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Jagdunfälle – Sorglos gehen wir zur Jagd. Warum auch nicht – es ist schließlich unsere Freizeit. Doch wie reagiert derMensch in Notsituationen? Ein Erlebnis auf einer Drückjagd verdeutlicht, dass nur richtiges Verhalten, klare Absprachen und gute Organisation im Unglücksfall Menschenleben retten können. Könnten Sie es?

 

Der Patient wird vom Notarztteam in den Hubschrauber gehoben – sein Leben ist gerettet. Seit dem Notruf an die Leitstelle waren keine 20 Minuten vergangen

Von Jan-Erik Meierhoff

Laut klingen die Rufe durch den Wald. „Hoho!“ Es ist Anfang Oktober, die erste Drückjagd des Jahres hat begonnen, und ich stehe voller Spannung auf einer Waldschneise. „Hussa!“ Langsam kommt die Treiberwehr auf mich zu. Es knackt leise vor mir! Zwei Hirsche trollen rechts von mir über die Schneise. Auf Kahlwild und Sauen soll es heute gehen. Unglaublich, dass ich diese beiden Recken nicht eher vernommen habe. „Hopphopphopp!“ Jetzt höre ich die Treiberwehr deutlich, sehe die ersten Signalwesten durch den Wald schimmern. Ich zünde mir eine Zigarette an, denn zu jagen gibt es erst einmal nichts mehr. Nach vorne kann ich nicht mehr schießen, nach hinten sehe ich nur eine Dickungswand.

Dafür freue ich mich, dass ich jetzt gleich auf dem Rückwechsel stehe. Schon stehen die ersten Treiber auf meiner Schneise. Ihre Arbeit nötigt mir Respekt ab. Tagelang hatte es geregnet. Zwar haben wir heute Glück mit dem Wetter, doch die Dickungen sind noch immer klatschnass, und an vielen Stellen des Treibens machen Brombeeren das Vorankommen auch nicht gerade leichter. Altgediente Experten sind sie alle. Wer kann schon eine Treiberwehr rekrutieren, die allesamt nicht nur aus reviererfahrenen Waldarbeitern besteht, sondern die in dieser Konstellation schon seit Jahren den Jagdbetrieb unterstützen? Wie formulierte es der Jagdherr bei der Begrüßung treffend: „Wahrscheinlich hat kein Revier in Deutschland eine ältere Treiberwehr als wir, aber garantiert hat kein Revier eine erfahrenere!“ Der einzige junge Waldarbeiter, der dieses Jahr das erste Mal dabei ist, vermag den Altersdurchschnitt auch nicht wesentlich zu senken.

Langsam nehmen die Haudegen wieder Aufstellung. Einige von ihnen rauchen wie ich ihre Zigarette, und mein Standnachbar und ich werden befragt, was vorbeigekommen ist. „Habt ihr die Hirsche gesehen“? „Wie alt waren die?“ „Kamen keine Sauen vor?“ „Was, du hast einen Fuchs verpennt? Na, las´ das man ja nicht den Alten hören!“ Der muntere Plausch zieht sich noch ein bisschen in die Länge, bis unser Obertreiber unruhig wird. „Wo bleibt denn bloß Ludwig?“

Als Ludwig nach wenigen Minuten immer noch nicht erscheint, kommt Unruhe in die Treiberwehr. Der Einwand meines Standnachbarn, er könne sich verlaufen haben, bedenkt der eine mit Kopfschütteln, der nächste mit einem bösen Blick. „Der Mann ist hier geboren und arbeitet seit über 25 Jahren im Wald. Der hat sich nie verlaufen und er verläuft sich auch in Zukunft nicht!“ Damit wäre das ja geklärt.

