Haben von Erholungsverkehr ausgehende Störreize Auswirkungen auf die Kondition und Fitness von Wildtieren? Ein Beitrag zur Korrelation von Parasitenbelastung und Störung beim Rehwild.
Lange bevor z. B. Spaziergänger im Gesichtsfeld eines Rehes erscheinen, werden sie gehört. Sind sie aus dem Gesichtsfeld verschwunden, werden sie immer noch gehört. Ihre Duftspur steht über Stunden. |
Was sind Wildstörungen? Losgelöst von den bisher in WuH veröffentlichten Beiträgen des Bonner Jägertages ‘98, sei es an dieser Stelle erlaubt, eine eigene Definition zu geben, die den nachfolgenden Ausführungen zugrunde liegt und hoffentlich allgemein nachvollziehbar und akzeptabel ist.
Störungen aller Art lassen sich nach der Art der Wahrnehmung in optische, akustische, olfaktorische (Riechorgan) und kombiniert wirksame gruppieren. Sie haben unterschiedliche Auswirkungen, auch auf Rehwild. Der Fußgänger auf dem Waldweg ist schon in wenigen Sekunden aus dem Gesichtsfeld eines Rehs entschwunden, das aber den Fußgänger, lange bevor er im Gesichtsfeld erscheint, bereits hört und noch hört, wenn er bereits aus dem Gesichtsfeld verschwunden ist. Die Duftspur des Spaziergängers aber bleibt noch einige Stunden bestehen.
Störung: Unterbrechung von Aktivität oder Ruhe
Störwirkungen sind auf verschiedenen Ebenen wirksam, die als individuelle Ebene (Einzeltier) und soziale Ebene bezeichnet werden können. Auf der individuellen Ebene, das Einzeltier betreffend, können die Wirkungen unterschiedlichen Stärkegrades sein. Schon das Sichern des Rehwilds bedeutet eine Unterbrechung der gerade ausgeführten Aktivität oder Ruhe evtl. bis hin zur Flucht, die vom zügigen Wegziehen bis zur panischen Fluchtreaktion reichen kann.
Mit der Störung geht beispielsweise der Verlust an Zeit für die Nahrungssuche, die Körperpflege und vieles andere einher. Hinzu kommt je nach Grad der Reaktion auch die körperliche Belastung, insbesondere durch den erhöhten Energieverbrauch, der beispielsweise im Winter bei weiten Fluchten durch Verbrauch von Reserven kritisch werden kann.
Auswirkungen auf sozialer Ebene betreffen nicht allein das Einzeltier, sondern wirken sich auf weitere Mitglieder der Population aus. Sie betreffen die Wechselbeziehungen zwischen den Rehen. Hier ist anzumerken, dass sich die eine Ebene nicht immer scharf von der anderen trennen lässt.
Führt beispielsweise die Flucht eines Rehes, das von einem Hund gehetzt wird, über das eigene Territorium hinaus, weil innerhalb des vertrauten Streifgebietes der Verfolger nicht abgeschüttelt werden konnte, kommt zu der Belastung der weiten Flucht noch der Stress des unbekannten Gebietes und die möglicherweise damit verbundenen Auseinandersetzungen mit Artgenossen hinzu, beispielsweise bei Rehböcken zur Zeit der Einstandskämpfe. Durch telemetrische Untersuchungen wurde nachgewiesen, dass es bis zu zwei Tage dauern kann, bis ein so gehetztes Reh in den eigenen Einstand zurückkehrt.
Auch werden soziale Verhaltensweisen gestört oder abgebrochen. Zum Beispiel unterbricht die Ricke die Körperpflege beim Kitz, unterbricht das Säugen des Kitzes oder bei hochbeschlagenen Ricken werden evtl. Geburtsschwierigkeiten verursacht. Ganz wesentlich sind weiterhin Störungen im Äsungsrhythmus von Wiederkäuern, die ebenfalls zu Beeinträchtigungen des Stoffwechsels führen.
Wildkonzentrationen in ruhigen Revierteilen
Weiterhin können Störfaktoren zu Wildkonzentrationen in ruhigeren Revierteilen führen und damit zu höherer Wilddichte mit allen bekannten Folgen der Verbissbelastung, der Kontamination des Raumes mit Krankheitserregern und der höheren Ansteckungsgefahr.
