„Bleifreie Geschosse haben ein hohes Gefährdungspotenzial“ – dieses Stigma haftet den Kupfer und Messingprojektilen hartnäckig an. Die Deutsche Versuchs- und Prüfanstalt für Jagd- und Sportwaffen e. V. (DEVA) ging dieser Vermutung nach. Jetzt liegt das Gutachten vor.
Michael Schmid, Claudia Elbing
Schlingerkurs ist wohl der richtige Ausdruck, lässt man Diskussionen und Entscheidungen der vergangenen Jahre bezüglich bleifreier Büchsenmunition Revue passieren. Zuerst als
nicht-toxische Öko-Alternative gefeiert und in Brandenburg gar als „einzig selig machend“ in den Staatsforsten vorgeschrieben, gerieten die „Bleifreien“ plötzlich in die Kritik. Eine Reihe von Jagdunfällen ließ sicherheitstech nische Zweifel am Abprallverhalten aufkommen.
2006 wurde ein Brandenburger Jäger von einem Geschossrest (Barnes) in die Wade getroffen. 2008 starb bei Würzburg ein Drückjagdteilnehmer durch ein mehrfach abgelenktes ABC-Projektil. In beiden Fällen waren die Abprallwinkel ungewöhnlich hoch. Ein Zusammenhang mit der Verwendung bleifreier Munition wurde vermutet, konnte aber
nicht endgültig nachgewiesen werden. Berichte von Jägern über pfeifende Abpraller und ein beinahe Unfall auf einem Polizeischießstand brachten das Fass zum Überlaufen. Brandenburg verbot die Alternativgeschosse im Staatswald, und im ganzen Land fand sich vermehrt der Hinweis auf Drückjagdeinladungen: „Der Einsatz bleifreier Munition ist untersagt.“ Vermutungen und Spekulationen geisterten durch die Medien. Ein hand fester Beweis erhöhter Gefährdung stand jedoch aus. Im Rahmen einer wissenschaftlichen
Fachtagung der Freien Universität Berlin forderten verschiedene Verbände und Einrichtungen eine sicherheitstechnische Überprüfung bleifreier Büchsengeschosse.
Das Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz
beauftragte im April 2009 im Rahmen einer Ausschreibung die DEVA mit der Durchführung der Studie. Kompetenz ersetzt Gerüchteküche: Im September 2009 startete der groß
angelegte Versuch. Bis zur Abgabe des Gutachtens im Februar 2011 wurden mehr als 2 500 Schuss abgegeben. Ziel der Arbeit war die vergleichende Überprüfung des Ab- und Rückprallverhaltens bleihaltiger und bleifreier Geschosse. Für die technische Durchführung zeichnete die DEVA verantwortlich. Die Auswertung und wissenschaftliche Begleitung oblag dem international anerkannten Schweizer Ballistiker Dr. Beat Kneubuehl. Er leitet das Zentrum für forensische Physik/Ballistik (ZFPB) in Bern. Um möglichst allgemeingültige Aussagen treffen zu können, kamen der Kaliber und Geschossauswahl besondere Bedeutung zu. Als Rehwildkaliber ging die .243 Win. ins Rennen. Universalpatronen
wurden durch die .308 Win., Hochwildmunition durch die 9,3×74 R vertreten. Die Testprojektile sind ein repräsentativer Querschnitt durch die angebotene Konstruktionsvielfalt:
Bleihaltige Teilmantelgeschosse:
. RWS Kegelspitz-Geschoss (nicht gebondet, relativ dünne, nach hinten zunehmende Mantelstärke, Krimprille zur Mantel-Kern-Fixierung)
. Nosler Partition (nicht gebondet, stabiler H-Mantel mit zwei abgeschotteten Bleikernen. Vorderer Teil = Deformation und Zerlegung, hinterer Teil = Ausschuss)
. Brenneke TOG (starkwandiges, gebondetes Deformationsgeschoss mit hohem Restgewicht)
Bleifreie Vollgeschosse:
. Barnes TSX (in vier Fahnen aufpilzendes Kupfer-Deformationsgeschoss mit hohem Restgewicht)
. Reichenberger HDBoH (Teilzerlegung, kontrollierte Splitterabgabe)
. Lapua Naturalis (Kupfer-Deformationsgeschoss
mit hohem Restgewicht)
Mit dieser Auswahl lassen sich Rückschlüsse auf ähnlich aufgebaute Geschosse ziehen. Vom gängigen Schema abweichende Konstruktionen, wie zum Beispiel Impala Solids (form- und massestabil) oder die bleifreien Brenneke TIG und TUG „Nature“ Mantelgeschosse (Zinnkern), müssen davon jedoch ausgenommen werden. Praxisorientiert war die Auswahl der beschossenen Zielmedien. Unter standardisierten Laborbedingungen fanden Beschussversuche auf Buschwerk, Baumstämme, Steinplatten, harten und weichen
Boden statt. Der Testaufbau entsprach der Jagdsituation „Fehlschuss“. Mehrfachabprallverhalten, wie beispielsweise „Boden, Baum, Baum“, und die Reaktion
der Geschosse nach Durchdringen eines Wildkörpers (austretender Geschossrest
prallt ab) wurden von einer Ausnahme abgesehen (Rückpraller beim Schuss senkrecht auf ein Zielmedium) nicht untersucht. Beide Situationen sind jedoch häufig Ursache von Jagdunfällen.
