ALTTIER-KALB-BEZIEHUNG
„Leittierabschuss“ oder „Alttier vor Kalb“ – diese Forderungen sind immer häufiger zu hören. Welche dramatischen Folgen das allerdings mit sich bringen würde, zeigt der Wildbiologe Dr. Helmuth Wölfel.
Aus physischer Sicht sind Kälber ab der Brunft im September und Oktober von ihrem Muttertier unabhängig, denn das Kalb ist dann nicht mehr auf Milch angewiesen. Seine Wiederkäufunktion ist voll ausgebildet, und die Äsung reicht zur Ernährung aus. Eine danach stattfindende Säugung hat mehr eine soziale Funktion, ist aber ernährungsbedingt nicht notwendig. Gesteuert über die Länge des Tageslichtes wird die Milchproduktion so gar schon vor der Brunft verringert, um den Eisprung zu fördern. Fehlen bei der Brunft aber alte, erfahrene Hirsche, werden die Alttiere zwar beschlagen, oft allerdings erst beim zweiten oder dritten Eisprung, der sich nach elf bis 15 Tagen wiederholt. Eine lange Brunft ist daher ein Indiz für das Fehlen reifer Hirsche. Die Alttiere werden spät beschlagen, die Kälber wegen der konstanten Tragzeit spät geboren und dann, wegen des erwähnten „Versiegens der Milch“ ab der Brunft, nicht lange genug gesäugt. Sie bleiben unterernährt und kommen sehr oft nur schwach in den Winter. Nun entsteht ein Teufelskreis, der für das Reh in dieser Form nicht entstehen könnte. Bei Rehen gibt es nämlich nur einen Eisprung. Klappt es beim ersten Mal im Juli/August nicht, bleibt diese Geiß ein Jahr ohne Kitz und trocken. Bei der spätherbstlichen „Scheinbrunft“ beschlagen Böcke die zur Brunft noch nicht geschlechtsreif gewesenen Schmalrehe oder die frühreifen Kitze des Jahres. Ein weiterer Aspekt ist also für die Überlebenschance und Gesundheit der Rotkälber unentbehrlich: Alte, erfahrene Hirsche müssen an der Brunft teilhaben.
Schwaches Kalb: Verliert es das Muttertier, wird es zum Prügelknaben des Rudels. Eine struppige Decke und geringe Statur sind die Folgen.
stehen meist in Deckung. Der Hunger aber bleibt und wird dann mit Baumrinde und trieben gestillt. Eine artangepasste Jagd auf Rotwild als mobile und soziale Art mit Rudelverbänden muss sich grundsätzlich von der auf das territoriale, einzelgängerische Rehwild unterscheiden. Spätestens nach der Hirschbrunft sollte der Ansitz nicht mehr die einzige Jagdmethode sein, sondern auch gute und großräumig angelegte Bewegungsjagden unter Leitung erfahrerener Jäger durchgeführt werden. Wo die Reviergröße und das Gelände es erlauben, bietet der ausschließliche Einsatz von spurlauten und solojagenden Stöberhunden bei weiträumigem Abstellen der Schützen gute Aussicht auf Erfolg. Das dosierte Beunruhigen von Rotwild mit geeigneten Hunden einmal im Jahr pro Flächeneinheit führt in der Regel nicht zum Sprengen von Mutter und Kalb, sondern meist zu einer engen Folge im Schulterschluss. Dabei kann relativ gut angesprochen werden, ob ein Alttier führt oder nicht – weder besser noch schlechter als das beim Ansitz möglich ist. Dort „bummelt“ das im Herbst bereits selbstbewusste Kalb nicht selten über längere Zeit weitere Strecken hinter dem Alttier her. Bei keiner Jagdart ist es deshalb im Herbst nach der Brunft auszuschließen, dass irrtümlich auch einmal das Alttier als vermeintlich nichtführend vor dem Kalb erlegt wird.
Bock- und Geißkitz mit Geiß (v. l.) im Dezember. Zu dieser Zeit ist der Nachwuchs des Rehwildes kaum mehr auf das Muttertier angewiesen.
Rückgabe nach einer knappen Woche erfolgte. Einen Tag sucht das Alttier intensiv sein Kalb, die Intensität nimmt darauf aber kontinuierlich ab. Am vierten Tag ist die Spinne schon deutlich kleiner, und das Tier hört hormonell gesteuert auf, Mutter zu sein.
Von einer bewussten und gezielten Entnahme der Alttiere vor ihren Kälbern muss beim Rotwild aus den genannten Gründen nicht nur entschieden abgeraten werden, sie ist nach § 38 BJagdG sogar strafbar. Fehlabschüsse sind aber auf der Jagd nicht ganz auszuschließen. Tierschutz und Waidgerechtigkeit gebieten dennoch, dass selbst bei örtlich notwendiger und deshalb intensiver Jagd zur Bestandsreduktion die Devise lauten muss: Immer von Klein nach Groß und somit das Kalb vor dem Alttier erlegen! Wenn trotzdem verwaiste Kälber im Revier sein sollten, bilden diese armen Kreaturen teils führungslose Notgemeinschaften, weil sie aus dem Rudelver band ausgestoßen wurden. Diese „Kälbertrupps“ sollten dann so bald als möglich erlegt werden. Denn Waidgerechtigkeit verlangt auch nach solchen hart wirkenden Maßnahmen.