Spielt es darüber hinaus eine Rolle, wo die Störung erfolgt? Die Antwort ist eindeutig ja. Störungen z. B. am Ruheplatz, Setzplatz, Äsungsplatz oder an Äsungsflächen sowie am Rand des Territoriums haben unterschiedliche Auswirkungen.
Zu den besonders störempfindlichen Bereichen zählen Grenzlinien. Grenzlinien sind ein ökologisches Spannungsfeld mit hoher Aktivität, oft auch als „edge-Effekte“ bezeichnet. Dazu zählen Wald-Feldübergänge, schmale Feldgehölze, Hecken und Deckungsstreifen. Störungen im „Allerheiligsten“, beispielsweise an Schlaf -und Ruhestätten, können zur Panik führen, wohingegen Störungen am Rande des Territoriums weitgehend toleriert werden können.
Unter den Störungen, die gewissermaßen „die Intimsphäre des Wildes“ berühren oder um einen Begriff aus der Verhaltenskunde (Ethologie) zu verwenden, die das „Heim erster Ordnung“ beeinträchtigen, sind besonders jene gravierend, bei denen der Störfaktor einen Höhenvorteil gegenüber dem gestörten Individuum (Reh) hat. Dies kann der Fall sein, wenn sich der Störenfried höher am Berg befindet oder schwerwiegender in der Luft über ihm. Mehr oder minder tief fliegende Objekte jeder Art sind in diesem Zusammenhang zu nennen und zu werten.
Was ist Stress?
Den Ausführungen zur Parasitenbelastung des Rehwildes bei unterschiedlich starkem Erholungsverkehr sei die Erläuterung des Wortes „Stress“ vorangestellt, um zu verdeutlichen, in welchem Sinne es in diesem Beitrag verwendet wird.
Die Definition des Schöpfers der Stresstheorie in der Medizin, Prof. SELYE (Montreal) lautet: „Unspezifische, außergewöhnliche Belastung des Körpers mit Unterscheidung von drei Stadien: der Alarmreaktion, der Resistenz und der Erschöpfung.“ Heute wird in der Medizin mit Stress „der Zustand erhöhter Aktivität der inneren Drüsensekretion (z. B. Adrenalin) und des vegetativen Nervensystems als Ausdruck der Reaktion auf heftige, die Unversehrtheit des Organismus attackierende Reize“ bezeichnet. Solche Reize oder Stressoren können beispielsweise Kälte, Bakterien oder allgemein Krankheitserreger, Gifte, Konflikte und Leistungsdruck sein.
Die Symptome des Stresssyndroms werden eingeleitet und gesteuert durch die Ausschüttung von Hormonen über die Achse Zwischenhirn-Hirnanhangdrüse und Nebennierenrinde. Zu schwerer oder lang anhaltender Stress kann letztlich durch Versagen der Nebennierenrinde tödlich wirken. SELYE stellte bereits 1939 fest, dass Stress die Fruchtbarkeit nachteilig beeinflusst.
Streßfaktoren beim Rehwild sind u. a.:
- Feinde (Rotfuchs, Hunde, Schwarzwild, Mensch).
- Sozialer Streß (Wilddichte).
- Hungerstreß.
- Umweltschadstoffe und Umwelteinwirkungen.
Im Kontext der Ergebnisse zur Parasitenbelastung des Rehwildes stehen die anthropogenen Einflüsse durch Erholungssuchende im Wildlebensraum: der Erholungssuchende, von dem Störreize ausgehen, und der Gesundheitsstatus des Rehwildes, der die Reaktion auf die Störwirkungen zum Ausdruck bringt.
Untersuchungen in Großstadtnähe
Die diesbezüglichen Untersuchungsgebiete umfassen drei direkt benachbarte Reviere, die östlich von Köln im Bereich der rechtsrheinischen Nieder- bzw. Mittelterrassen gelegen sind. In allen drei Gebieten wird gejagt, und es herrscht Reitbetrieb. Das östlich an die Stadt Köln angrenzende erste Gebiet gehört zum Staatlichen Forstamt Königsforst. Dieser Bereich ist von einem dichten Netz von Forststraßen, Waldwegen und Trampelpfaden durchzogen und wird während der gesamten Woche intensiv von Erholungssuchenden und Freizeitsportlern genutzt. Abseits der Wege gehende Menschen sowie freilaufende und teilweise stöbernde Hunde werden häufig beobachtet. Selbst nachts sind Jogger mit Taschenlampen anzutreffen.
