Mit welchen Methoden lässt sich die Größe von Beständen von wiederkäuendem Schalenwild schätzen? Und welches Verfahren ist für welche Wildart und welches Revier geeignet? Prof. Dr. Sven Herzog kennt Antworten.
Das Einschätzen der Größe von Wildbeständen ist seit Jahrzehnten eines der am intensivsten und kontroversesten diskutierten Themen im Rahmen der Wildbewirtschaftung. In Mitteleuropa, insbesondere in Deutschland, standen bislang vor allem die Schalenwildbestände im Mittelpunkt des Interesses.
Foto: Dieter Hopf
Zunehmend treten aber auch andere Arten in den Vordergrund, etwa im Rahmen des FFH-Monitorings oder spezifischer Programme zu einzelnen Arten wie Luchs, Wildkatze oder Wolf. „Wild kann man nicht zählen“ ist ein immer wieder zitierter Satz, der – wörtlich genommen – natürlich Unsinn ist. Selbstverständlich können wir Wild zählen. Die Frage ist allerdings, inwieweit unsere Zählergebnisse auch mit der Realität, also dem tatsächlichen Bestand in einem bestimmten Gebiet, übereinstimmen. Die Motive für eine quantitative Erfassung von Wildbeständen sind verschieden: Während die einen eine Übernutzung, ja vielleicht sogar das langfristige Verschwinden einer Art fürchten, haben die anderen große Sorge vor „zu hohen“ Beständen. Und da uns die menschliche Wahrnehmung in vielerlei Hinsicht gerne Streiche spielt, führt das dann schnell zu Konflikten über etwas, das wir nicht wissen, sondern allenfalls ahnen können. Hier helfen objektive Zahlen erfahrungsgemäß erst einmal, Streitpunkte zu versachlichen. Traditionell erfolgte eine Wildzählung im Winter an Fütterungen oder im Frühjahr an festgesetzten Tagen durch Jäger vom Ansitz aus. Während die Erfassung an Fütterungen, dort wo feste Futtertraditionen existieren, durchaus brauchbare Ergebnisse liefern kann, verliert die Ansitzzählung im Frühjahr an Bedeutung.
Das Problem: Bei ihr wird der Bestand regelmäßig unterschätzt. Mit der Zunahme von Drück- und Stöberjagden auf Schalenwild wird dem gegenüber die Sichterfassung bei Bewegungsjagden mehr und mehr genutzt. Diese Methode ist in der Hand des erfahrenen Anwenders durchaus brauchbar. Fehlerhaft angewandt kann sie allerdings zu groben Fehlern, sowohl im Sinne einer deutlichen Über- als auch einer Unterschätzung des Bestandes führen. An dieser Stelle stellt sich auch die Frage, auf welche räumliche Einheit wir den „Bestand“ beziehen. Jedem ist klar, dass es in einem 75-Hektar-Revier keinen Sinn macht, einen Rot- oder Schwarzwildbe stand zahlenmäßig zu erfassen, auch wenn die jagdliche Verordnungsgebung das gelegentlich bis heute fordert. Einen Rehwildbestand wiederum könnte man aufgrund der territorialen Lebensweise des Rehwildes im Sommerhalbjahr durchaus auch auf kleineren Flächen, etwa mit recht aufwendigen Zähltreiben oder Fang-Wiederfang-Methoden, orientierend ermitteln. Wichtig ist, dass Wildart, zugrunde liegende Fläche und Erfassungsmethode zusammenpassen. Der traditionellen „Zählung“ am nächsten verwandt sind Methoden der direkten Sichtbeobachtung wie Scheinwerfertaxation oder Erfassung mit Nachtsicht einschließlich Infrarottechnik. Diese Methoden sind allerdings nur für von Natur aus nachtaktive Arten im Offenland (z. B. Feldhase) wirklich geeignet. Schalenwild in Mitteleuropa auf diese Weise zu erfassen, ist wenig sinnvoll und liefert kaum verlässliche Werte.
