Der Pechvogel
„Ich habe eine Sau krankgeschossen. Können Sie mal schauen?“ Der Anruf beim Schweißhundführer klang zunächst nach einer Standard situation. Im Revier offenbarte sie sich als Sammelsurium der gravierendsten Fehler, die ein Schütze begehen kann …
Stefan Mayer
Fast eine Stunde lauert Frank schon auf der Leiter. Lange hat er diesem Moment entgegengefiebert. Jetzt ist es endlich soweit. Seit vier Wochen besitzt er seinen ersten Jagdschein. Vorbildlich hat er den Drilling eingeschossen und damit auch nach der Jägerprüfung noch etwas an seiner Treffsicherheit gefeilt. Nun sitzt der Jungjäger voller Erwartung an einem Gehölzstreifen an, um seinen ersten Rehbock zu erlegen. Plötzlich
macht er eine Bewegung in den Buchen aus. Zwischen den satt grünen Blättern hebt sich etwas Rotes ab. Sofort geht Frank in Anschlag. „Ein Jungfuchs – hundertprozentig“, schießt es ihm durch den Kopf. „Jetzt bloß nichts verkehrt machen!“ Frank spannt die Waffe und
stellt sie auf Schrot um. „Vielleicht kommt er noch näher!“ Aber diesen Gefallen tut der Fuchs dem Jäger nicht. Frank entspannt die Waffe und ist zugleich damit beschäftigt, sich selbst „zu entspannen“. Das Jagd fieber rüttelt ihn kräftig durch. Fast hätte er sie bekommen, seine erste Beute. Die Dämmerung verhüllt die Landschaft zusehends, als
Frank ein stärkeres Knacken am Waldrand wahrnimmt. Noch stärker wird jetzt das Jagdfieber. Voller Aufregung versucht der Jungjäger, die Ursache des Geräusches
auszumachen. Eine kleine Ewigkeit vergeht, bis sich plötzlich etwas Dunkles auf dem Wiesenstreifen abhebt. Ein Überläufer steht nur knapp 40 Schritte entfernt vor der
Leiter. Vor Aufregung ist Frank völlig atemlos. Schnell greift er nach seiner Waffe, das Absehen tanzt wild auf dem Körper des Stückes. Frank entsichert, und als das Absehen günstig steht, drückt er ab. Der Überläufer zeichnet, dreht sich und verschwindet wieder dorthin, wo er hergekommen war. Noch nicht ganz realisierend, was gerade vorgefallen ist,
packt der Jungjäger seine Sachen zusammen und eilt zum Anschuss. Enttäuschung
und Verwirrung sind groß. Denn auch im hellen Schein seiner neuen „Schweißfindelampe“ zeigen sich keinerlei Anzeichen auf einen Treffer. Also beginnt er, den Anschuss in immer
größerem Abstand zu umkreisen. So hatte er es schon einmal bei seinem Jagdherrn
gesehen. Aber auch nach dieser Suche stellt sich kein Fahndungserfolg ein. Die Verzweiflung steht dem Jäger ins Gesicht geschrieben. „Die Sau hat doch gezeichnet, ganz deutlich. Vielleicht steckt sie ja dort in dem kleinen Feldgehölz. Bestimmt ist es ein Steckschuss“, reimt sich Frank die Situation zurecht. Mit vollem Elan durchkämmt er nun das kleine Waldstück. Nach wenigen Metern hört er ein leises Knacken im Unterholz.
Der Überläufer will sich auf der anderen Seite des Gehölzes langsam davonstehlen.
„Also hab‘ ich doch getroffen“, denkt der Jungjäger, „Jetzt nur noch den Fangschuss
antragen, dann habe ich meine erste Sau!“ Gedacht – getan, und schon ist der Drilling im Anschlag. Der Schuss bricht und der Schwarzkittel flüchtet in den nahe gelegenen Wald. „Jetzt muss er aber liegen!“ Doch auch am zweiten Anschuss findet Frank keine Pirschzeichen. Jetzt kann nur noch der Jagdaufseher mit seinem Hund helfen.
Eine Stunde später ist die Korona vollständig um den zweiten Anschuss versammelt. Der verunsicherte Frank, Jagdherr Konrad und der Jagdaufseher mit Vorstehhund „Arco“, seinem vierläufigen „Naturtalent“, das „jedes Stück findet“. Die zwei erfahrenen Jäger nehmen die Umgebung in Augenschein. Nachdem auch sie nichts finden, legt der Jagdaufseher den Hund zur Fährte. Der brave „Arco“ zieht auch sofort heftig in die Richtung, in die das Stück geflüchtet war. Jedoch gelangen die Jäger schon nach kurzer Strecke an ein dichtes Waldgebiet, in das der Hund hineinzieht. Nach dem zweiten unangenehmen Gesichts-Kontakt mit einem dürren Fichtenast beschließt der Jagdaufseher, seinen „Arco“ zu schnallen. „Wenn er frei sucht, findet er besser. Als geborener Totverbeller
ist das ja auch kein Problem für ihn“, versichert er seinen Gefährten. Und so hängt der Rüde in rasanter Jagd der Fährte nach. Im finsteren Wald warten die drei Waidmänner auf den erlösenden Laut des Hundes. Kurze Zeit später ist etwas zu hören. Aber nur ein
kurzer Hetzlaut. Dann ein schrilles Jaulen und Ruhe. Es dauert nicht mehr lange, bis „Arco“ hechelnd von seiner Hatz zurückkommt. Er macht keinerlei Anstalten, die Fährte noch mal aufzunehmen. „Die Sau muss gesund sein“, lautet das Urteil des Jagdherrn, „sonst hätte
‚Arco‘ sie mit absoluter Sicherheit bekommen. Dennoch beschließt die Jagdgesellschaft,
am nächsten Morgen einen Schweißhundeführer zu beauftragen. Sicher ist sicher.