Der Zwiespalt des Obertreibers ist schnell zu beschreiben: Hält er jetzt die ganze Jagd auf, um Ludwig zu suchen, oder lässt er jemanden zurück? Ich erkläre mich bereit zu helfen, entlade meine Waffe, ziehe eine Signalweste aus meinem Rucksack und bekomme den jungen Waldarbeiter als Begleitung mit. Mein Standnachbar wird vergattert, falls Ludwig doch auftauchen sollte, ihn in jedem Fall vor Ort festzuhalten und gegen Mittag zum Sammelpunkt mitzubringen. Den Anschluss an die Wehr bekommt er ohnehin nicht mehr. Ludwig zu finden, wird nicht so schwer sein.

Zwei große Vorteile haben wir – und die werden Ludwig schlussendlich das Leben retten: Ludwig ist zu Beginn des ersten Treibens verschwunden, das heißt, wir müssen maximal 500 bis 700 Meter zurücksuchen. Zudem ist seine Bewegungslinie bekannt. Der Treiber folgte in etwa einem Bachlauf, den wir beide nun zurückmarschieren. Nach wenigen Minuten finden wir ihn am Fuße eines Baumes liegen. Auf Ansprache reagiert er nicht mehr!

Was sollen wir bloß tun? Tausend Gedanken schießen einem durch den Kopf: Was hat er nur? Warum antwortet er nicht? Wie bekommen wir ihn hier weg? Ich fühle mich total hilflos. Was immer er hat, er muss schleunigst aus dem Wald gebracht werden. Ich krame mein Handy heraus, um den Förster anzurufen. Aber ich habe weder seine Handy- noch seine Privatnummer. Dem jungen Waldarbeiter geht es ebenso. Mein Jagdfreund könnte vielleicht helfen, doch ich habe keinen Empfang. Ich laufe aus dem Bachtal auf den nächsten Hügel – Gott sei Dank, hier gibt es wenigstens zwei müde Ausschläge im Display des Handys! Mein Freund meldet sich nicht – warum auch, er steht ja schließlich irgendwo in diesem Revier an einer Schneise, um Wild zu schießen, nicht um zu telefonieren. Wen kann ich dann anrufen? Ich kenne hier als Jagdgast niemanden, geschweige denn verfüge ich über die Handynummern geeigneter Ansprechpartner.

Der Marsch auf den Hügel hat wenigstens ein Ergebnis: Hier oben gibt es eine so große Lichtung, dass ein Hubschrauber landen könnte. Doch wie weise ich den Piloten ein? Ja, ich bin zu einer Jagd eingeladen. Ich kann zwar beschreiben, wie das Revier heißt, wer mich eingeladen hat und wie ich zum Sammelpunkt gekommen bin. Aber dann? Wir saßen alle auf einem großen Ackerwagen, der uns ins Revier brachte. Wer achtet da schon auf den Weg? Es ging ein paar Mal links, ein paar Mal rechts.

Die einzige Telefonnummer, die ich zufällig eingespeichert habe, ist die des Forstamtes, in dem wir heute jagen. Aber es ist Samstag, und niemand arbeitet zur Zeit im Büro. Wieder heißt es: Was tun? Deutschland kann so riesengroß sein, wenn man selbst oder ein Bekannter nicht mehr laufen kann, und man sich mitten im Wald befindet! Der Waldarbeiter signalisiert mir, dass Ludwig zu sich kommt. Ich laufe wieder runter. Unten angekommen, hören wir zwar, dass Ludwig etwas sagt, verstehen ihn aber nicht!

So geht es nicht weiter! Soll ich den Waldarbeiter zurückschicken, um Hilfe zu holen? Wie lange dauert das? Tatsache ist, dass Ludwig irgendeine lebensbedrohliche Krankheit hat. Was, wissen wir nicht, nur soviel ist klar: Jetzt muss gehandelt werden. Ich beschließe, die „Meldekette“ einfach umzudrehen. Wenn wir schon nicht im Detail wissen, wen wir anrufen müssen, wissen das vielleicht andere. Also schalten wir die Feuerwehr oder den Rettungsdienst ein, damit die den Jagdleiter finden.

