Gewitter-Forschung:
Wie gefährlich ist es tatsächlich, bei einem Gewitter auf der Kanzel zu bleiben? Oder mit der Waffe zum Auto zurück zu marschieren? Diesen Fragen ist ein Forscher jetzt nachgegangen – hier sind die Ergebnisse seiner Untersuchung.
Sitzen Sie im freien Feld auf eine Kanzel und ein Gewitter kündigt sich an, dann heißt es sofort abbaumen, die Gefahr eines Blitzeinschlages ist zu groß |
Von Bernd Liening
Pfingstsonntag gegen 15 Uhr im Sauerland: Der Himmel zieht sich langsam zu, es ist drückend schwül geworden. Typische Gewitterluft. Noch besteht indes keine Eile, den Reviergang abzubrechen. Kein fernes Grummeln, keine ausgeprägte Gewitterwolke, kein Wetterleuchten am Horizont. Nur diese Stille. Da rollt urplötzlich von Westen ein schwarzes Wolkengebirge heran, im nächsten Augenblick ist alles dicht. Schlagartig setzen Sturmböen ein und treiben einen eiskalten Wolkenbruch über den Gerstenschlag, der stockdunkel daliegt. Es kracht und blitzt aus allen Rohren – das Gewitter steht mitten über uns.
Tief „Nikolaus“ kam wie aus dem Nichts und fiel über ganz Deutschland her, wobei es die schwersten Schäden in Nordrhein-Westfalen anrichtete. Zwölf Tote sind die traurige Bilanz an diesem Pfingstsonntag. Es war eines der schlimmsten Gewitter, das der Deutsche Wetterdienst in den letzten Jahren registriert hatte. Wer beim Pirschgang oder auf der Kanzel von einem Himmelsfeuer dieses Kalibers überrascht wird, der fragt sich unwillkürlich: „Verdammt, was nun?“ Unterm Dach der Kanzel bleiben oder besser abbaumen? Schnell zum sicheren Auto laufen – aber mit der Waffe auf dem Rücken?
Der Dortmunder Hochspannungstechniker Prof. Dr. Dirk Peier, selber Jäger, hat die komplexe Lehre vom Gewitter einmal gründlich sortiert und jetzt einen Leitfaden „Verhalten des Jägers bei Gewitter“ erstellt. Peier: „Das Thema wird zwar bei der Jägerausbildung nicht behandelt, es kann aber möglicherweise lebensrettend sein, denn der Jäger, insbesondere der Berufsjäger, wird bei Gewitterdrohung selten die Freiheit haben, den anstehenden Reviergang zu verschieben.“
Ein Mensch oder ein Gegenstand wird nicht rein zufällig vom Blitz getroffen
Um messtechnisch abgesicherte Ergebnisse zu erhalten, hat Prof. Dr. Peier an seinem Lehrstuhl für Hochspannungstechnik in Dortmund mit Hilfe eines Blitzgenerators festgestellt, wie gefährlich das Tragen einer Waffe im Gewitter wirklich ist.
„Um sich im Gewitter sicher zu verhalten“, betont der Hochspannungstechniker, „hilft es, wenn man den grundlegenden Mechanismus der Blitz-Entstehung im Hinterkopf hat.“ Denn ein Mensch oder ein Gegenstand wird nicht rein zufällig vom Blitz getroffen, sondern zieht diesen mit einer so genannten „Fangentladung“ aktiv an. Der typische Ablauf sieht so aus: Eine Gewitterwolke bildet in ihrem unteren Bereich hohe negative elektrische Ladungen. Mit ihrer relativ kurzen Distanz zur Erde sorgt sie gleichzeitig dafür, dass die positive Ladung der Erdoberfläche extrem ansteigt und mit Werten zwischen 1 000 und 5 000 Volt/m „Gewitter-Feldstärke“ erreicht. Normal sind am Boden 100 bis 200 Volt/m (Schönwetter-Feldstärke).
Kommt es durch die starken Luftturbulenzen in der Gewitterwolke zur geballten Ansammlung negativer Ladung auf ihrer Unterseite, dann springt von hier zunächst ein Leitblitz ab. Hat der Leitblitz Erdnähe erreicht, so wächst ihm von einem Punkt mit besonders hoher positiver Feldstärke eine „Fangentladung“ entgegen. Fangentladung und Leitblitz bilden beim Zusammentreffen den Blitzkanal. Jetzt wird es spannend – und gefährlich: Durch diesen Blitzkanal rast dann der eigentliche Hauptblitz, dem weitere Blitze im selben Kanal folgen können. Die tödlichen Stromstärken, die dann zwischen Erde und Wolke fließen, betragen bis zu 100 000 Ampere.
Fazit: Der Blitz als solcher ist durch nichts zu verhindern. Da aber der Einschlagort zwingend über die Fangentladung festgelegt wird, lautet die wichtigste Schutzregel: Vermeide es, Ausgangspunkt einer Fangentladung zu werden!
