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Der Bockaholic

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Pirsch in Schonen

Pirsch in Schonen
Südschweden ist der Traum vieler Jäger, denn starke Böcke gehören dort zur Tagesordnung. Simon Obermeier begleitete einen dänischen Waidmann auf der Pirsch in einem der besten Reviere dieser Region.

Der Morgennebel ist eben erst der Sonne gewichen. Noch ist es kühl an diesem Tag Mitte August. Erik Hahn Pedersen, ein schlanker, sehniger Däne, dreht langsam seinen Kopf. Im Augenwinkel hat er eine Bewegung wahrgenommen. Zielstrebig zieht ein Bock durch die goldgelben Weizenhalme. Dennoch wirkt er erschöpft, die Brunft ist am Abklingen. Die Böcke suchen nach den letzten Möglichkeiten, ein Stück zu beschlagen. Erik zieht den Buttolo-Blatter aus seinem Mund und nimmt bedächtig das Pirschglas hoch. Man merkt ihm dennoch die Anspannung an, denn er kennt den Rehbock und weiß, der ist reif. Seine Stangen sind leicht nach hinten gekrümmt, die Basis wirkt kräftig. Erik bezeichnet ihn als einen „alten Kämpfer“. Für einen Schuss ist es aber noch zu weit. Das Blatt des Bockes ist von den Ähren zu sehr verdeckt. Obwohl der Däne in seinem Leben bereits etwa 300 Böcke, davon rund 100 Medaillen-Böcke, gestreckt hat, steigt sein Pulsschlag. Denn in lang gezogenen Sprüngen überwindet das Stück plötzlich quer vor ihm Meter um Meter. Es bleibt nur eine Chance: soweit wie es geht die Schneise zwischen den beiden Weizenschlägen entlang vorgehen. Verließe der Bock das Getreide, blieben Erik immerhin einige Sekunden, bevor der Gehörnte in den benachbarten Schlag einwechseln würde. Schnell muss es gehen, aber dennoch mit Bedacht und ohne Hektik. Tief gebückt schafft er so die ersten 100 Meter, die Waffe in der Rechten, den ausklappbaren Zielstock in der Linken. Der Bock zieht mittlerweile wieder langsam und gemächlich. Bis zur Schneise sind es kaum noch mehr als 20 Meter. Erik ist auf eine sehr gute Schussentfernung rangekommen. Mit vorsichtigen Handgriffen platziert er den Zielstock, legt die .243er-Repetierbüchse darauf ab, geht in Anschlag und entsichert. Der Bock verhofft direkt am Rand des Schlages. Er äugt in Richtung des Jägers, hebt das Haupt und versucht, Wind zu holen. Bange Sekunden. Dann senkt er den Träger, zieht noch drei Meter weiter und erreicht die Schneise. Der Schuss bricht, und der Bock verschwindet in dem noch vom Morgentau nassen, kniehohen Gras. Den Knall hatte er nicht mehr vernommen – keine
Flucht, kein Schlegeln. Dann bricht es aus dem sonst so ruhig erscheinenden Dänen
hervor. Ein Schrei der Erleichterung. Eine fast kindlich wirkende Freude über den Bock, der etwa 100 Meter von ihm entfernt liegt. Am erlegten Stück schätzt ihn der passionierte und erfahrene Bockjäger auf einen Bronzemedaillen-Bock, vielleicht bringe er sogar eine Silbermedaille. Aufgebrochen dürfte er etwa 25 Kilogramm wiegen.

Der Name des Jagdgebietes, in dem wir uns befinden, soll geheim bleiben. So ist es mit den Verantwortlichen vereinbart. Sie wollen Ruhe und keinen allzu großen Rummel, denn schließlich fallen in dem etwa 700 Hektar großen Areal jedes Jahr einige der stärksten Böcke Schwedens. Soviel kann gesagt werden: Die Gegend befindet sich in der Nähe von Helsingborg in Schwedens südlichster Provinz Schonen. Schonen ist der Traum vieler
Bockjäger – weltweit bekannt für seine starken Gehörne. Auch der bisher stärkste Bock der Welt mit 246,9 CIC-Punkten und einem Trophäengewicht von 875 Gramm stammt aus dieser Gegend. Eine Region, die mit ihren schweren, nährstoffreichen Tonböden allein etwa ein Drittel des schwedischen Agrarbedarfs deckt. Riesige Getreideschläge prägen diese Landschaft, durchzogen von zahlreichen Heckenstreifen und eingesprengten Kiefernwäldchen. Ein Paradies für das Rehwild, wie nicht zuletzt die Trophäenstärke belegt.
Mit fachmännischem Blick mustert Pedersen den Bock. Er betastet die Rosenstöcke und die Rosen, prüft die Perlung. Sein Zeigefinger gleitet in den Äser, um den Zahnabschliff zu taxieren. Der Jäger macht einen zufriedenen Eindruck. Er holt das Smartphone aus der Jackentasche, fotografiert den Schonen- Bock und schickt das Bild an seine Mitjäger. Kaum eine Minute vergeht, da zerreißt ein weiterer Schuss die morgendliche Stille. „Das war Jens!“, sagt der Däne. Jens ist ein ebenfalls aus Dänemark stammender Jagdfreund, der etwas entfernt einem anderen Bock nachstellte. „Ich hoffe, er hat ihn“, sagt Erik. „Das
ist ein Rehbock, der noch wesentlich stärker ist als der hier. Jens‘ Fotos nach zu urteilen ein Goldmedaillen-Bock.“ Man merkt schnell, dass die Jäger ihr Rehwild genau kennen, von fast allen Gehörnten haben sie über die Jahre hinweg Fotoserien erstellt und dokumentiert, wie sich die Stücke entwickeln. Der aufgebrochene Bock ist rasch im Geländewagen verstaut. Am vereinbarten Treffpunkt wartet bereits Jens, ein sportlicher, durchtrainierter Mann. Schon auf den ersten Blick ist ihm die Freude anzusehen. Vor ihm liegt ein Bock zur Strecke, der das Herz eines jeden Jägers höher schlagen lässt: starke Stangen, starke Perlung, starke Höhe. Die Goldmedaille, wie es Erik schon vermutet hatte, dürfte die Trophäe wohl bekommen.

