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Reh im Wolfsland

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WILD UND GROSSPRÄDATOREN

Seit 2007 wird das Raum-Zeit-Verhalten des Rehwilds in Ostpolen erforscht – ein Gebiet, in dem auch Wolf und Luchs leben. Leif Sönnichsen und Kamila Plis stellen exklusiv erste Ergebnisse vor.

Bisher sind wissenschaftliche Untersuchungen des Rehwildes hauptsächlich in den von Menschen geprägten Lebensräumen Mittel- und Westeuropas durchgeführt worden. Grund genug für ein internationales Wissenschaftlerteam des Leibniz Instituts für Zoo- und Wildtierforschung in Berlin und des Mammal Research Instituts Białowieża in Polen das Verhalten der Rehe in einem natürlichen Lebensraum in Osteuropa zu untersuchen.

Das Untersuchungsgebiet ist das Einzugs- und Waldrandgebiet des Urwalds von Białowieża im Grenzraum von Polen und Weißrussland. Die weitläufigen Wälder im Osten ermöglichen eine kontinuierliche Zuwanderung von Luchs und Wolf, wodurch die Populationen dieser beiden Großräuber im Urwald von Białowieża seit Jahrzehnten stabil sind. Neben dem Rehwild kommen Wisent, Rot- und Schwarzwild sowie in geringeren Dichten Elchwild vor. Während der Untersuchungen wurden regelmäßig Luchs und Wolf gefährtet. Auch wenn nur eines der von uns besenderten Stücke von einem Luchs gerissen worden ist, haben vorherige Studien in Białowieża die Bedeutung des Rehwildes als Beutetier insbesondere für die großen Katzen nachgewiesen. Die Hauptbeute von Isegrim in diesem Gebiet ist hingegen das Rotwild, obwohl dem Rehwild in dessen Nahrungsspektrum ebenfalls eine Bedeutung zukommt.

An das Waldmosaik schloss sich der zweite Teil des Untersuchungsgebietes an, welcher aus großen offenen und kommerziell genutzten Ackerflächen bestand. Die zwei unterschiedlichen Habitate boten gute Möglichkeiten, den Einfluss von unterschiedlichen Landschaftsstrukturen und sich verändernden Nahrungsverfügbarkeiten auf das Raumverhalten des Rehwildes zu ermitteln sowie erste Rückschlüsse auf Einflüsse durch Großprädatoren zu ziehen.

Mithilfe von Netzfallen fingen die Forscher insgesamt 23 Stück Rehwild. Sie wurden mit Halsbandsender versehen. Alles in allem wurden auf diese Weise etwa 10 000 Positionsdaten gesammelt und ausgewertet.

Dazu sind elf Böcke und zwölf Ricken in den Wintermonaten der Jahre 2007 bis 2011 mit Netzfallen gefangen und sowohl mit Very-High-Frequency- (VHF) als auch mit Global-Positioning-System- (GPS) Halsbändern besendert worden. Insgesamt sind fast 10 000 Positionen analysiert worden. Die detaillierte saisonale Auswertung der Positionsdaten hat große individuelle Unterschiede bei Ricken und Böcken ergeben. So war das kleinste Territorium eines Bockes im Sommer 69,9 Hektar (ha), das größte hingegen 169,6 ha. Das kleinste Einzugsgebiet einer Ricke betrug in der gleichen Jahreszeit 38,1 ha, das größte 127,7 ha. Überraschenderweise gab es keine signifikanten Unterschiede zwischen Jährlingen und älteren Böcken beziehungsweise zwischen Schmalrehen und älteren Ricken, was zum Teil auf die relativ geringen Dichten zurückgeführt werden kann. Allerdings haben zwei Schmalrehe ihre ursprünglichen Lebensräume verlassen und sind bis zu 20 Kilometer (km) abgewandert. Erst nachdem diese Stücke neue Einzugsgebiete besetzt haben, sind sie wieder in die Auswertung aufgenommen worden. Ein adulter Bock hat sogar zwei Einstände behauptet, die circa 5 km voneinander entfernt lagen und die er gezielt aufgesucht hat. Die Entfernung wurde innerhalb kurzer Zeit und auf direktem Weg zurückgelegt.