Die Schüsse erfolgten auf unterschiedliche Entfernung und in jagdlich üblichen
Winkeln (Schuss vom Hochsitz, bodennaher Stand). Zum Einsatz kamen Schießmaschinen. Die Wissenschaftler ermittelten in zum Teil aufwendigen Verfahren folgende Parameter:
. Geschossmasse, Geschwindigkeit und Energie vor dem Aufprall
. Geschossmasse, Geschwindigkeit und Energie nach dem Aufprall
. Auftreffwinkel
. Abgangswinkel (Ablenkung in der Höhe)
. Seitenwinkel (Ablenkung in der Seite)
Mithilfe ballistischer Berechnungsmodelle erfolgte die Bestimmung der maximalen Flugweite des Geschossrestes oder der einzelnen Bruchstücke. Insgesamt wurden 1 459 Schüsse durch Dr. Kneubuehl ausgewertet. Die aus der Vielzahl an möglichen Kombinationen (Kaliber, Geschoss, Prellmedium) gewonnene Datenmenge lässt statistisch abgesicherte Aussagen zu. Der deutlichste Unterschied zwischen bleifrei und bleihaltig besteht, wie bereits vermutet, im Bereich des Masse und Energieerhalts. In 76 Prozent der
Fälle stellt das Gutachten eine höhere prozentuale Restenergie bei bleifreien Abprallern fest. Das Restgewicht ist grundsätzlich höher. Vor allem bei großen Auftreffwinkeln und auf hartem Boden ist die anteilige Restmasse von bleifreien Geschossen bis zu fünfmal größer.
Dieser Tatsache kommt besonders bei Fangschüssen auf kurze Distanz eine enorme Bedeutung zu. Geringer fallen die Unterschiede bei kleinen Auftreffwinkeln auf den Prellmedien Buschwerk, Baumstamm sowie Steinplatte aus. Hier liegen die bleifreien Werte zwischen 10 und 20 Prozent über jenen bleihaltiger Geschosse. Bezüglich Seiten- und Abgangswinkel kann das Gutachten keine signifikanten Unterschiede zwischen den beiden Geschossgruppen feststellen. Interessant für den Praktiker sind die Werte allemal. Selbst die extremste Seitenabweichung lag unter 20 Grad. Eine beispielsweise rechtwinklige Gefährdung des Nachbarschützen ist demnach nur bei Mehrfach-Abprallern denkbar. Als
logische Konsequenz erhöhten Energie und Masseerhalts ergibt sich eine deutlich größere „mittlere maximale Reichweite“ der bleifreien Abpraller. Das heißt im Klartext: Bleifreie Geschossreste fliegen in aller Regel weiter. Differenziert wirken sich in diesem Zusammenhang sowohl Kaliber als auch das Prellmedium aus. Eklatant fällt das bei der .308 Win. und der 9,3×74 R beim Beschuss „harten Bodens“ auf. Hier liegen die bleifreien
Werte erheblich über der bleihaltigen Konkurrenz. Für die Definition von Sicherheitsbereichen sind die Modellrechnungen „Maximalreichweite“ aussagekräftig. Bleifreie Abpraller legten theoretisch bis zu 1 521 Meter (m), bleihaltige 1 470 m zurück.
