Blattend zum Bock
Leise und verhalten oder gleich richtig loslegen? Was Experten zu dieser Frage sagen, hat sich Simon Obermeier angehört.
Ein kurzes Überfallen des Grabens am Waldrand, und der Bock steht zwischen den grünen Halmen. In lang gezogenen Sätzen nähert er sich und verhofft. Seinen Träger streckt er leicht nach vorne. Er scheint sich Wind zu holen und äugt immer in dieselbe Richtung, das Haupt ist permanent aufgeregt in Bewegung. Dann zieht er in kurzen Schritten schnurstracks weiter. Nach 20 Metern verhofft das Stück abermals, steht breit. Ein dumpfer Knall, und der etwa dreijährige Gabler verschwindet im kniehohen Weidegras. Der erste Blattjagderfolg eines Jungjägers. Akribisch genau hatte er sich an die Anweisungen aus der kleinen Fibel mit den etwas vergilbten Seiten gehalten. Die erste Strophe mit Fiep- und Piju-Lauten verhalten geblattet, pausiert und die zweite, die dritte Strophe folgen lassen, genau so, wie es Georg Graf zu Münster in seinem Buch
„Die Geheimnisse der Blattkunst“ beschreibt. Dann stand der Bock vor dem Jäger. Nun liegt der Gabler verendet kaum fünfzig Meter von ihm entfernt. Doch etwas ketzerisch gefragt: Muss man beim Blatten tatsächlich eine wahre Arie mit verschiedenen sich steigernden
Strophen und definierten Pausen auf bauen? Kommt der Jäger nicht schneller zum Erfolg, wenn er mit dem Blatter gleich richtig loslegt, den Bock von Anfang an schon aufs Äußerste reizt und eifersüchtig macht – etwa mit einem lauten, aggressiven Sprengfiep?
Ganz so einfach ist das nicht, weiß WILD UND HUND-Lockjagdexperte Klaus Demmel. Er empfiehlt grundsätzlich folgendes Vorgehen: Auf dem Stand erstmal 15 Minuten warten und Ruhe einkehren lassen. Dann verhalten mit ein bis zwei Serien von je drei bis sieben normalen Kommunikationslauten (tiefer als Kitzfiep) beginnen. Das soll dem Bock zeigen: Hier steht ein Stück. Anschließend folgt der Rickenfiep, mit dem die brunftige Ricke den Bock zu sich ruft. Steht noch keiner zu, wird der Lockjäger etwas energischer und lauter mit dem Sprengfiep. Er täuscht dem Bock dadurch vor, dass hier ein Nebenbuhler ist, der „seine“ Ricke treibt. Hilft auch das noch nicht, bleibt die Möglichkeit, dem Bock mit dem Angstschrei zu zeigen: Jetzt ist es höchste Eisenbahn, nach dem Rechten zu sehen. Zwischen den einzelnen Serien rät Demmel zu Pausen von drei bis fünf Minuten. Zudem kann mit Ästen und Zweigen das Plätzen und Fegen eines Bockes nachgeahmt werden. „Das kann schon mal eine knappe Stunde an einem Platz dauern. Man sollte dabei nie monoton blatten, sondern variieren. Trauen sie sich beim Angstschrei oder Sprengfiep etwas zu. Da rennt nicht gleich alles weg“, sagt der WuH-Experte.
Philipp Graf von Meran unterscheidet beim Blatten in seinem Buch „Der Rehruf“ zwischen zwei Arten – der „alten, verhaltenen“ und der „neuen, ungestümen“. Bei ersterer wurde in schneller Abfolge viermal gefiept, dann 15 Sekunden Pause. Dies wurde etwa fünfmal wiederholt, sofern kein Bock zustand auch öfter, und mit „Fifi“-Tönen angereichert. Der Gedanke dahinter war: Durch das leise Blatten sollte der Bock langsam suchend in Anblick kommen. Laute Rufe wie den Sprengfiep setzten die Waidmänner in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nur vereinzelt zum Ende der Brunft hin ein. Die von Meran als „neue Methode“ bezeichnete ist deutlich lauter und agressiver. Sie stützt sich auf die Erfahrung, wonach Rehwild den ganzen Tag mit Geräuschen konfrontiert wird und somit die Reizschwelle des Bockes höher liegt als früher, so Meran. Er beschreibt sie folgendermaßen: „Man gibt nach einer leisen Einleitungsserie von etwa vier Tönen (für ganz nahe befindliche Böcke) zwei Minuten lang Ton auf Ton ohne Unterbrechung, und das noch recht laut, ab.“ Damit soll umgangen werden, dass sich ein auf das Blatt springender Bock in einer Rufpause vom Zustehen abbringen lässt.
