SAUEN
Schwarzwild gehört zu den „Gewinnerarten“. Wie die Tageslichtdauer und andere Umwelteinflüsse die Erfolgsstrategie beeinflussen, hat sich Dr. Ulrike Weiler genauer angeschaut.
Markus Deutsch
Wetzen und Kieferklappen dringen durch den Bestand. Ab und an mischen sich Quieken und Rascheln dazwischen. Es ist Mitte Dezember, das Schwarzwild in Hochzeitsstimmung und die Rausche in vollem Gange. Dass die Paarungszeit unserer Schwarzkittel in der Regel in die dunkle, kalte Jahreszeit fällt, hat seinen Grund: So wird sichergestellt, dass nach ungefähr 115 Tagen Tragdauer die Frischlinge im Frühjahr zur Welt kommen, wenn sie die besten Überlebenschancen haben. Als besonders anpassungsfähige Wildart verfügen Sauen über höchst anspruchsvolle Mechanismen, die es ihnen erlauben, ihre Lebensfunktionen an wech selnde Umweltbedingungen anzupassen. Diese Anpassungsfähigkeit ermöglicht das enorme Verbreitungsgebiet und das derzeit ungebremste Anwachsen der Population. Die körpereigenen Mechanismen gewährleisten, dass das Wild in der Lage ist, Rausche, Wachstum und Bilden von Energiereserven, optimal an die saisonalen Umweltveränderungen anzupassen und diese Anpassungen rechtzeitig einzuleiten. Insbesondere Zeitpunkt und Ausmaß der Fortpflanzung werden beim Schwarzwild durch unterschiedliche Umweltsignale gesteuert. So ist für den prinzipiellen saisonalen Ablauf der Paarungsaktivität die Veränderung der Tageslichtdauer (Photoperiode) verantwortlich, während durch Pheromone (Botenstoffe) die Feinsteuerung zwischen Keilern und Bachen sichergestellt ist.
Die Saisonalität der Fortpflanzung sorgt dafür, dass die Paarungen auf einen engen Zeitraum begrenzt werden. Zusätzlich werden auch Laktation, Wachstum und Reservenbildung in jeweils günstige Jahreszeiten verlegt. Durch diesen Mechanismus ist sichergestellt, dass es keine Konkurrenz zwischen den Leistungen gibt. Bei Sauen sind bisher nur einige dieser Anpassungsmechanismen in Intensivstudien untersucht worden. Deshalb wird im Folgenden teilweise auf Beobachtungen beim Hausschwein zurückgegriffen, da die gleichen biologischen Steuerungsmechanismen auch noch bei der domestizierten Art nachweisbar sind. Beim Schwarzwild wird die Anpassung an die saisonalen Umweltveränderungen in erster Linie durch die sich stets verändernde Tageslichtdauer gesteuert. Das konnte durch Versuche an Wildsauen unter Stallhaltungsbedingungen mit einem Lichtprogramm nachgewiesen werden. Es simulierte die Veränderungen der Photoperiode um ein halbes Jahr versetzt (HOFÄCKER 1992, WEILER et al. 1996).
Der Verlauf wesentlicher Leithormone für Fortpflanzung, Wachstum und Reservenbildung in Abhängigkeit von der Tageslichtdauer sind in den Grafiken auf der folgenden Seite für einen Keiler dargestellt. Testosteron ist das Leithormon für die Reproduktion, der Wachstumsfaktor IGF-I ist das Leithormon der Proteinsynthese und damit des Muskel- und Knochenaufbaues, Insulin das des Fettaufbaus und damit der Reservenbildung. Es wird deutlich, dass sich im Jahreslauf unterschiedliche Schwerpunkte herauskristallisieren: Abnehmende Tageslichtdauer wie im Spätherbst – ganz gleich ob natürliche Photoperiode oder als Lichtprogramm – stimuliert die Hodenfunktionen, wie anhand der Testosteronproduktion deutlich wird. Hierdurch werden Phänomene wie die Spermienbildung oder spezifische Verhaltensweisen (hohe Libido,
Aggressionsverhalten gegenüber anderen männlichen Stücken) rechtzeitig vor der Paarungszeit optimiert (SCHOPPER et al. 1984).