Die Frühjahrszählung vom Ansitz aus ist für alle wiederkäuenden Schalenwildarten grundsätzlich möglich. Allerdings werden bei dieser Schätzvariante die Bestände regelmäßig niedriger bewertet als sie de facto sind. Foto: Archiv
Auch wenn Doppelzählungen nicht auszuschließen sind, fördern diese Verfahren wie die meisten Erfassungsmethoden tendenziell das Unterschätzen des lokalen Bestandes. Ähnliche Probleme weisen die derzeit gelegentlich propagierten Befliegungen auf. Die Zählungen aus dem Flugzeug sind in offenen Savannenlandschaften eine hervorragende Methode zur Huftiererfassung und auch geeignet, Wasserwild in strengen Wintern an den verbliebenen eisfreien Gewässern zu zählen. In mitteleuropäischen Landschaften mit einem mehr oder minder großen Waldanteil stößt die Methode aber sehr schnell an ihre Grenzen.
Foto: Prof. Dr. Sven Herzog
Eine methodische Weiterentwicklung ist der zusätzliche Einsatz eines Infrarot-Videos. Die IR-Kamera reagiert auf Wärmestrahlung und macht Temperaturunterschiede deutlich. Die Erfahrung zeigt allerdings, dass auch diese Methode nur im Offenland bezeihungsweise bei minimaler Belau-bung zuverlässig funktioniert. Das Verfahren sollte daher nicht in bewaldeten Gebieten eingesetzt werden.Ein altbewährtes und dennoch recht aussagefähiges Verfahren ist das Abfährten bei Neuschnee. Hierbei wird der natürliche Tagesrhythmus des Wildes innerhalb seines Streifgebietes genutzt. Es wird bei dieser Methode alles Wild, welches einen definierten Erhebungssektor verlassen oder betreten hat, nach Art, Gruppengröße und zusammensetzung erfasst. Dies ergibt einen Saldo: Wenn zehn Individuen in den Erhebungssektor hinein- und vier aus ihm herauswechselten, beträgt der Saldo „plus sechs“. Möglich ist aber auch, dass mehr Individuen im Sektor sind. Alle positiven Saldi sämtlicher Erhebungssektoren eines Untersuchungsgebietes werden zusammengefasst, sodass wir hierbei ausschließlich Mindestbestandszahlen erheben.
Die abzufährtenden Sektoren sollten möglichst 60 – 120 Hektar (ha) nicht unter- bzw. überschreiten, um Doppelzählungen durch Beunruhigung zu vermeiden, aber gleichzeitig möglichst viele Querungen über die Grenzen der Zählsektoren zu erhalten. Unter günstigen Wegebedingungen werden für eine Fläche von circa 5 000 – 8 000 ha etwa zehn Personen und fünf Fahrzeuge einen Tag lang benötigt. Innerhalb eines Winters sollten jeweils zwei Aufnahmen angestrebt werden. Der entscheidende Nachteil ist, dass die Fährtenerfassungen logistisch aufwendig und ausgesprochen witterungsabhängig sind. Sie benötigen Neuschnee unter ganz bestimmten Rahmenbedingungen, sodass das Verfahren nicht unbedingt jedes Jahr und in einigen Regionen praktisch gar nicht durchführbar ist. Sind etwa Sandwege in Heidegebieten vorhanden, kann durch Abschleppen der Wege ein ähnlicher Effekt erzielt werden. Die Unterscheidbarkeit sehr ähnlicher Fährtenbilder, etwa zwischen Rot- und Damwild, ist meist nicht sicher möglich.