Bleiben wir in Merans Schema von alter und neuer Methode, so zählt Per-Arne Åhlén zu den Avantgardisten. Er gehört zu jener Sorte von Lockjägern, die beim Blatten vor allem auf eines setzen: Es muss fordernd und aggressiv sein. Der schwedische Wildbiologe entwickelte hierzu auch das passende Lockinstrument, den sogenannten Nordik Roe, das zu einem der lautesten auf dem Markt gehört (siehe WuH-Blattertest, WuH 14/2012, S. 18). Åhlén beginnt damit nicht verhalten – obwohl dem Nordik Roe auch leise Töne zu entlocken sind, sondern legt gleich los. Es gibt bei ihm kein Vorspiel. Er gibt sofort Gas. Ohne längere Pausen wiederholt er zunächst die „Piiääh-piiääh“-Rufe, immer wieder gefolgt vom Sprengfiep. Verhaltenere Töne nutzt er nur, um seine fordernden Strophen zu verbinden. Die brunftigen Böcke sollen dadurch direkt in ihrem Konkurrenzverhalten gereizt werden, Ricken zur Suche ihrer Kitze animiert werden. Minutenlange Pausen zwischen den Serien legt der Schwede nicht ein. Seiner Meinung nach könnten weniger motivierte Böcke dadurch zu langsamerem Anwechseln veranlasst werden oder gänzlich die Lust verlieren, zuzustehen. Åhlén nimmt sich für die Rufjagd je Platz circa 20 Minuten Zeit und wartet anschließend noch etwas in Ruhe. „Gerade die Alten stehen oft erst viel später zu“, verriet er WILD UND HUND. Auch er ist überzeugt, dass man dem Rehwild dabei eine Art Geschichte erzählen muss, löst sich aber von einem sich stetig steigernden Blatt-Sinfonie-Aufbau. Dass diese für die wildärmeren Weiten Schwedens entworfene Methode auch hierzulande zum Waidmannsheil führt, hat sich schon gezeigt (siehe WuH 15/2010, Seite 32).
Klaus Demmel ist da etwas skeptischer: „Schweden und die hiesigen Verhältnisse, das
sind zwei Welten. Wir sind nicht allein im Wald, und unsere Reviere sind viel kleiner parzelliert. Ich rate beim Blatten immer, nicht mit der Tür ins Haus zu fallen.“ Aber auch Demmel betont, dass bei ihm etwa 70 Prozent der Böcke auf die aggressiveren Rufe wie den Sprengfiep zustehen. Dennoch ist er davon überzeugt: Der Jäger sollte die ganze Palette nutzen und dabei die Spannung stets steigern, bis dem Bock „der Kragen platzt“. Das geht mal schneller, mal langsamer. Der Lockjagdexperte gibt zudem zu bedenken, dass das aggressive „Power-Blatten“ Böcke mit weniger Selbstvertrauen oder jüngere nur schwer reizt: „Sie denken, da steht ein ohnehin übermächtiger Artgenosse und haben gleich die Hosen voll.“ Auch die älteren Recken würden seiner Meinung nach dieses fordernde Spiel irgendwann durchschauen. Auch Prof. Dr. Christoph Stubbe ist in dem Standardwerk „Rehwild“ der Ansicht: „Zu häufig angebotene Fieptöne machen das Rehwild
misstrauisch.“
Aber kann es nicht auch hierzulande sinnvoll sein, gleich vehement zu blatten, etwa an großflächigen Getreideschlägen? „Ich halte mich auch dort weitgehend an meinen Serienaufbau. Gerade im Feld muss man allerdings lauter sein, da die Halme die Töne dämpfen. Ebenso ist der Ausgang der Brunft geeignet, die abgebrunfteten Stücke mit aggressiveren Klängen auf die Läufe zu kriegen“, sagt Demmel. Bei vielen deutschen Lockjägern könnte die Åhlén-Methode schon an einem zunächst nachrangigen, aber doch so wichtigem Aspekt scheitern: Man kommt sich irgendwie komisch dabei vor, wie ein
Wilder zu blatten. Zu sehr sind wir bei der Jagd wohl auf die Ruhe, das Verhaltene,
das Nicht-Stören-Wollen gepolt. Die Angst des „Verblattens“ ist allgegenwärtig. Ob es
dieses Phänomen allerdings überhaupt beim Rehwild gibt, darüber sind sich die Experten nach wie vor nicht einig.