Obwohl die beobachteten individuellen Unterschiede teilweise gravierend waren, ist es gelungen, allgemeingültige Schlussfolgerungen aus den Ergebnissen für das Raumverhalten der Rehe in Ostpolen im Jahresverlauf zu ziehen.

Der stärkste Sprung umfasste 21 Stück. Die Forscher fanden heraus, dass die Größe dieser Zusammenschlüsse auf Zeit keinen Einfluss auf die Ausdehnung der Streifgebiete hat.

Böcke und Ricken hatten insgesamt die kleinsten beobachteten Einzugsgebiete im Sommer, welche im Herbst und zum Winter hin zunahmen und am größten im Frühjahr waren. Nachdem sich die Wintersprünge aufgelöst hatten, besetzten die einzelnen Stücke ihre Einzugsgebiete. Bevor der kleinere Lebensraum während der Sommermonate eingenommen wurde, haben die besenderten Stücke ihre Einzugsgebiete nochmal deutlich vergrößert, um die besten Lebensräume zu besetzen.

Rehwild gilt als standorttreu. Territorien und Einzugsgebiete können über Jahre behauptet werden. Allerdings weisen kürzlich veröffentlichte Studien darauf hin, dass ein nicht geringer Prozentsatz von Jährlingen und Schmalrehen die ursprünglichen Lebensräume verlässt (Debeffe et al. 2012). Im Randgebiet des Urwalds von Białowieża nutzten Böcke unabhängig von der Jahreszeit generell einen größeren Lebensraum als Ricken, auch wenn die Unterschiede im Winter zwischen den Geschlechtern gering waren.

Zwei Faktoren zeichneten sich als besonders wichtig für das Raumverhalten des Rehwildes. Dies waren zum einen die verfügbare Äsung und zum anderen die Struktur des jeweiligen Habitats, in dem das Einzugsgebiet der besenderten Stücke lag. Die Äsungsverfügbarkeit war für das Raumverhalten der Ricken von größerer Bedeutung als für das der Böcke. Deutlich wird dies vor allem im Jahresverlauf der Einzugsgebiete weiblicher Stücke, da die Größenzunahme vom Sommer zum Winter 52 Prozent betrug. Naturgemäß war die verfügbare Äsung im Winter um ein Vielfaches geringer als im Sommer. Allerdings vergrößerten die besenderten Böcke ihre Einzugsgebiete nur um etwa elf Prozent, nachdem sie ihre Territorien im Sommer aufgegeben haben.

Natürlich müssen die Einzugsgebiete beider Geschlechter groß genug sein, um ausreichend Äsung zur Deckung des Energiebedarfs zur Verfügung zu stellen. Für tragende Ricken ist die Nahrungsaufnahme im Winter allerdings essentiell für eine erfolgreiche Reproduktion, da ab Januar nach der Keimruhe die befruchtete Eizelle in die Gebärmutter-Schleimhaut eingelagert wird.

Während der Säugeperiode ist der Energiebedarf der Ricken stark erhöht. Daher nahmen die Einzugsgebiete der Ricken mit steigender Äsungsverfügbarkeit ab

Während der Tragzeit und der anschließenden Säugeperiode ab Mitte Mai ist der Energiebedarf der Ricken deutlich höher als zu den anderen Jahreszeiten. Ein Grund, warum nicht nur zwischen, sondern auch innerhalb der Jahreszeiten, die Einzugsgebiete der Ricken mit steigender Äsungsverfügbarkeit abnahmen, die der Böcke hingegen nicht. Interessanterweise hatte im Untersuchungsgebiet die Sprunggröße im Winter, die bei den besenderten Rehen

