ANZEIGE

Fährtenarbeit wie im Buche

2540


 

Uraltes Wissen:
Zur Arbeit des hirschgerechten Jägers gehört es, Fährten des Rotwildes richtig zu deuten. Wer aufgrund dieses Wissens den richtigen Geweihten streckt, beherrscht sein Handwerk.

 

Ludwig starrte in die Dunkelheit. Das Bein untergeschlagen, saß er mit dem Rücken an eine Zwillingsbuche gelehnt und wartete in der schwarzen Nacht auf das erste Büchsenlicht.

Immer wieder sank der Kopf auf die Brust, und im Halbschlaf wandelten Bilder von dem kleinen Jungen, der barfüßig bei Wind und Wetter Schafe und Ziegen hütete. Er spürte die Angst, wenn er von zu ausgiebigen Exkursionen auf verschiedenen Wildwechseln zur Herde zurückkam und fürchtete, dass wieder eines der Mistviecher stiften gegangen war. Ludwig hatte keine leichte Kindheit. Er wuchs im Armenhaus als eines von vier Geschwistern auf. Um einen Beitrag zur Familienernährung zu liefern, musste es als Hirte für seinen eigenen Unterhalt sorgen. Ständig in der freien Natur, entdeckte der Bengel bald seine Liebe zur Jagd. In der ärmlichen Zeit vor dem Weltkrieg gab es einige Dorfbewohner, die wilderten. Ludwig kannte die Schwarzgeher, ohne ein Wort über sie zu verlieren. Aber er lernte von ihnen: ihre Schliche und ihre Tücken der Wildüberlistung, und wenn es das Schlingenstellen war. Er begann damit, Pässe und Wechsel auszugehen, Fährten und Spuren zu lesen. Er wusste schnell, wo Wild wechselte und seinen Einstand hatte.

Dieses Wissen war auch dem Förster nicht entgangen, der den Buben am Rande des Staatsforstes oft antraf und zunächst misstrauisch beäugte. Aber Förster Hugenbucher mochte den schweigsamen, aber sehr pflichtbewussten kleinen Kerl einfach, der täglich am Försterhaus vorbeikam und die Ziegen auf die Weide führte. Oft verwickelte der Forstmann den Buben in Gespräche, die sich natürlich auch um die Jagd drehten, und wenn Hugenbucher beim Thema Rotwild angekommen war, konnte er mächtig ins Schwadronieren kommen. Sein Lieblingsthema war der hirschgerechte Jäger und die 72 hirschgerechten Zeichen, mit denen der Fährtenkundige Rotwild bestätigen konnte. Der kleine Ludwig hörte aufmerksam zu und saugte dieses Wissen in sich auf, natürlich nicht, ohne dies in der Praxis auch zu überprüfen. Ob er das Fährtenlesen von den Wilderern oder dem Förster gelernt hatte, das behielt Ludwig stets für sich. Der Interessierte erntete von dem Buben allenfalls ein vielsagendes, bescheidenes Lächeln, wenn er beim Ludwig etwas über seine Lehrmeister erfahren wollte.

Die Förster hüteten ihre Hirsche wie Augäpfel

Im Kinderlachen fährt Ludwigs Kopf hoch. Immer noch lag die Suhle im Dunkeln, und weit weg fauchte ein Kauz. Schon um zwei Uhr hatte er sich auf´s Rad geschwungen, um ja rechtzeitig an der Suhle im Niederwald am Mönchsberg zu sitzen. Noch eine halbe Stunde brauchte es wohl, bis das erste Licht kam.

Warten zwischen Halbschlaf und Wirklichkeit. Gesichter, Kameraden lachten in Uniform. Glücklich war er nach dem großen Völkermorden wieder heimgekehrt. Hatte sich zunächst als Bauarbeiter verdingt, dann als Vorabeiter. Bald fiel er durch seinen Fleiß auf, wurde gefördert, besuchte Schulen und Kurse. In wenigen Jahren brachte er es zum Ingenieur, die das Land damals dringend brauchte. Er baute ein Häuschen, heiratete viel zu schnell, und er erfüllte sich den Traum seines Lebens, den Jagdschein, was nicht unbedingt zum ehelichen Glück beitrug. Wochenlang war er auf Baustellen unterwegs, und wenn er zu Hause war, drückte er sich auf der Jagd herum, die er mit dem örtlichen Tünchner zusammen gepachtet hatte.