Der Waldarbeiter und ich tragen Ludwig ganz vorsichtig den Hang herauf. Jeder andere Weg ist unmöglich, erst recht für uns beide allein. Und auch ein anderer Sachverhalt ist mittlerweile unstrittig: Ludwig kann unmöglich über mehr als einen halben Kilometer durch den Wald getragen werden. Völlig erschöpft kommen wir oben an. Kaum, dass wir wieder zu Atem kommen, kümmert sich der Waldarbeiter um Ludwig, spricht leise mit ihm und hat bereits wärmend die Jacke um ihn gelegt. Was sollen wir denn auch sonst noch machen?

Ich krame wieder mein Handy hervor und rufe die Feuerwehr an. Schnell ist unsere missliche Lage beschrieben. Ich bitte die Leitstelle, irgendwie alle Forstamtsnummern abzutelefonieren.
Dann skizziere ich unsere Probleme:

  • Person kaum oder nicht ansprechbar,
  • Patient bedingt transportfähig,
  • Gelände nahezu unzugänglich, mindestens im Umkreis von 500 Metern kein Weg und kein Steg.Als ich die Beschreibungen abgebe, komme ich mir vor, als umreiße ich eine Situation in Kanada oder Alaska. Die Leitzentrale beschließt auf Grund meiner Angaben einen Hubschraubereinsatz. Ich werde parallel auf eine andere Leitung umgeschaltet, um einerseits die Notrufnummern frei zu machen, andererseits den Kontakt zur Leitstelle beizubehalten. Von nun an habe ich Dauerkontakt zu irgendeinem Helfer, für den ich, Ludwig und der Waldarbeiter in der nächsten Zeit der Mittelpunkt der Welt sind. Und er für uns drei auch! Damit wir uns ja nicht wieder verlieren, gebe ich meine Handynummer und die des Waldarbeiters durch. So können wir bei Unterbrechung der Verbindung wenigstens zurückgerufen werden.„Ist dein Akku auch vollgeladen?“, frage ich den Waldarbeiter. Wir sind mittlerweile zum „Du“ übergegangen. Paul heißt der junge Kerl, der sich rührend um Ludwig kümmert, ohne zu wissen, ob der ihn eigentlich wahrnehmen kann. Beide Akkus voll – es kann weitergehen.

    Ludwig beginnt, erbärmlich zu zittern. Eine Hand am Handy höre ich, wie mehrere Personen in der Leitstelle alle erdenklichen Nummern abtelefonieren. „Hören Sie“, tönt es plötzlich aus dem Handy, „wir haben Kontakt zur Frau des Forstamtsleiters und dessen Nummer bekommen. Die Nummer des Revierbeamten haben wir auch, beide werden zur Zeit angerufen.“ Wenigstens eine gute Nachricht. Meine Frage, ob Paul irgendeine Krankheit seines Kollegen bekannt ist, wird verneint. Dafür kommt Paul auf die Idee, die Taschen seines Kollegen zu durchsuchen. Alles was wir finden sind drei Tafeln Traubenzucker. Zucker! Das muss es sein! Der Mann ist wahrscheinlich zuckerkrank. „Wie heißt dein Kollege?“, frage ich Paul. Er gibt mir den vollständigen Namen, und ich melde diesen umgehend der Leitstelle. „Rufen Sie bei dem Mann daheim an, fragen Sie seine Frau, was er haben könnte“, bitte ich meinen Ansprechpartner in der Leitzentrale. Wieder wird dort telefoniert. Zudem erhalten wir folgende Meldung: „Die ganze Jagd steht, der Forstamtsleiter, der Revierbeamte und mehrere Helfer sind unterwegs.“ Na bitte, nun tut sich ja was. Trotzdem kommt mir die kurze Wartezeit wie Stunden vor.

    Eine Minute später meldet sich die Stimme aus der Leitzentrale: „Ihr Patient ist zuckerkrank. Hat er Medikamente oder ähnliches dabei?“ Und wenn schon, er kann nichts einnehmen, und wir ihm nichts verabreichen. „Der Hubschrauber müsste in Kürze bei Ihnen sein. Haben Sie irgendeine Chance, sich bemerkbar zu machen?“ Gute Frage! Wie sollen wir uns auf dieser Lichtung bemerkbar machen?