Worin liegt das Geheimnis solch starker Böcke in diesem Revier? „Wenn man starkes Rehwild haben will, gelten folgende Grundsätze: den Finger gerade lassen können, ein gutes Fernglas zum Ansprechen besitzen und eine gute Beziehung zum Reviernachbarn pflegen“, ist Erik Pedersen überzeugt. Jährlich werden in dem rund 700 Hektar umfassenden Revier drei bis vier Medaillen-, ebenso viele Abschussböcke und zehn möglichst schwache Kitze beiderlei Geschlechts erlegt, die Geißen weitgehend geschont.
Pedersen geht davon aus, dass generell 95 Prozent der männlichen Stücke zu jung erlegt werden. Er versucht, die Böcke aus der mittleren Altersklasse rauswachsen zu lassen. Erst dann könne man wirklich erkennen, in welche Richtung sie sich entwickeln würden, so der Däne. Dabei kommt ihm in seinem Revier nahe Helsingborg ein überraschender, wenn auch seltener Umstand entgegen: Im Nordwesten des Areals grenzt ein etwa 800 Hektar großes Grundstück, das sich im Besitz einer alteingesessenen Familie befindet. Der Clou dabei ist, dass das Rehwild dort nicht bejagt wird, es soll Ruhe haben. Zugleich sind die Besitzer
der Jagd aber keineswegs abgeneigt und freuen sich, wenn einer ihrer alten Recken im Nachbarrevier gestreckt wird. Erik ist überzeugt, dass diese Faktoren ausschlaggebend dafür sind, dass Trophäengewichte zwischen 400 und 600 Gramm keine Seltenheit sind. Aber auch die Fütterung in einigen der inselartig in der Landschaft verteilten Einstände dürfte ihr Übriges dazu beitragen.

Es ist Abend geworden, und Erik ist erneut im Revier unterwegs. Diesmal führt ihn sein Freund, der Schwede Dan Persson. Persson ist ebenfalls ein „Bockaholic“ – ein  Bockfanatiker. Genau wie Erik, welcher Direktor bei Europas größter Jagdreiseagentur
ist, ist Persson eine bekannte Person in der europäischen Jagdszene. Beide waren schon diverse Male Protagonisten in Filmen zur Rehwildjagd. Dan wohnt unweit des Revieres und betreut es, bestätigt Böcke und kümmert sich um die Hege. An diesem lauen Sommerabend wollen es die beiden Jäger auf einen alten Recken versuchen. Sein Streifgebiet liegt unmittelbar neben einer kleinen Straße. Immer wieder wurde er dort bestätigt. Pirschte man ihn allerdings in dem kaum Deckung bietenden Gelände an, so führte er die Jäger schon mehrmals an der Nase herum. Immer wieder glasen Erik und Dan die leicht hügelige, aber gut einsehbare Gegend vor ihnen ab. Nichts tut sich. Kein Stück Rehwild kommt in Anblick. Vielleicht hat sich der Gesuchte irgendwo in einem der Raps- oder Getreideschläge niedergetan – müde von dem kräftezehrenden Ringen und Werben um die weiblichen Stücke. Am Rande eines Haferfeldes beziehen sie Position, stellen den Zielstock auf und warten ein paar Minuten. Dann beginnt Erik mit seinem Buttolo-Blatter die erste Arie. Doch erneut bleibt die Szenerie vor ihnen ruhig und leer. Gerade kampfeslustige Böcke, zu denen er den Bestätigten zählt, versucht der Däne mit eindringlichen und lauten Fieptönen zum Zustehen zu bewegen. Von Zeit zu Zeit mit einem Schlagen von Zweigen kombiniert, wodurch den Böcken das Plätzen eines Rivalen vorgetäuscht wird. Immer wieder lässt Erik die hitzigen Sprengrufe erklingen. Es beginnt bereits merklich zu dämmern. Und die Hoffnung der  beiden Jäger, heute noch Erfolg zu haben, schwindet. Ein letzter Versuch: Piu – piu – piuuu. Dan Persson deutet mit dem Finger auf die Grenzlinie zwischen dem Hafer- und dem Rapsfeld. Da kommt er, stellt sich breit, und Erik lässt die Kugel fliegen. Der Alte macht nur noch eine kurze Todesflucht, ehe er verendet liegen bleibt. Im Lichtkegel der Taschenlampe glänzen matt die Lichter des Stückes, als sich ihm Schütze und Pirschführer nähern.

Ein Tag, zwei Jäger, drei Medaillenböcke in einem der besten Rehwildreviere Schonens. Zwei der Böcke werden Eingang in die 100 Quadratmeter große Trophäenhalle von Erik finden. Auf die Frage, was ihn an der Bockjagd so fasziniert, antwortet er, dass Jeder Bock anders sei, jedes Erlebnis neu und auf seine Weise immer wieder faszinierend. Obwohl er weltweit schon starke Böcke erlegt hat, ist das Urteil des „Bockaholics“ deutlich: Es geht nichts über die Recken in Schonen.


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