Allerdings zeigt die Testosteronbildung auch, dass zusätzlich im Mai und Juni eine klar abgegrenzte zweite Phase erhöhter Hodenaktivität auftritt, während im Frühjahr und im Sommer die Hodenfunktion nahezu zum Erliegen kommt. Diese zweite Phase spielt vor allem dann eine Rolle, wenn Bachen im Herbst bzw. Winter nicht erfolgreich beschlagen wurden oder ihre Frischlinge früh verloren haben und viel Fraß vorhanden ist (MAUGET 1982).
Die zunehmende Tageslichtdauer diktiert eine andere Schwerpunktsetzung im Stoffwechsel: Diese Lichtbedingungen führen zunächst zu einer reduzierten Hodenfunktion. Gleichzeitig werden Wachstumshormone und der davon abhängige Wachstumsfaktor IGF-I freigesetzt. Das fördert bei den Bachen die Laktationsleistung und bei Jungtieren das Wachstum. Im Spätsommer löst die abnehmende Tageslichtdauer das Bilden von Energiereserven aus. Durch eine erhöhte Insulinbildung wird die Fraßaufnahme angekurbelt und die Fetteinlagerung gefördert. Die Reservenbildung endet beim Keiler, wenn die Rauschzeit beginnt.
Diese saisonale Schwerpunktsetzung spiegelt sich auch im Gewicht der Stücke wider: Sexualhormone haben eine stark hemmende Wirkung auf die Futteraufnahme. Selbst bei Keilern unter Stallhaltungsbedingungen kommt es auch ohne Kontakt zu Bachen in dieser Zeit zum fast vollständigen Erliegen der Futteraufnahme für vier bis sechs Wochen. Beim Lichtprogrammversuch wurden Gewichtsverluste von etwa 25 Prozent (%) der Lebendmasse im Zeitraum der theoretischen Rauschzeit beobachtet (HOFÄCKER 1992). Allerdings schützen die hohen Androgenkonzentrationen (Sexualhormone) in dieser Zeit den Körper vor exzessivem Proteinverlust, während hohe Wachstumshormonwerte die Fettmobilisierung fördern. Da Fortpflanzung bedeutet, dass zusätzliche Energie zur Verfügung gestellt werden muss, ist bei weiblichen Tieren vieler Spezies der Pubertätseintritt indirekt über die Körperentwicklung und den Fettgehalt des Körpers an das Fraßangebot gekoppelt. Bei männlichen Tieren ist das energetische Risiko der Pubertät geringer, sodass der Einfluss der Energieversorgung schwächer ist. Allerdings lässt er sich auch nachweisen: Bei zwei unterschiedlich starken Wurfgeschwistern, „Joop“ und „Joschka“, wurde der Gewichtsverlauf und die Bildung des Hodenhormons Testosteron in den ersten neun Lebensmonaten unter Stallhaltungsbedingungen dokumentiert (siehe Grafik Seite 17).
Die durchschnittliche tägliche Zunahme bei unbegrenztem Fraßangebot im Stall lagen bei den wachsenden Keilern etwa bei 250 Gramm (g) und damit bei einem Viertel der Wachstumsleistung parallel untersuchter Hausschweineber (WE I L E R et al. 1998). Während „Joop“ überdurchschnittlich wuchs und bereits mit neun Monaten etwa 80 Kilogramm (kg) Lebendgewicht aufwies, war bei seinem Wurfgeschwister „Joschka“ das Wachstum verzögert. Er wog im gleichen Alter nur etwa 30 kg.
Die ungenügende körperliche Entwicklung führte dazu, dass bei diesem Stück trotz abnehmender Tageslichtlänge kein Testosteronanstieg nachweisbar war, beziehungsweise keine Pubertät auftrat, während die Werte bei „Joop“ denen erwachsener Keiler entsprachen. Das Körpergewicht hat also Auswirkungen auf den Pubertätseintritt. Die stimulierende Photoperiode kann ihre Wirkung folglich nur entfalten, wenn die Körperentwicklung weit genug fortgeschritten ist.Bei weiblichen Stücken ist die Fraßaufnahme saisonal etwas anders als bei den Keilern, aber auch hier besteht eine Beziehung zwischen Reproduktion und Fressverhalten. In einem Projekt wurde die Fraßaufnahme einer nicht beschlagenen Bache über zwei Jahre beobachtet. In den Rauschephasen nahm sie kurzfristig weniger Fraß auf. Zeitgleiche Messungen der Sexualhormone über kürzere Zeiträume zeigten, dass die reduzierte Fraßaufnahme mit den zyklisch erhöhten Estrogenwerten übereinstimmten (H O F Ä C K E R 1992). Im Juli/August war bei der Bache die Fraßaufnahme eingeschränkt. Die Reservenbildung erfolgt also bei Bachen später im Jahr. Damit unterscheidet sich das saisonale Muster vom jahreszeitlichen Verlauf der Fraßaufnahme der Keiler.