Als am 10. August im trauten Heim wieder einmal Waschtag war und die Stimmung selbst Hund und Katz von der Bildfläche verschwinden ließ, packte Ludwig seine zerlegte Bockbüchsflinte in den Rucksack, hängte ihn ans Fahrrad, raunte etwas von: „man brauche nicht mit dem Abendessen auf ihn zu warten“ in den wäscheverhangenen Garten, und ohne eine Antwort abzuwarten, radelte er flugs auf der Landstraße der Au zu. Die Au, ein kleiner Weiler inmitten eines malerischen Tales. Links und rechts wurde der Einschnitt von Buchenwäldern gesäumt, in denen es damals noch gute Rotwildbestände gab. Manchmal sehr zum Verdruss der Bauern, die oft ihre eh schon kärglichen Ernten mit dem Hochwild teilen mussten. Das Tal am Rande des Spessarts mit seinen Wiesen und kleinen Kartoffel- und Haferschlägen bildete zusammen mit einigen kleinen Waldparzellen eine rund 200 Hektar große Jagd. Den Förstern rings um dieses idyllische Tal war dieser Jagdbogen ein Greul, ragte er doch wie eine Zunge tief in den Staatswald hinein. Jeder Schuss wurde argwöhnisch beäugt und auch kontrolliert. Schließlich könnte es ja sein, dass auf der Bauernjagd ein Hirsch geschossen würde, der nicht auf dem Abschussplan stand, und auf den legten die Förster großen Wert, hüteten sie doch ihre Hirsche wie Augäpfel.

Noch bevor Luwig die Au erreichte, radelte er langsamer. An der Straßenböschung, wo rechtsseitig schon das Staatsrevier begann, fährtete sich nicht selten ein Hirsch beim Ein- oder Auswechseln, denn in den Talwiesen stand saftiger Klee. Er hatte nicht umsonst aufgepasst. Eine mächtige Fährte stand in der weichen Böschung. Unweigerlich dachte er an die alte Jägerweisheit, die der Förster Hugenbucher immer gern und häufig zum Besten gegeben hatte:

– Das Oval vier Finger breit,
– Oberrücken spannenweit,
– Schalenspitzen seitenwärts,
– Balsam für das Jägerherz!
Sakrament, eine solche Fährte stand hier vor ihm.

Woher kam er

Wenige Minuten später kehrte er in das Au-Wirtshaus ein. Es gehörte einem ärmlichen Dorfwirt, der mit seinen Gästen eigentlich mehr knurrte als redete und tagein tagaus dieselbe schmierige Schürze trug. Noch war in der Nachmittagsstunde die verräucherte Wirtstube leer, und nachdem der Wirt Ludwig eine Flasche Bier auf den Tisch gestellt hatte, lümmelte er sich, eine Sicherheits-Tischlänge von Ludwig entfernt, auf einen Stuhl. „Die Hirsch ham wieder an Schaden g´macht. Des gibt a Rechnung“, begann er sein Lamento, das Ludwig alljährlich zu hören bekam. Er ließ sich das Hafer- und Kartoffelfeld beschreiben und packte noch unterm Jammern des Wirtes wieder seinen Rucksack auf. Noch vor dem Ansitz wollte er nach den Feldern sehen. Der Hafer sah böse aus. Sauber waren die Rispen vom Rotwild abgestreift worden. In dem trockenen Haferfeld waren nur alte Fährten auszumachen, über die man lediglich spekulieren konnte und die ein Buschmann in der Kalahari vielleicht noch hätte lesen können. Sie beherrschen ja diese tägliche Pflichtlektüre, von der Wissenschaftler sagen, dass sie einst die Basis unserer Lesefähigkeit war. Der Siegeszug des Homo sapiens begann, als er nicht nur das Abc des Fährtenlesens beherrschte, sondern als zum Wissen noch die Fantasie, zur Beobachtung die Spekulation hinzutrat, die eine Vorhersage über das Verhalten der Beute ermöglichte. Der Mensch, eigentlich körperlich nicht sonderlich gut ausgestattet, konnte erst zum erfolgreichen Jäger werden, als eine wesentliche Waffe hinreichend geschärft war: sein Verstand. Während der Buschmann die winzigen Trittbilder tag- und nachtaktiver Mäuse auseinanderhalten und beispielsweise auch die Fußabdrücke der meisten ihm bekannten Menschen erkennen kann, und allein aus Lage der Urinlache männliches und weibliches Wild unterscheidet, sind die Fähigkeiten des mitteleuropäischen Jägers geschrumpft. Durch Hilfsmittel wie Büchse und Hunde ist er längst nicht mehr auf den ursprünglichen Spürsinn angewiesen. Die letzte Blüte der Fährtenkunst entwickelten die Hofjäger des Barock, die Rotwild auf den Wechseln und anhand von Fährtenbildern bestätigten mussten. Sie schrieben die gerechten Zeichen für den hirschgerechten Jäger fest.