Am frühen Morgen steht nun der sichtlich unausgeschlafene Frank mit dem Nachsuchengespann an der Ansitzleiter. Der Schweißhundeführer lässt Frank die Geschehnisse des Vorabends erzählen. Durch gezielte Fragen macht er sich ein Bild der Ausgangslage. Am ersten Anschuss sind die Eingriffe des Überläufers im weichen Boden zu finden. Weder Borsten, Wildbret noch Schweiß lassen auf einen Treffer schließen. Ein
Kugelriss ist auch nicht auszumachen. Lediglich ein paar feinere Streifen, die aussehen, als wären Geschosssplitter in die Grasnarbe gefahren. Nachdem am Vorabend die ganze Jagdgesellschaft eine „Flächensuche“ veranstaltet hat, ist auch am zweiten Anschuss nicht mehr viel zu finden. Hin und wieder erkennt der Rüdemann ein Trittsiegel einer Sau. „Vielleicht habe ich ja doch gefehlt, vielleicht hat das Stück ja doch nicht gezeichnet. Vielleicht ist das Gewehr nicht richtig eingeschossen“, philosophiert der Unglücksschütze vor sich hin.
Der Schweißhundeführer lässt sich dadurch nicht beeindrucken. Längst hat er den Riemen abgedockt und den Hund zur Fährte gelegt. Quadratzentimeter für Quadratzentimeter buchstabiert der firme Vierläufer den Anschuss. Mit einem Mal bleibt sein Blick für einen Moment still auf den Boden gerichtet. Der Hund verweist. „Da, ein
Kugelriss“, murmelt der Rüdemann, während sein Vierläufer schon mit tiefer Nase bedächtig loszieht. Trotz der wenig erfolgversprechenden Vorzeichen hält der Schweißhund
die Fährte mit großem Willen. Nach rund 2 500 Metern Riemenarbeit bleibt der Rüde
stehen. Sein starrer Blick und sein tiefes Knurren signalisieren dem Führer, dass die gesuchte Sau nicht mehr weit weg sein kann. Ein kurzer Rundumblick verschafft dem
Rüdemann Klarheit. Vor dem Gespann liegt eine dichte Brombeerfläche. Vermutlich steckt der Schwarzkittel dort im Wundbettt. Entsprechend vorsichtig arbeitet sich das
Gespann an den Verhau. Es wäre nicht das erste Mal, dass der Überläufer über Nacht zum kapitalen Keiler herangewachsen ist. Die Spannung des Schweißhundes steigt sichtbar an und plötzlich bricht die Wildsau wie ein schwarzer Pfeil aus dem Dornengestrüpp. Zu schnell für einen Fangschuss. Der Schweißhundeführer überprüft noch schnell das Wundbett. Auf einem trockenen Buchenblatt findet er einen kleinen Schweißtropfen. Die erste tatsächliche Bestätigung, dass die Sau krank ist. Nun wird der Rüde geschnallt.
Nach kurzer Hatz ertönt tiefer Standlaut. „Du bleibst hier!“, sagt der Hundeführer zu Frank und bewegt sich möglichst unauffällig in Richtung des Keifs, um den Überläufer nicht weiter zu beunruhigen. Immer wieder sichert der Rüdemann die Umgebung und wartet auf eine
günstige Situation für den Fangschuss. Doch der Hund ist immer zu nah an der Sau. Mit einem Mal fasst der Vierläufer beherzt zu und hält die Wutz. Schnellen Schrittes eilt der Schweißhundeführer dazu und fängt den Schwarzkittel mit der kalten Waffe ab. Von der Arbeit des Gespannes beeindruckt, steht Frank völlig erschöpft, aber überglücklich vor seinem ersten Stück Schwarzwild. Einige Fragen klären sich beim Bergen und Versorgen. Ein Kugelschuss hatte eine Keule der Sau gestreift, ohne einen Knochen zu treffen. Der Schweißhundeführer hat eine Vermutung. „Darf ich?“, bittet er den Jungjäger und greift zu dessen Drilling. Mit bleichem Gesicht überreicht dieser die Waffe. Als der Rüdemann sie öffnet, wird seine Vermutung bestätigt. In den Laufbündeln stecken jeweils eine abgeschossene Kugel- und eine Schrothülse sowie eine noch nicht verschossene Schrotpatrone. Nicht genug damit, dass Frank den Drilling über Nacht nicht entladen hatte
– er hatte beim ersten Schuss auch vergessen, von Schrot auf Kugel umzustellen. Der erste Schuss traf die Sau demnach mit Schrot. Aufgefallen war dies Frank aber erst, als er zum zweiten Mal schießen wollte, da stellte er schnell auf Kugel um. Dem Nachsuchenführer hatte er diesen Vorfall allerdings verschwiegen! „Vergessen – im Eifer des Gefechts – vor lauter Aufregung“, lautete die gestammelte Entschuldigung.
Jetzt klärten sich auch die feinen „Kugelrisse“ am ersten Anschuss. Ein Schrot hatte der Sau das Vorderlaufgelenk zerschlagen und ein paar Körner waren sogar in die Lunge eingedrungen, aber nicht tödlich. Einer anfänglichen Sprachlosigkeit des Schweißhundeführers folgten massive Worte. „Pechvogel“ war noch der harmloseste Begriff, der dabei fiel. Tatsächlich hatten Frank und seine Mitjäger alles verkehrt gemacht, was man in einer solchen Situation nur falsch machen kann. Sei es vom nicht inwandfreien
Handhaben der eigenen Waffe über das selbst ständige Nachsuchen bei Nacht bis hin zum Verschweigen eigener Fehler.