Beim Hausschwein wurde in vielen Studien nachgewiesen, dass Pheromone und die soziale Hierarchie die Regulation der Reproduktionsfunktionen beeinflussen: Als Pheromone sind dabei für Haus- und Wildsauen bisher lediglich die Komponenten des Ebergeruchs Androstenon und Androstenol eindeutig nachgewiesen. Weibliche Pheromone wurden noch nicht identifiziert. Die angenommene Rolle der Leitbache, den saisonalen Zyklusstart der Rotte über Pheromone auslösen zu können, muss auf der Basis vergleichender Studien bei den Hausschweinen deshalb kritisch gesehen werden. Beim Hausschwein ist davon auszugehen, dass die Pheromone des männlichen Tieres der eigentliche Auslöser sind. Das schließt allerdings nicht aus, dass in isolierten rein weiblichen Gruppen eine Zyklussynchronisation auftreten kann. Biologisch sinnvoll ist es allerdings, wenn sich der saisonale Zyklusstart an der Anwesenheit des männlichen Tieres ausrichtet.
Eher denkbar ist der Einfluss der Leitbache auf das Unterdrücken der sexuellen Entwicklung von Frischlingsbachen. Dass sich die Rangordnung auf die Pubertätsentwicklung auswirkt, ist bei Hausschweinebern durch Studien gut belegt. Die Bildung der Sexualhormone ist bei rangniedrigen Tieren im Vergleich zu hochrangigen Tieren stark vermindert (G I E R S I N G et al. 2000). Dass die geschilderten, meist unter Stallbedingungen gemachten Beobachtungen auch auf die Wildbahn übertragbar sind, bestätigt eine Gemeinschaftsstudie der Universität Hohenheim (Fachgebiet Verhaltensphysiologie landwirtschaftlicher Nutztiere) und der Wildforschungsstelle Aulendorf. Über drei Jahre hinweg (2002 – 2005) wurden in Hohenheim bei insgesamt 357 erlegten Schwarzkitteln (Altersspanne 3 – 54 Monate) aus dem Waldgebiet Schönbuch Blut- und Fettproben gesammelt und ausgewertet sowie der Mageninhalt auf Energiegehalt und Verdaulichkeit untersucht. In den Proben der männlichen Stücke zeigte das Pheromon Androstenon im Fettgewebe und der Wert des für den Muskel- und Knochenaufbau beinflussenden IGFI-Hormons im Blutplasma ähnliche Konzentrationsschwankungen wie bei Keilern unter Stallhaltungsbedingungen. Auch bei den erlegten Bachen zeigte sich trotz des sehr ungleichmäßigen Probenanfalls im Jahresverlauf ein ähnliches Muster beim IGF-I-Wert wie beiden Bachen in der eingangs geschilderten Studie.
Die wesentliche Bestimmungsgröße für die Fortpflanzung beim Schwarzwild ist also die saisonale Steuerung durch die sich verändernde Tageslichtdauer. Die Ernährungslage spielt nur dann eine Rolle, wenn sie die Reproduktion verhindert, weil nicht genügend Fraß vorhanden ist. Eine gute Nahrungsversorgung wirkt sich auf einen früheren Pubertätseintritt und eine möglicherweise zunehmende Bedeutung der zweiten Rausche (April/Mai) aus. Ein gutes Fraßangebot hebt jedoch nicht die Saisonalität auf. Es führt auch nicht zum Rauschen zur Unzeit, da eben auch andere Leistungen, wie Wachstum oder das Bilden von Energiereserven, auf die Jahreszeiten abgestimmt ablaufen müssen, die ansonsten zu Konkurrenzbedingungen führen würden. Die Bedeutung sozialer Einflüsse und der Pheromone auf den Reproduktionszeitplan muss noch eingehender untersucht werden. Gegenüber den anderen Faktoren ist sie aber eher untergeordnet.