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Ruf der Wildnis

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ELCHJAGD IN KAMTSCHATKA

Unendliche Weiten, Bären und starkes Elchwild. Auf dem Pferderücken fordert die Jagd in unberührter Natur dem Jäger vieles ab. Nichts für schwache Hintern und Nerven.

Armin Lobscheid

Kurz nach dem Aufstehen fallen zwei Schüsse. Sie kommen genau aus der Richtung, in der wir gestern Abend den ersten jagdbaren Elch gesehen haben. Leider sind wir ihm genau in den Wind geritten, und so schnell er aus dem Nichts aufgetaucht war, war er auch schon wieder verschwunden. Ein gewaltiger Hirsch mit weiter Auslage. Eine gute Stunde später sehen wir auf der anderen Flussseite ein Camp, Pferde und zwei Männer. „Vermutlich Wilderer“, so Simon, einer der beiden erfahrenen Jagdführer. Die Schüsse vom Morgen erhärten seinen Verdacht. Auch wenn sich meine Begleiter Simon und Andre alle Mühe geben, alles normal erscheinen zu lassen, so habe ich doch das Gefühl, dass sie sichtlich beunruhigt sind. Es geht weiter Richtung Osten auf die hohen Berge zu. Wir achten darauf, nicht gesehen zu werden. Mit Schwarzgehern ist in diesem Land nicht zu spaßen.

Vom Pferderücken aus können die Jäger interessante Freiflächen einsehen. Eine Pirsch zu Fuß wäre wegen des hohen Grases sinnlos.
Gegen Mittag biegen wir nach Norden ab, und die beiden werden langsam entspannter. Als wir in etwas offeneres Gelände kommen, sehe ich plötzlich circa 80 Meter rechts von mir eine Bewegung – ein Bär! Ein kurzes „Psssst“ und ein Fingerzeig nach rechts, dann runter von den Pferden und durchladen. „Guter Bär, schießen“, flüstert Simon. Der Bär hat uns nicht bemerkt und zieht ruhig vor sich hin. Jedoch von uns weg. Ich versuche mit dem Reithandschuh an einem der Sträucher

etwas Halt zu finden, um besser schießen zu können. Leider ist die Rückenlinie von den Dornen verdeckt. Ein sauberer Schuss ist nicht möglich. Simon pfeift. Der Bär verhofft und richtet sich auf. Ich halte über die Sträucher an, bin mit dem Absehen genau am oberen Rand der Kammer. Er ist nicht weiter als 100 Meter entfernt. Perfekt! Obwohl ich ruhig im Ziel bin, bekomme ich den Finger einfach nicht krumm. Ein Wink von Diana, denn in dem Augenblick, als ich doch noch abdrücken will, sehe ich im Zielfernrohr eine weitere Bewegung. Dann noch eine. Es sind die zwei Jungen, die wir in dem hohen Bewuchs nicht sehen konnten. Wieder geht‘s auf die Pferde. Es ist atemberaubend, durch diese unberührte Wildnis zu reiten. Unendliche Weiten und der „Indian Summer“ zeigen sich von ihrer schönsten Seite. Es ist so unglaublich still, dass man den Schrei des Adlers über Kilometer weit hören kann. Hinter jeder Biegung ergibt sich ein neues faszinierendes Landschaftsbild. Birken, Eschen und Pappeln sind die Hauptbaumarten. Hecken, Gehölze und offene Gras- oder Dornenflächen wechseln sich ab. Dabei sind Gras und Sträucher so hoch, dass man nur vom Pferderücken aus darüber hinwegschauen kann. Daher sitzt man die meiste Zeit des Tages im Sattel oder sucht sich in den Pausen einen Baum als Hochsitz.

Die Pferde müssen hier enorme Leistungen vollbringen, und der Ausfall eines Pferdes kann für den Erfolg oder Misserfolg der ganzen Jagd entscheidend sein. Entsprechend sorgsam geht man beim Satteln und Bepacken vor: Alles wird so verteilt, dass jede Packtasche das gleiche Gewicht hat und vor allem nicht scheuern kann. Die Bequemlichkeit des Reiters ist dabei sekundär. Als die Dämmerung beginnt, finden wir an einer Flussbiegung einen guten Lagerplatz. Dort heißt es absatteln, Pferde versorgen und Feuer machen. Bis das Teewasser kocht, sind die Zelte aufgebaut und alles ist verstaut. Wir müssen uns beeilen, denn Kälte und Dunkelheit sind schnell zu dieser Jahreszeit.

Am nächsten Morgen grinst mich Andre an. „Aus dem Indianer-Sommer ist Kamtschatka-Herbst geworden“, sagt er. Es ist eiskalt, geschätzte zehn Grad minus. Der Bach ist am Rand dick vereist. Kurz nach dem Aufbruch macht Simon einen jungen Elch in einer Hecke aus. Mit dem aus Birkenrinde selbst gebastelten Elchruf lockt er den Hirsch bis auf gute 150 Meter ran. „Wenn ich jetzt nochmal rufe, nimmt er uns an“, sagt er. So verlassen wir den Liebeshungrigen leise.

In den Reitpausen dienen Bäume als Ausguck oder Hochsitz.