    Meine Nachfrage bei Paul ergibt, dass er – natürlich – nichts Geeignetes dabei hat. Ich auch nicht. Wer geht auch mit einer Rauchpatrone zur Jagd? Rauch ist dennoch keine schlechte Idee, und zum ersten Mal habe ich das Gefühl, dass Rauchen wirklich sinnvoll ist. Zunächst zünde ich mit meinem Feuerzeug einige Zigaretten an, mit denen ich meinen noch trockenen Schal entzünde.

    Damit entflamme ich Pauls Handschuhe und zu guter Letzt geht auch meine Weste, die unter der Lodenkotze schön trocken geblieben ist, in Flammen auf. Wir brechen von umstehenden Nadelbäumen Äste ab und werfen sie auf den brennenden Haufen, dann kommen unsere Signalwesten aus Plastik dazu – es qualmt! Wir freuen uns darüber wie die kleinen Kinder.

    Helikoptergeräusche! „Gut gemacht“, kommt es augenblicklich aus dem Handy, „der Pilot hat ihren Qualm entdeckt.“ Tatsächlich: Sekunden später steht der gelbe Hubschrauber über der Lichtung, die mir nun lächerlich klein vorkommt. Ich lasse Paul und Ludwig zurück, weise den Piloten ein. Die Landung auf der kleinen Lichtung ist eine fliegerische Meisterleistung.

    Der Notarzt und sein Assistent springen aus dem Hubschrauber. Schnell sind sie bei unserem Patienten. Während ich mich bei der Leitstelle bedanke und das Gespräch beende, bekommt Ludwig bereits Spritzen und eine Infusion. Der Arzt hat Ludwig an diverse Instrumenten angeschlossen und äußert sich zuversichtlich. Uns fällt nicht nur ein Stein vom Herzen, als er sagt: „Gerade noch rechtzeitig für Ihren Kollegen, aber er hat es geschafft!“ Die Anspannung löst sich.

    Aber wo ist denn der Pilot? Während wir den Patienten versorgen, ist der Pilot ausgestiegen und hat erst einmal in aller Ruhe seinen Helikopter auf der engen Lichtung fotografiert! „Sagen Sie“, fragt er mich im Vorbeigehen, „darf ich Ihre Kanzel benutzen, um auch von oben zu fotografieren?“ Natürlich darf der Mann die Kanzel benutzen. Er fotografiert seine Maschine, während Ludwig von uns auf einer Trage in den Hubschrauber verladen wird. Eine Minute später ist die Crew mit Ludwig abgehoben und aus unserem Blickfeld verschwunden.

    Paul und ich sind ebenso kaputt wie zufrieden. Wir setzen uns beide auf die Lichtung, schütteln noch einmal den Kopf über diese dramatischen Minuten, schauen auf den immer noch glimmenden Haufen, der einmal unsere Bekleidung war, und lachen über den Piloten.

    Schließlich zünden wir uns jeder genüsslich eine Zigarette an. Während wir – uns immer wieder gegenseitig unterbrechend – unsere Eindrücke schildern, keuchen unsere Jagdkameraden den Hügel hoch. Erst jetzt realisieren wir, wie schnell der ganze Ablauf war, obwohl es uns wie Stunden vorkam. Vom Anruf in der Leitzentrale bis zum Abflug waren 20 Minuten vergangen. Die Jungs von der Luftrettung waren schneller, als die Jagdkameraden uns im Revier auffinden konnten!

    Sie gehen abends zum Sauenansitz an einer einsam gelegenen Kirrung. Beim Aufbaumen rutschen Sie ab und verstauchen sich den Fuß. Haben Sie ein Handy dabei? Haben Sie Empfang? Ab wann werden Sie erst vermisst? Wer kennt die Lage Ihrer Reviereinrichtung?

     


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