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Im Paradies

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ROTWILDJAGD

Der Truppenübungsplatz Grafenwöhr ist bekannt für unglaublichen Anblick und große Strecken. Heiko Hornung fuhr hin, um sich ein Bild zu machen.

Kennen Sie das Paradies oder die ewigen Jagdgründe? Orte in einem anderen Sein, die keinen Wunsch mehr offen lassen? Ich habe einen davon gesehen. Er liegt im Nordosten Bayerns und ist eigentlich gar nicht dafür vorgesehen, Jägerträume zu gebären. Denn seine Bestimmung ist der Krieg: schmucklose Kasernengebäude, Panzerstraßen, Schießbahnen, Trainingsareale für den Häuserkampf. Wenn der Offroader auf holprige Sandwege abbiegt, ändert sich dieser Eindruck schnell. Mit dem leisen Schließen einer Geländewagentür setzt in der menschenleeren Landschaft dieses Jäger-Idyll-Gefühl ein, das einen gerne vergessen lässt, dass man hier eigentlich auf vermintem Gebiet steht. Revierleiter Andreas Irle weist mich noch kurz ein: „Durch das Birkenwäldchen hindurch, danach auf der offenen Fläche rechts in die Kiefern halten. Dort steht ihre Kanzel.“ Ich packe Ausrüstung, Hund und Waffe und steige gemächlich durch schütter stehendes, orange leuchtendes Gras in einem urig verwachsenen Birkenstangenholz eine leichte Anhöhe hinauf. Das zitternde, herbstliche Goldlaub wispert im leichten Wind.

Serengeti-Erlebnis: In Großrudeln sucht das Rotwild Sicherheit in den weiten, offenen Flächen der Schießbahnen. Ein Schuss in einen so dicht ziehenden Verband ist nahezu ausgeschlossen.

Noch verschwommen mischt sich nach einigen Schritten in das Flüstern der Bäume die mächtige Stimme eines Hirsches – zum ersten Mal gibts heute Gänsehaut. Am Rand des Haines öffnet sich der Blick auf eine weite Senke, in der in feinen Fäden noch der Dunst des Morgens steht. Mit klopfendem Herzen und offenem Mund sehe ich auf einer vielleicht 500 Meter entfernten Lehne, die lückig und mit allerlei Schwarzdorn bestockt ist, einen Hirsch rufend 30 bis 40 Stück Kahlwild umkreisen. Jetzt Ende Oktober müssen immer noch Stücke brunftig sein. Ein Schatten über mir lässt mich aufwerfen. Majestätisch gleitet ein großer Seeadler über mich hinweg. Keine hundert Meter vor mir maust ein Fuchs, und am Rande der Senke führt eine Bache sieben Frischlinge wie an einer Perlenschnur davon.

Ein Sechser und Kahlwild im Offenland. Hier kann es sich nach allen Seiten orientieren.

Irgendwie muss ich in den letzten Sekunden den weißen Tunnel verpasst haben, denn das sich mir bietende Gesamtbild kann nur einem Wahn entstammen. Eilig und mit feuchten Händen schleiche ich zwischen grasbewachsenen Bombentrichtern und bizarr geformten einzelnen Kiefern zu der Kanzel. Ein breites Bauwerk, das wohl auch zur Beobachtung für mehrere Personen dient. Es ist auf einer alten Bunkeranlage errichtet worden.