Nun, Ludwig war weder Buschmann noch Hofjäger, aber er hatte Gespür für das Wild, Fantasie und eine scharfe Beobachtungsgabe. Im Haferfeld fand er einige Kränze (Auf hartem Boden sind nur die Ränder der Schalen zu erkennen), die ihm zumindest anzeigten, dass das Wild Richtung Kartoffeln gezogen war. Wen er vor sich hatte, sah der Jäger deutlicher im zerwühlten Kartoffelfeld. Zwei Hirschfährten standen auf dem kleinen Acker. Der eine, ein junger Geweihter, der deutlich beim Ziehen übereilte, das heißt den Hinterlauf vor den Vorderlauf setzte. Die zweite Fährte erkannte Ludwig sofort wieder. Es musste der Hirsch von der Böschung sein. Er zeichnetete sich durch eine Schrittweite um die 70 Zentimeter aus, und setzte – offensichtlich stark im Feist stehend – die Hinterläufe hinter die Eindrücke der Vorderschalen. Dass der Recke kein Leichtgewicht war, in der Feiste nicht nur schwer zugelegt hatte, sondern auch betagt war, zeigte der mächtige Schrank. Die stumpfen Schalenspitzen wiesen nach außen. Kein Zweifel, diese Fährte musste einem alten, starken Hirsch gehören. Nur woher kam er und wohin zog er? Ludwig fahndete zunächst am hangwärts gelegenen Waldrand. Doch in der trockenen Buchenstreu wurde er nicht fündig. Eine halbe Stunde suchte er in der Hitze des frühen Abends nach dem Abgang der Hirsche. Vielleicht war er ja über die Kleewiesen und die Straße, über die er gekommen war, auch wieder eingewechselt? Der Jäger kontrollierte den Bachrand. Zunächst nichts. Doch einige geknickte Schachtelhalme verrieten den Heimlichen. Ein Bleizeichen (Entsteht durch Tritt auf hartem Untergrund) auf den Steinen der Uferböschung! Der Knoten war endlich gelöst.

Am Rande einer dieser Suhlen fand er die Fährte des Geweihten wieder

Ludwig schwang sich aufs Rad, um Gewissheit zu bekommen. Er radelte Richtung Mönchsberg, einem kleinen Stück Gemeindewald am Rande des Talgrundes, der noch zur Jagd gehörte. In dem Hang des mit Niederwald bestockten Mönchsberges lagen einige feuchte Terrassen, in denen das Wild gerne suhlte. Am Rande einer dieser Suhlen fand er die Fährte des Geweihten wieder. Der Hirsch war also vom Staatswald über die Straße in das Au-Revier eingewechselt, hatte den Bach überfallen, war über den Klee ins Haferfeld gezogen, hatte danach den Kartoffelacker aufgesucht, war aber nicht in den nahen Buchenhang eingezogen, sondern ging den Wechsel fein sauber über den Bach zurück, um vor dem Einzug in den Tageseinstand noch zu suhlen. So musste es abgelaufen sein. Der Wind stand beständig, und der Fährtensucher, der sich seiner Sache sicher war, richtete sich in der Nähe der Suhle an einer Zwillingsbuche einen Stand, den er auch bei Dunkelheit wieder finden würde. Denn eines schien ihm sicher: Nur im Holz hatte er die Chance, den Hohen noch bei einigermaßen Licht in Anblick zu bekommen. Denn noch vor Tau und Tag hat der Feisthirsch seinen Besuch im Feld abgeschlossen, und ihn dort bei Nacht zu beschleichen, schien dem Jäger ziemlich aussichtslos.

Eine Arbeit

Ein Knacken ließ das Herz Ludwigs einen Sprung machen und augenblicklich riss es ihn aus seinem Halbschlaf hoch. Die Konturen der ersten Bäume um ihn herum waren deutlich geworden, während er noch vor sich hindämmerte. Dann ein Geräusch, jenem ähnlich, das entsteht wenn man den Stiefel aus sumpfigem Untergrund zieht. Dann eine lange, lange Pause! Erst nach Minuten dann Platschen, Pfauchen und Blasen. Kein Zweifel, der Geweihte war vor ihm in der Suhle, keine 25 Schritt entfernt. Aber es war nichts zu sehen! Er strengte seine Augen an. Fünf, sechs Bäume in Richtung Suhle konnte er erkennen. Ist die Suhle weiter rechts oder links? Ein Quatschen und Schütteln ließ Ludwig den Schaft seiner Bockbüchsflinte fester umklammern. War da was Dunkles an der Suhle? Ein Schnauben und das Bild vergrößerte sich. Der Fleck wuchs und wurde breiter. Fast lautlos kam er näher. Zum Greifen nah defilierte der mächtige Geweihte an ihm vorbei. Kimme und Korn waren nicht zu sehen. Die Büchse fest angezogen, es durften weniger als zehn Schritte zum Hirsch sein. Ludwigs Puls hämmerte so laut, dass er befürchtete, der Hirsch könnte seinen Herzschlag vernehmen. Konnte der Schuss auf diese Entfernung überhaupt vorbeigehen?

Im Knallen und Verhallen des Schusses polterte und krachte es. Auch wenn er sich nicht sicher über das genaue Abkommen war, auf die Entfernung durfte der Schuss nicht fehlgegangen sein. Noch eine halbe Stunde verharrte der Schütze an seiner Zwillingsbuche, gepeinigt von Zweifeln, Zittern und Zagen. Unnötig wie sich herausstellte: 60 Schritte von der Suhle entfernt lag ein alter ungerader 14-Ender mit mächtigen Augsprossen. 190 Kilogramm brachte der Recke auf die Waage. Der nachhaltige Neid der Jagdnachbarn war ihm sicher. Aber Ludwig war überzeugt, dass er diesen Hirsch verdient hatte. Verdient durch seinen Instinkt und durch die saubere Fährtenarbeit, die er geleistet hatte. Eine Arbeit, wie sie im Buche steht.

 


ANZEIGE
Aboangebot