Eine ähnlich aufwendige Erfassungsmethode, welche die Fährtenerfassung sehr gut ergänzt, ist die Wildlosungszählung. Dabei werden auf systematisch verteilten Probeflächen die vom Wild abgesetzten und nach Wildart und Menge bestimmten Exkremente erfasst. Bei Vergleichen über mehrere Jahre ist allein durch die Anzahl der gefundenen Losungshaufen eine Bestandsschätzung möglich. Allerdings sind für jede Wildart und jedes Untersuchungsgebiet umfangreiche Voruntersuchungen erforderlich. Darüber hinaus muss dieses Verfahren ebenso wie die Untersucher selbst regelmäßig geeicht werden, um brauchbare Ergebnisse zu erzielen. Auch hier ist die Unterscheidung zwischen zum Beispiel Rot- und Damwild meist nicht möglich. Die Aufnahmen der Wildlosungszählung finden beispielsweise vierteljährlich statt, wobei in der Praxis der Wintertermin wegen Schneelagen oft ausfällt bzw. durch Fährtenaufnahmen ersetzt wird. Die Vorteile des Verfahrens liegen in der relativen Witterungsunabhängigkeit der Aufnahmen und der längerfristigen Planbarkeit. Die Wahrscheinlichkeit, die abgesetzten Exkremente aufzufinden, schwankt in Abhängigkeit von Biotoptyp und Jahreszeit. Es ist davon auszugehen, dass auf Flächen mit geringem Bewuchs nahezu alle Wildlosungshaufen aufgefunden werden, jedoch bei stärkerer Vegetation aufwendig zu ermittelnde Korrekturfaktoren eingesetzt werden müssen.
Licht ins Dunkel: Scheinwerfertaxationen eignen sich vor allem für nachtaktive Offenlandarten wie den Feldhasen. Bei Schwarzwild liefert diese Methode allerdings kaum brauchbare Hinweise auf den Bestand. Foto: Karl-Heinz Volkmar
Damit eignen sich sowohl die Fährtenerfassung bei Neuschnee als auch die Wildlosungszählung gut für größere Gebiete, etwa die Fläche einer Hegegemeinschaft, eines Forstbetriebes oder eines Großschutzgebietes. Der hohe Aufwand an Personal beziehungsweise die damit verbundenen hohen Kosten prädestinieren diese Verfahren für spezielle Situationen, etwa wenn in einem Schutzgebiet die Bejagung eingestellt oder reduziert wird. Bei normalem jagdlichem Betrieb sind solche Verfahren dann sinnvoll, wenn man etwa die langfristigen Streckenstatistiken gelegentlich überprüfen will oder auch wenn Konflikte zwischen unterschiedlichen Interessengruppen beigelegt werden sollen, die sich ja oft an der Frage des Wildbestandes entzünden. Die derzeit wegen ihrer einfachen Durchführbarkeit ohne gesonderte Außenaufnahmen wohl am weitesten verbreiteten Methoden zur Ermittlung bejagter Wildbestände basieren auf dem Auswerten von Streckendaten. Wir benötigen also Angaben zu allem erlegtem Wild nach Wildart, Geschlecht und Alter. Mittels dieser Kennzahlen und einer Annahme über den jährlichen Zuwachs sind wir in der Lage, orientierend festzustellen, ob ein Bestand eher zu- oder abnimmt oder etwa in seinem Umfang konstant bleibt. Ohne hinreichend genaue Informationen bezüglich des aktuellen Gesamtzuwachses der Wildbestände im Untersuchungsgebiet, der natürlichen Mortalität sowie der Zu- und Abwanderungstendenz und der daraus resultierenden Bestandesveränderung lassen sich allerdings keine verlässlichen Angaben ableiten. Die gängigen mathematischstatistischen Streckenanalyseverfahren gehen meist vereinfachend davon aus, dass neben dem Zuwachs die Erlegung von Wild den größten Einfluss auf die Schalenwildpopulationen hat. Dies muss sicher mit dem Auftreten großer Prädatoren korrigiert werden. Entscheidend ist für die Zuverlässigkeit von Streckenanalysen auch, dass hinsichtlich der Jagdstrategien und Jagdmethoden sowie der Jagdintensität im Untersuchungszeitraum keine Änderungen erfolgen! Wie eingangs erwähnt, gibt es keine „beste“ Methode der Wildbestandserfassung und auch keine absolut zuverlässige. Bestandeserfassungen müssen daher immer auf die aktuelle Fragestellung zugeschnitten sein. Die Methodenübersicht (siehe unten) gibt einige Anhaltspunkte dazu. Entscheiden müssen die Verantwortlichen vor Ort unter Berücksichtigung der lokalen Verhältnisse. Externe Unterstützung durch eine unabhängige Institution ist dabei in vielen Fällen sicher erforderlich.