Keine 80 Schritt entfernt zeugen zerschossene, rostige Halbkettenfahrzeuge davon, um was es in diesem Paradies seit über 100 Jahren eigentlich geht: Kriegshandwerk. Doch außer den verwitterten Stahlgerippen deutet nichts darauf hin, hier mitten auf einer Schießbahn zu sitzen, auf der unweit meines Sitzes Dutzende von weißen Raketenrestkörpern im Boden stecken und sich überall Blindgänger befinden. Wer sich nicht an die strengen Regeln der Bundesförster hält, die den Platz betreuen, kann unglücklich die Reise ins richtige Jenseits antreten.
In diesem Übungsgelände mit seinen weiten Grasflächen, Buschgruppen, Wäldern, Seen und ausgedehnten Schilfgürteln gedeiht das Rotwild prächtig. „deer heaven“ (Hirschhimmel) nennen die hier übenden US-Amerikaner das Trainingsgelände. Den donnernden Übungsbetrieb verkraftet das Wild leichter als die permanente Störung im Kulturwald. Es macht hier das, was es als Art eigentlich am liebsten macht: in der offenen Grasfläche äsen und ruhen. Hier darf es das.
Rostige Skelette wie dieses zerstörte Halbkettenfahrzeug zeigen, worum es in Grafenwöhr eigentlich geht: Kriegsübungen.
In der äußersten Ecke meines Auslugs habe ich mich schnell eingerichtet und bald darauf das erste Serengeti-Erlebnis. In rund 500 Metern Entfernung wechselt dicht gedrängt ein vielleicht 40 bis 50 Köpfe zählendes Rudel durch das ockerfarbene Grasland. Was für ein Anblick. Das Rotwild erinnert an eine Herde Antilopen in den Weiten Afrikas.
Erste Schüsse fallen. Fast verpasse ich das Rudel, das plötzlich rechts von mir in die offene Landschaft prasselt. Ein Meer aus Leibern schiebt sich flott rund 100 Schritt entfernt quer an mir vorbei. Mit der Büchse an der Wange folge ich dem Tross, in der Hoffnung ein schussbares Stück darin packen zu können. Das Leittier beginnt zu tänzeln, sichert in alle Richtungen. Eine Gruppe aus Alttieren, Kälbern, Spießern, Sechsern zieht nach, ein Teil verhoffte noch. Ein Schmaltier steht für einen Moment breit und frei, schnellt auf den Schuss in die Höhe und bleibt auf der Stelle liegen. Flugs schiebt sich das Rudel wieder zu einem Körper zusammen und flieht trollend, ohne dass es möglich ist, noch einen zweiten Schuss loszuwerden. 2.500 Stück sollen auf dem 23.000 Hektar großen Truppenübungsplatz in diesem Jahr erlegt werden. 70 Prozent der Abschüsse werden dabei auf perfekt organisierten Bewegungsjagden erfüllt. Nur 30 Prozent fallen auf Einzeljagden, meistens auf schadenssensiblen Waldflächen, denn auch auf diesem besonderen Gelände werden Einnahmen aus der Holzwirtschaft erzielt.
Kaum habe ich die Büchse abgesetzt, strömt ein Rudel mit zehn Stück in die Senke hinein. Schussenfernung vielleicht 150 Meter. Sie tun mir nicht den Gefallen zu verhoffen. Einige hundert Meter entfernt hockt eine Schützin, wie mir das Fernglas verrät. Noch bevor ich den Schussknall vernehmen kann, sehe ich auf einem der Kälber ein kleines weißes Wölkchen stehen, woraufhin es schlagartig niedergeht. Drüben auf dem Senkenrand verhoffen vier mächtige Hirsche. Einer davon dürfte reif sein. Ein Kronenhirsch mit Vorbau und Senkrücken. Er ist tabu. Nur Kronenlose gab Jagdleiter Ulrich Maushake am Morgen frei. Die Erntehirsche fallen in der Brunft auf der Einzeljagd. Das Ergebnis dieser Jagd steht jedes Jahr in Vilseck zur Schau. Über 300 Geweihe sind dort zu sehen. In ihrer Art dürfte diese Schau für ein deutsches Rotwildgebiet einzigartig sein.
Ein erlegter junger Achter mitten im Zielgelände. Im Hintergrund stecken noch Raketenrestkörper im Boden.
Inzwischen ist die Sonne durch den grauen Oktoberhimmel gestoßen und lässt alles in zauberhaften Herbstfarben strahlen. Ein einzelnes Alttier trollt in die Fläche und wechselt auf mich zu. Es lässt mir Zeit zum Ansprechen. Da hier nur mäßig Treiber mit kurzjagenden Hunden unterwegs sind, werden die hochgemachten Rudel selten gesprengt. Familienverbände erscheinen komplett, soweit nicht schon vorher ein Stück davon erlegt wurde. Als es auf 50 Schritt heran ist, setze ich ihm die Kugel aufs Blatt.
Immer wieder flüchtet Rotwild durch das offene Land. Es sucht nicht die Sicherheit im Dunkel der Dickung, was zeigt, dass das Jagdkonzept in Grafenwöhr mit Druck im Wald und Ruhe auf den offenen Flächen Erfolg hat. Hier draußen hält das Rotwild in seiner großen Zahl die Vegetation niedrig, die sonst auf den Schießbahnen aufwendig gemäht oder gerodet werden müsste. Landschaftspfleger, die nichts kosten, außer dass man sie in Ruhe lässt. Von
Das Wildbergen nach dem Treiben ist eine schweißtreibende Angelegenheit.
dieser Art der Pflege profitieren Offenlandarten. 3.000 verschiedene Pflanzen, Insekten, Amphibien, Säugetiere und Vögel wurden in Grafenwöhr kartiert. Alleine 800 stehen auf der Roten Liste. Wild endlich mal nicht nur als Schädling, sondern als Teil der wunderbaren Schöpfung – auch das lässt Jäger träumen.
Bei all dem paradiesischen Reichtum ist die Vorstellung befremdlich, dass dieser einer Kulturlandschaft entsprungen ist und nicht der Wildnis. Anfang des vergangenen Jahrhunderts wurden zwischen 1907 und 1910 zunächst 250 Bewohner aus zehn Dörfern umgesiedelt, damit die Königlich Bayerische Artillerie einen Ort zum Üben hatte. Schon wesentlich heftiger und schmerzvoller lief die Erweiterung des Übungsgeländes im Dritten Reich zwischen 1937 und 1938. 3.500 Menschen aus 57 Dörfern und Einzelgehöften, wie Hopfenohe, Pappenberg und Haag, mussten ihre Heimstatt verlassen, damit die Wehrmacht sich für den großen zweiten Weltbrand rüsten konnte. Heute zeugen davon nur noch verwilderte Obstgärten und Häuserruinen, die sich die Natur wieder zurückgeholt hat. Die in Deutschland gelegenen Truppenübungsplätze sind allesamt zu begehrten Naturschutzobjekten geworden, und die Versuchung, sie inklusive Altlasten zu Nationalparken zu machen, ist für Umweltminister jeglicher Couleur groß. Dabei wird gerne vergessen, dass nur die Nutzung der Flächen auch hier die geliebte Artenvielfalt entstehen ließ.
Strecke eines erfolgreichen Jagdtages. 70 Prozent des Gesamtabschusses in Grafenwöhr werden auf Bewegungsjagden erfüllt

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