aus bis zu 21 Stücken bestand, keinen Einfluss auf die Größe der jeweiligen Einzugsgebiete. Die Sprünge waren jedoch im Feldteil deutlich größer als im Wald-Feld-Mosaik. Neben der Äsungsverfügbarkeit war die Struktur der Habitate, in denen die besenderten Rehe ihre Einzugsgebiete hatten, von großer Bedeutung, insbesondere das Vorhandensein von Waldrändern, wie sie im Mosaikteil zu finden waren. Für Rehe als Konzentratselektierer ist nicht nur die Menge der verfügbaren Äsung, sondern vor allem deren Qualität und Verdaulichkeit von Bedeutung. Während im Feldteil die bevorzugte Äsung der Rehe, wie etwa wintergrünes Getreide, besonders während der Wintermonate weit über das Untersuchungsgebiet verteilt war und damit zu größeren Einzugsgebieten führte, sah die Situation im Mosaik anders aus. Waldränder bieten dort dem Rehwild qualitativ hochwertige Äsung auf relativ kleiner Fläche. Entsprechend sank die Größe der Einzugsgebiete auch in unserem Untersuchungsgebiet proportional zur Länge der Waldränder.

Im Gebiet des Urwalds von Białowieża ist das Rehwild eines der wichtigsten Beutetiere von Luchs und Wolf und wird zudem bejagt. Zusätzlich stellen wildernde Hunde eine Bedrohung dar. Hoher Prädations- und Jagddruck äußert sich in vielfältigen Verhaltensanpassungen der Beutetiere, je nach Landschaftsstruktur und Jagdart. Eine Verhaltensanpassung kann munter anderem eine Reduzierung der Bewegung der Beutetiere sein, wodurch die Wahrscheinlichkeit eines Zusammentreffens mit einem Räuber oder Jäger minimiert wird. Eine weitere Schlussfolgerung, die aus der Abnahme der Lebensraumgröße mit zunehmender Waldrandlänge gezogen werden kann, ist daher, dass Waldränder gute Deckungsmöglichkeiten und kurze Fluchtwege bieten. Die besenderten Stücke im Mosaik haben die Größe ihrer Einzugsgebiete unter dem Einfluss von Luchs und Wolf, aber auch der Jagd, minimiert. Um jedoch diese komplexen Zusammenhänge eindeutig klären zu können, ist es notwendig, Luchse und Wölfe in dem Untersuchungsgebiet zeitgleich mit dem Rehwild in einem weiteren Forschungsprojekt mit Telemetriehalsbändern zu versehen. Gerade vor dem Hintergrund der erfolgreichen Wiederbesiedlung Deutschlands durch den Wolf und den daraus resultierenden Verhaltensänderungen der Beutetiere sind solche Forschungsprojekte von großer Wichtigkeit.

Obwohl Waldränder sowohl für weibliche als auch für männliche Stücke von Bedeutung waren, haben die Böcke in ihrem Raumverhalten stärker darauf reagiert. Die Waldränder im Mosaik stellen klare Strukturen und somit natürliche Territoriengrenzen dar. Solche topographischen Merkmale als natürliche Grenzen fehlten hingegen im Feldteil, entsprechend größer waren die Einzugsgebiete der Böcke. Im Mosaikteil des Untersuchungsgebietes war trotz der Großräuber die Rehwilddichte höher als im offenen Feldteil, was zwangsläufig zu kleineren Territorien führt. Interessanterweise konnte dieser Trend nicht nur im Sommer, sondern auch in den Jahreszeiten, in denen Böcke keine Territorien verteidigen, beobachtet werden. Sobald ein Einzugsgebiet eines besenderten Stückes etabliert war, hat sich das Rehwild trotz der jahreszeitlichen Änderungen der Einzugsgebiete sehr standorttreu verhalten. Allerdings beruht ein Großteil der hier vorgestellten Positionsdaten auf einem Zeitraum von einem Jahr. Um gesicherte Aussagen zu treffen, müssen dieselben Individuen über einen längeren Zeitraum untersucht werden.

Rotwild (im Bild) und Rehwild stehen im Beutespektrum der Großprädatoren in Ostpolen ganz oben.

Die hier vorgestellten Ergebnisse belegen eindrucksvoll, dass das Rehwild ein komplexes und ebenso flexibles Raumverhalten zeigt, welches von verschiedenen Faktoren gesteuert wird. Zusammenfassend kann gesagt werden: je mehr verfügbare Deckung und Äsung, desto kleiner die Einzugsgebiete. Ebenso wird deutlich, dass eine vielfältige Landschaftsstruktur die Verteilung und Dichte lokaler Wildtierpopulationen beeinflussen kann.

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