Das zweite, im Süden angrenzende Gebiet gehört zum Bundesforstamt Wahnerheide. Es wird seit über 100 Jahren als militärisches Übungsgelände genutzt und ist für die Öffentlichkeit eigentlich nur an Wochenenden und gesetzlichen Feiertagen zugänglich. Für die Bevölkerung des Großraumes Köln ist die Wahnerheide zu diesen Zeiten ein bevorzugtes Naherholungsgebiet und wird entsprechend intensiv genutzt. Auch ein unerlaubter Aufenthalt von Zivilisten auf dem Übungsgelände außerhalb der offiziellen Betretungszeiten ist häufig festzustellen. Beide Untersuchungsgebiete liegen naturräumlich im Bereich der rechtsrheinischen Mittelterrasse. Ihre potentiell natürliche Vegetation, ein Eichen-Buchenwald, wurde durch die Anpflanzung von großflächigen Nadelholzreinbeständen zurückgedrängt. Die praktische Jagdausübung ist im Königsforst und in der Wahnerheide nur während der Morgen- und Abenddämmerung möglich.
Wenig gestörte Rehe sind schwer und fit
Das dritte, im Südwesten angrenzende Revier ist ein Gatterrevier, das für die Öffentlichkeit nicht zugänglich ist und seit 1924 durch eine Mauer abgeschlossen ist. Es beheimatet ein Gestüt und zählt naturräumlich zu dem Bereich der oberen Niederterrasse des Rheins. Die Holzbodenfläche ist zu mehr als zwei Drittel mit Laubwald bestockt, der einen hohen Anteil an Stieleiche, Roteiche und Rotbuche aufweist. Um Störungen des Gestütbetriebes zu vermeiden, wird die Jagd überwiegend an Wochenenden ausgeübt. Das Äsungsangebot im Lebensraum bietet dem Rehwild in allen drei Untersuchungsgebieten eine ausreichende und gute Versorgung.
Anhand der Revierkarten und mit Hilfe der zuständigen Revierbetreuer wurde die Parzellierung der Untersuchungsflächen durch das Wegenetz und ihre Benutzung durch Erholungssuchende ermittelt. Weiterhin wurde von den parzellierten Flächen der jeweils größte Abstand zum nächsten Weg gemessen und schließlich die Reduktion der Gesamtfläche durch Wege nach Abzug eines Randstreifens entlang der Wege errechnet.
Die Intensität der Nutzung des Straßen- und Wegesystems wurde geschätzt, indem stark genutzte Straßen und Wege als lineare Störungsquellen angesehen wurden und ein Geländestreifen von 50 Meter (m) Tiefe zu beiden Seiten dieser Wege als tagsüber für Rehwild nicht verfügbar gewertet wurde. Auf der Basis dieser Annahme wurde der resultierende Lebensraumverlust für den jeweiligen Rehwildbestand errechnet. Danach ergibt sich eine durchschnittliche Parzellengröße der Teilflächen im Naherholungsgebiet Königsforst von 7,3 Hektar (ha), im Truppenübungsplatzgelände der Wahnerheide von 28,3 ha und im ummauerten Gehege Röttgen von 93,3 ha.
Die Reduktion der Flächenparzellen beträgt nach Abzug der 50 m breiten Streifen im Naherholungsgebiet Königsforst 58 Prozent (%) und auf dem Truppenübungsplatz Wahnerheide 34 %. Überträgt man die geschätzte Rehwilddichte in allen drei Untersuchungsgebieten von acht Stück pro 100 ha nur auf die von Erholungsdruck störreizfrei nutzbare Fläche, ergibt sich eine geschätzte Wilddichte im Naherholungsgebiet Königsforst von 19 Rehen auf 100 ha, auf dem Truppenübungsplatzgelände Wahnerheide von 12 Rehen/100 ha und im ummauerten Gehege Röttgen von 9 Rehen/100 ha (Tab. 1).
Aus dem Zeitraum von 1988 bis 1996 standen insgesamt 205 Stück Rehwild für die Untersuchung zur Verfügung. 100 Individuen entstammten dem Königsforst, 82 dem Bereich Wahnerheide und 23 dem Revier Röttgen. Hinsichtlich ihrer Altersstruktur bestanden zwischen den Stichproben keine wesentlichen Unterschiede. Als Maß für die körperliche Kondition wurde das Aufbruchgewicht von 29 Rehböcken im Alter von drei oder mehr Jahren aus den Untersuchungsrevieren ermittelt.