Wichtig ist auch die Feststellung, dass dickwandige bleihaltige Geschosse in ihrem Abprallverhalten jenem von bleifreien ähneln. Demnach ist neben dem Material auch der Geschossaufbau bei der Bewertung von Sicherheitsrisiken entscheidend. Sind Deformationsprojektile gefährlicher als Teilzerleger? Hier bleibt das Gutachten eine Empfehlung schuldig. Grünes Licht für bleifrei? So liest sich zumindest der auf der Internetseite der Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung veröffentlichte ergänzende Kommentar vor Dr. Kneubuehl: „In der näheren Umgebung des Auftreffpunktes ist die Gefährdung durch beide Geschossarten gleich. Dies ist die häufigste
Ursache von Jagdunfällen. Bleifreie Geschosse haben wohl eine signifikant größere Reichweite als bleihaltige Geschosse. In freiem Gelände nimmt jedoch die gefährdete Fläche gleichermaßen zu, wie die Trefferwahrscheinlichkeit abnimmt.
Eine Präferenz für eine der beiden Geschossarten lässt sich daraus nicht ableiten.
Eine größere Gefährdung für unbeteiligte Personen entsteht nur, wenn durch diesen
zusätzlichen Gefährdungsraum stark begangene oder befahrene Wege oder Straßen führen
oder wenn er gar besiedelt ist. Diese zusätzliche (technische) Reichweite beträgt im
Mittel nur etwa 250 m. Die maximale technische Reichweite (Einzelwert) bei bleifreier
Munition betrug 1521 m, bei bleihaltiger Munition 1470 m. Der Unterschied zwischen
bleihaltig und bleifrei ist somit auch hier gering. Die Hauptursache des gegenwärtigen Unterschieds zwischen bleifreien und bleihaltigen Geschossen ist die relativ große Masseerhaltung der bleifreien Geschosse beim Abprallen. Dies ist jedoch nicht vorrangig
eine Frage des Materials, sondern auch der Geschosskonstruktion. Insgesamt kann bei Berücksichtigung aller Ergebnisse in der Tat nicht von einer wesentlich größeren Gefährdung durch bleifreie Geschosse gesprochen werden.“ Diese Ausführungen beziehen sich nur auf das allgemeine Gefährdungspotenzial. Sie müssen im Kontext mit dem
in der Auftragsbeschreibung des Gutachtens getroffenen Aussage – „die ebenfalls
gewünschte Stellungnahme zum Gefährdungspotenzial von Jäger und Jagdgesellschaften
wurde abgelehnt, weil hierbei die vom Zentrum für forensische Physik/Ballistik (ZFPB) nicht beurteilbaren jagdlichen Vorschriften eine maßgebliche Rolle spielen“ – gesehen werden.
Eine endgültige jagdpraktische Beurteilung steht demnach aus. Betrachtet man die in Deutschland vorherrschenden Revierverhältnisse mit einem hohen Anteil an besiedelter
Fläche, dichter Verkehrserschließung und einer Vielzahl von Waldnutzern und Erholungssuchenden, ist die in Absatz drei des Kommentars geschilderte Situation
fast immer gegeben. Werden zusätzlich noch verbreitete Jagdmethoden, wie beispielsweise großräumige Bewegungsjagden mit massivem Hunde- und Treiber einsatz, zugrunde gelegt, ist auch die in Absatz zwei getroffene Aussage der „abnehmenden Trefferwahrscheinlichkeit“ kritisch zu sehen. Grundsätzlich steht nach Betrachten des Gutachtens dem Einsatz bleifreier Munition, vor allem auf der Einzeljagd, nichts im Weg.
Trotzdem muss nach wie vor davon ausgegangen werden, dass in Ballungsräumen,
auf Drück- und Treibjagden und der Nachsuche die Unfallwahrscheinlichkeit mit bleifreier Munition, wenn auch nur geringfügig, höher ist. Besondere Vorsicht ist bei den von der Untersuchung nicht erfassten bleifreien Geschosstypen, wie zum Beispiel Solids,
geboten. Unabhängig davon, ob mit oder ohne Blei, hat das DEVA-Gut achten einmal
mehr deutlich gemacht, dass disziplinierte Schussabgabe, sicherer Kugelfang, perfekte Jagdorganisation und solide Aus- und Fortbildung durch nichts zu ersetzen sind. Hier fällt maßgeblich die Entscheidung, ob es sich um sichere Jagd oder risikoreiches Ballern handelt.