliches Zeichen des brunftigen, paarungsbereiten Stückes Kahlwild ist der hoch- oder quergestellte Wedel. Die paarungsbereiten brunftigen Stücke weichen dem Werben des Hirsches – der Hirsch läuft mit vorangestrecktem Haupt auf das Tier zu – nicht weiter aus. Nicht brunftige Stücke gehen dem Hirsch aus dem Weg. Sie laufen vor ihm fort und versuchen sich seiner zu entledigen. Wobei die Verfolgung durch den Hirsch meistens nicht sehr weit geht. Der jägersprachliche Begriff des „Treibens“ ist in diesem Zusammenhang unzutreffend, da der Hirsch dem brunftigen Stück lediglich nachläuft, es aber nicht vor sich hertreibt. Eine umfassende Arbeit über die Interaktionen während der Brunft lieferte Wilfried Bützler (1974).

 

Bei Konfrontationen gaben die Hirsche Fersengeld

Foto: Juergen Weber

Die Platzhirsche begrenzen ihre Aktivitäten in der Hochbrunft fast ausschließlich auf den (innerartlichen) Kampf- und die Fortpflanzung. Die Feindvermeidung und Äsungsaufnahme treten offenbar in den Hintergrund. Dies scheint der Grund für teilweise aggressive Verhaltensweisen der Hirsche auch gegenüber Menschen zu sein. Doch habe ich den Eindruck, dass dies von der jeweiligen Bejagungsintensität, also vom Umfang dessen abhängt, ob und in welchem Umfang der Hirsch uns Menschen wirklich als Feind wahrnimmt.

So hatte ich während eines Steinwild-Forschungsprojektes im Nationalpark Berchtesgaden mehrfach sehr nahe Begegnungen mit Brunfthirschen, die unzweifelhaft drohten und häufig erst nach lautem Rufen und gezielten Steinwürfen den Platz räumten oder besser den Steig freigaben. In „normal“ oder intensiv bejagten Rotwildpopulationen Deutschlands oder Osteuropas habe ich derartige Beobachtungen bisher nicht gemacht. Bei unmittelbaren Konfrontationen gaben die Hirsche hier wie dort ausnahmslos und sofort Fersengeld. Allerdings ist häufig unklar, ob die Flucht tatsächlich vom Hirsch selbst ausgeht, oder er sich nicht eher vom Kahlwild quasi mitziehen lässt, was zweifelsohne immer dann der Fall ist, wenn man beim Angehen des Hirsches auf unbemerktes Kahlwild läuft.

 

Eine Spanne vom 28. August bis zum 11. September

Der zeitliche Verlauf und die Länge der Brunft ist offenbar an ein komplexes Faktorengefüge gekoppelt und lässt sich nicht exakt vorhersagen oder nachvollziehen. So verschiebt sich der Beginn der Rotwildbrunft in einem gewissen Rahmen von Region zu Region aber auch vor Ort alljährlich um einige Tage oder Wochen. Eigene Beobachtungen und Aufzeichnungen aus Revieren der Lüneburger Heide zeigen eine Spanne vom 28. August bis zum 11. September – bezogen auf das erste Melden der Hirsche. Einem ersten Aufflackern der Brunft folgten einige Tage (bis zu zwei Wochen) Ruhe um dann etwa ab dem 15. bis 20. September „in die Vollen“ zu gehen.

 

Brunft scheint mit zunehmender Höhe sich zu verschieben

Der Harzer „Rotwildvater“ Kurt Reulecke beschreibt für das größte norddeutsche Mittelgebirge einen ähnlichen Verlauf: „Im Harz konnte ich in jedem Jahr Hirsche schon Ende August schreien hören. Diese Einstimmung endete in den ersten Septembertagen. Danach schrien die Hirsche etwa ab dem 15. September. Der Höhepunkt wurde in der Regel vom 25. September bis zum 5. Oktober erreicht.“ Revieroberjäger Bernd Bahr (Bad Berleburg) schildert für die Reviere der Wittgenstein-Berleburg’schen Rentkammer (400 bis 800 m ü. NN) im Hochsauerland einen kompakten Verlauf von etwa Mitte bis Ende September. Allgemein scheint sich die Brunft mit zunehmender Höhe nach hinten zu verschieben. So erstreckt sich die Rotwildbrunft in den höheren Lagen der bayerischen Alpen immer weiter in den Oktober hinein.

 

Viele unterschiedliche Faktoren spielen eine wichtige Rolle

Insgesamt spielen für den Beginn, den Höhepunkt und das Ende der Brunft viele Faktoren eine unterschiedlich wichtige Rolle. Im Vordergrund steht die Äsungssituation und daran gekoppelt die Kondition des Rotwildes. In guter körperlicher Verfassung befindliches Kahlwild wird eher brunftig als schwaches, und starke, alte Hirsche sorgen im allgemeinen für einen zeitigen Beginn und einen kompakten, kurzen Ablauf der Brunft. Gesicherte Beispiele für vereinzelten Brunftbetrieb zu einem späteren oder anderen Zeitpunkt im Jahr finden sich in der Rotwild-Literatur in großer Zahl und belegen

Der Brunfthirsch versucht, sich in der zur Verfügung stehenden Zeit mit möglichst vielen Stücken Kahlwild fortzupflanzen -nichts anderes ist sein Ziel. Foto: Markus Lück

die ganzjährige Fortpflanzungsfähigkeit der Hirsche. Diese Beobachtungen belegen eine durch einzelne brunftige Tiere induzierte Brunft zum Beispiel für die Monate November, Dezember, Januar, Februar und Juli (Wagenknecht, 1986; Reulecke, 1988). Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass ein brunftiges Tier in jedem Monat des Jahres erfolgreich beschlagen werden kann.

 

Allbekannte Weisheiten

Dass kühle, trockene und klare Witterung den Brunftbetrieb fördert, und warme, regnerische Wetterlagen diesen mindern, wurde uns allen schon im Rahmen der Jägerprüfung mit in die jägerische Wiege gelegt. Diese allbekannte Weisheit bezieht sich aber nur auf das Schreien der Hirsche und wirkt sich wohlgemerkt nicht auf die Brunft im Sinne der Fortpflanzung und damit auf den Zuwachs einer jeden Rotwildpopulation aus. Denn dann befände sich das Rotwild in einer entwicklungsgeschichtlichen Sackgasse. Seine Bestände würden nach einigen Jahren mit feuchtwarmer Witterung zur Brunft spürbar in die Knie gehen, was sie bekanntlich nicht tuen – und das ist auch gut so!

 

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