Die Aufbruchgewichte der Rehböcke unterschieden sich auch bei Berücksichtigung der geringen Anzahl und der somit notwendigen vorsichtigen Interpretation in den drei Revieren deutlich. Die höchsten Gewichte wurden mit einem Mittelwert von 19,8 Kilogramm (kg) in Röttgen erreicht, die niedrigsten im Königsforst mit einem Mittelwert von 14,8 kg. Der Mittelwert für die Böcke aus dem Bereich Wahnerheide betrug 16,0 kg. Die Aufbruchgewichte der Stichprobe aus Röttgen unterschieden sich signifikant von denjenigen der beiden anderen Gebiete, während der Unterschied zwischen Königsforst und Wahnerheide knapp außerhalb des Signifikanzbereiches lag (p=0,053).
Parasiten in Magen
Langjährige Fallwild-Untersuchungen belegen, dass der Magen-Darmtrakt und die Lungen zu den krankheitsanfälligsten Organen des Rehwildes gehören. Die Auswertung aus Nordrhein-Westfalen aus den Jahren von 1953 bis 1994 belegt, dass rund 45 % der Todes- und Erkrankungsursachen von Rehen auf Entzündung des Magen-Darmtraktes sowie auf eine Parasitierung mit Lungen-, Magen- und Darmwürmern zurückzuführen ist.
Zur Ermittlung der Parasitenbelastung wurden die üblichen Laborverfahren angewendet. Bei der Auswertung wurden die Ergebnisse der verschiedenen makroskopisch und mikroskopischen Nachweisverfahren sowohl für die Magen- und Darmparasiten als auch für die Lungenwürmer zusammengefasst und die Befallsintensitäten mit Werten von 0 (Parasitierung gegen Null) bis IV (massenhafter Befall) angegeben. Für den Königsforst, das Gebiet mit der größten Probenanzahl, wurde der Parasitenbefall zusätzlich getrennt nach Kitzen sowie einjährigen und älteren Stücken erfaßt (Tab. 2).
Frequenz und Intensität der Parasitierung waren in der Stichprobe aus dem Königsforst am höchsten. Am niedrigsten lagen die Werte beim Röttgener Rehwild. Dies gilt sowohl für die Lungenwürmer als auch für die Magen- und Darmwürmer.
Signifikante Unterschiede im Befall mit Magen- und Darmparasiten wurden zwischen den Stichproben aus Röttgen und Königsforst (p
Der Befall mit Parasiten kann insbesondere in der Entwicklungsphase der Kitze deutlichen Einfluß auf die körperliche Entwicklung haben und führt zu Gewichtsverlust. Mangelerscheinungen in der Wachstumsphase können auch bei späterer optimaler Versorgung nicht mehr behoben werden.
Die Einengung des Aktionsradius auf störreizfreie Bereiche, das so entstehende Missverhältnis von Tageseinstand zu Streifgebiet, verbunden mit der dort höheren Wilddichte (auch Rehwild braucht Spielraum zur sozialen Organisation!) und höherer Reinfektion mit Parasiten sowie eine Verschiebung der Aktivitätsphasen in die Nachtperiode sind Belastungen, die sich in ihren Auswirkungen dem Komplex von Stresssymptomen zuordnen lassen.
Die bekannten Anpassungen des Rehwilds vermögen zwar den Eindruck zu erwecken, dass gewisse Störreize quasi wirkungslos bleiben, weil sie für das menschliche Auge keine sichtbaren Reaktionen oder Verhaltensänderungen hervorrufen. Dennoch lösen sie eine Reaktionsbereitschaft und Stoffwechselprozesse aus, die für den Organismus nicht „umsonst“ sind. Sie kosten Energie und verbrauchen Kalorien, die dann nicht mehr für Kondition und Fitness zur Verfügung stehen.
Auch Rehwild braucht Ruhezonen!
Die Ergebnisse der vorliegenden Untersuchung unterstreichen die Notwendigkeit der Schaffung von Wildruhezonen sowie der Anlage möglichst einstandsnaher, störungsarmer Äsungsflächen in Rehwildrevieren mit starker und dauerhafter Beunruhigung durch Erholungsverkehr und weitere Aktivitäten.
Rehwild ist die häufigste und verbreitetste heimische Schalenwildart, die es verdient, dass verantwortlich und sorgfältig mit ihr umgegangen wird. Dies betrifft nicht nur den Jagdbetrieb, sondern auch die „Freizeitbewältigung“ in der Natur. Auch Rehwild braucht Ruhezonen!