Am sichersten ist es
Jäger im Gewitterfeld: Fangentladungen werden durch sehr hohe punktuelle Feldstärken ausgelöst. Da es beim Gewitter in der Regel regnet, wirkt ein Mensch wie ein schlanker metallischer und geerdeter Körper. Mit Computer-Simulationen hat Prof. Dr. Peier ermittelt, dass im Kopfbereich die höchste Feldstärke herrscht. Ob nun vom Jäger eine Fangentladung abgehen kann, hängt davon ab, um wieviel höher seine Feldstärke gegenüber der Feldstärke am Boden ist. Der aufrechte Mensch besitzt nach den Messergebnissen einen Verstärkungsfaktor von etwa zwölf bis 15. Am sichersten ist es, in einer Bodenmulde in die Hocke zu gehen. Das ergibt einen Wert zwischen eins und zwei. Lampe hat schon immer instinktiv das Richtige gemacht.
Die Waffe liefert Feldverstärkungen
Langwaffen haben es in sich: Die spezielle Wirkung einer Langwaffe im Gewitter hat Prof. Dr. Peier im Labor mit Hilfe eines Blitzgenerators untersucht. Dazu wurde ein 60-Zentimeter-Lauf mit etwa zwei Zentimeter Durchmesser herangezogen. Ferner wurde angenommen, dass der Lauf über den (nassen) Jäger geerdet ist.
Ergebnis: An der nach oben zeigenden Mündung liegt eine extreme Feldstärke an, die zu einem Verstärkungsfaktor von 130 führt! Auch bei waagerechter Tragweise – zwar unwaidmännisch, aber im Gewitterregen möglicherweise tolerierbar – sind die Feldverstärkungsfaktoren an beiden Enden gleich und betragen 50. Das heißt: Unabhängig von ihrer Tragweise liefert die Waffe Feldverstärkungen, die die des Menschen weit übertreffen. Prof. Dr. Peier: „Anders ausgedrückt, ist die Gefährdung des Jägers gut zehn mal höher als die des Wanderers am gleichen Ort, was mit dem scharfen metallischen Ende der Waffe zusammenhängt.“ Bedeutet das nun, dass der vom Gewitter überraschte Jäger seine Waffe am besten im Revier zurücklässt, wenn er sich zum Rückzug entschließt? „Nein“, sagt Prof. Dr. Peier, „der Jäger kann die kritischen Enden eliminieren.“ Der Ingenieur hat die Lösung im Labor gleich mit entwickelt: Man schiebt über die Mündung einfach einen kleinen Ball mit elektrisch leitfähiger Oberfläche, etwa einen innen und außen mit Bronzefarbe besprühten Tennisball. Dann sinkt das theoretische Gefährdungspotential auf die Größenordnung eines unbewaffneten Menschen.
Die für den Laien erstaunliche Wirkung eines solchen simplen „Mündungsballes“ wurde im Hochspannungslabor der Uni Dortmund unter Beweis gestellt: Im Gewitterfeld der Anlage befanden sich im Abstand von 50 Zentimetern zwei gleichartige Laufnachbildungen, eine davon mit Ball. Die Blitze schlugen stets in den freien Lauf ein.
Sofort abbaumen!
Bäume und Kanzeln im Gewitter: Ein freistehender Baum bietet unter seiner Krone mehr Schutz, als wenn man sich im freien Feld bewegt. Aber: Er ist selbst ein bevorzugtes Ziel. Schlägt der Blitz ein, wird es gefährlich: Der Stamm kann explodieren, der Blitz kann vom Stamm überspringen oder man erwischt über die Füße einen Schlag durch die „Schrittspannung“. Der sicherste Aufenthaltsort ist rund fünf Meter vom Stamm entfernt. Dabei die Füße unbedingt geschlossen halten!
Ist ein geschlossener Waldbestand in der Nähe, dann gibt es dort zwei sichere Plätze: Mitten im Bestand und etwa eine halbe Baumlänge vom Waldrand entfernt, im so genannten „Feldschatten“. Achtung: Ein Aufenthalt am Waldrand direkt unter den Kronen ist gefährlich. Denn der Waldrand ist gegenüber dem geschlossenen Bestand deutlich stärker blitzgefährdet.
Für Hochsitze, auch für geschlossene Kanzeln, gibt es nur eine Regel beim Gewitter: Sofort abbaumen! Hochsitze weisen als relativ schlanke Gebilde hohe Feldverstärkungsfaktoren auf. Befindet sich der Jäger auf der Kanzel, muss sein Faktor sogar mit dem der Kanzel multipliziert werden, was dann zusammen schnell einen Wert von 50 ergibt. Mit einer Waffe wird die Gefahr nochmals deutlich erhöht.
Prof. Dr. Peier warnt ausdrücklich davor, das Risiko von Kanzeln, vor allem von freistehenden, im Gewitter zu unterschätzen. „Das oft benutzte Argument, der leere Hochsitz sei in den letzten zehn Jahren nicht vom Blitz getroffen worden und könne deshalb bei Gewitter nicht so gefährlich sein, ist falsch. Es gilt die Multiplikationsregel. Erst durch seine Benutzung wird der Hochsitz zum besonders gesuchten Einschlagort.“
Grundsätzlich lassen sich all diese Erkenntnisse auf zwei Hauptregeln verdichten:
– Den eigenen Feldverstärkungsfaktor reduzieren. (Im freien Feld in die Hocke, Waffe entfernt ablegen oder Mündungsball drauf, von der Kanzel abbaumen).
– Rein in den Wald oder eine halbe Baumlänge vom Waldrand entfernt aufhalten.
Bei Laborversuchen mit Nachbildungen von Waffenläufen schlug der Blitz immer in den „Lauf“ ein, der keinen „Mündungsball“ – eine Art Blitzableiter – besaß |