Plötzlich stolpert mein Pferd an einer matschigen Böschung, ich mache eine saubere Rolle über den Hals in die Dornen. Nach einem kurzen Blessurencheck sind wir wieder im Sattel. Gegen Mittag kommen wir aus einem Gehölzstreifen und reiten einem mächtigen Bären, der circa 100 Meter von uns entfernt ist, in den Wind. Simon schätzt ihn auf über 550 Kilo. Noch bevor wir reagieren können, hat uns der Bär bemerkt und sucht das Weite.

Auf dem Packpferd wird die Trophäe ins Lager transportiert. Die geschulten Vierbeiner sind in dieser Wildnis unersetzbare Jagdhelfer.

Wenig später entdecken wir einen jungen Elch-Hirsch und zwei Tiere. Die Spannung steigt. In Schlangenlinien durchkämmen wir das Gehölz und suchen jede kleine Freifläche ab. Nach einer kurzen Ewigkeit weist Simon auf eine Baumgruppe ungefähr 150 Meter von uns entfernt. Er flüstert: „Elch!“ Schnell sind wir von den Pferden runter, und ich repetiere durch. Andre zieht langsam an mir vorbei und nimmt die Pferde mit. Jetzt geht alles rasend schnell. Simon schaut durch‘s Glas, ich durch‘s Zielfernrohr. Ich sehe mächtige Schaufeln und in einer Lücke das Schulterblatt des Bullen. Als ich mit dem Absehen Richtung Blatt wandere, höre ich leise: „Sehr groß, schieß ihn!“ Bei „ihn“ ist der Schuss auch schon raus. Bevor ich nachgeladen habe, ist die Bühne leer. Simon schaut mich an und sagt: „Vorbei!“ „Nein“, antworte ich, „ich war sauber drauf und habe auch den Kugelschlag gehört!“ Wir laufen zum Anschuss. Nichts – also weiter! Im Abstand von zehn bis 15 Meter voneinander laufen wir in die Fluchtrichtung. Nach 50 bis 60 Metern sagt Simon nochmal: „Nichts – vorbei!“ Aber ich bestehe darauf, dass wir weitergehen. Keine 20 Meter entfernt fallen wir fast über den starken Elch-Hirsch. Große Freude macht sich bei allen breit, mit einem kräftigen Waidmannsheil fallen wir uns in die Arme. Alle Anstrengungen, der wund gerittene Hintern, alles ist in diesem Moment vergessen. Simon und Andre holen die Pferde, und ich bin eine gute Viertelstunde allein mit meinem Elch. Halte Totenwache in der rauen Wildnis.

Die letzten Meter zum Basiscamp legt die Trophäe im Boot zurück.
Luxus – Fehlanzeige! Die spartanische Jagdhütte passt in die wilde Natur. Sie ist nur mit dem Notwendigsten ausgestattet.

Der Hirsch ist auch mit drei Männern nicht zu bewegen – es liegen geschätzte 800 Kilo. Wir schlagen die Oberseite aus der Decke, lösen Blatt und Keule aus und schälen das Fleisch von Rücken und Rippen herunter. Erst dann können wir ihn auf die andere Seite drehen und das gleiche Spiel von vorne anfangen. Die Knochen werden ausgelöst und das gesamte Wildbret zum Auskühlen auf ein selbst gebautes „Lattenrost“ aus Ästen und Stangen gelegt. Zum Schluss wird das Haupt abgeschlagen. Keine zweieinhalb Stunden und alles ist fertig. Wir auch. Das ist Schwerstarbeit! Wir hängen all unsere entbehrlichen Jacken und T-Shirts zum verwittern in die Bäume, für eine Nacht soll das die Bären fernhalten. Eine Filetrolle kommt in die Satteltasche fürs Abendessen, und dann wird es Zeit, uns auf den Weg zu machen, damit wir unser Lager vor Einbruch der Dunkelheit erreichen.

Morgens holen wir das zurückgelassene Fleisch. Am Elch angekommen, halten wir erst einmal mit entsicherter Waffe nach Bären Ausschau. Dann verstauen wir die geschätzten 250 Kilo Wildbret in den Satteltaschen und machen uns auf den Rückweg. Gegen Mittag erreichen wir das Camp. Hier müssen wir zwei Stunden Pause für die Pferde einlegen, bevor wir uns nun auf den Weg zum Basislager machen. Mit einem kleinen Teil des Fleisches und dem Nötigsten unserer Ausrüstung machen wir uns auf den Weg, der Rest an Fleisch wird in Plastiksäcke eingerollt und im Bach gelagert, die Ausrüstung in die Bäume gehangen. Simon und Andre werden sie später holen.

Der Erleger mit seinem kapitalen Elch-Schaufler. Solch starke Trophäen sind auch in Kamtschatka nicht alltäglich.

Nach sechs Tagen schockt mich der weitere Verlauf nicht mehr. In einem gewaltigen Ritt von viereinhalb Stunden, zum größten Teil im Trab, schaffen wir die Strecke bis zum Basislager. Die letzten anderthalb Stunden davon im Dunklen. Meist durch dichtes Geäst, welches mir immer wieder ins Gesicht schlägt. Das abrupte Rauf und Runter in der Dunkelheit über die steilen Böschungen ist sehr abenteuerlich. Ich bin heilfroh, als wir die Lichter des Hauptlagers sehen. Jetzt müssen wir „nur“ noch durch den Fluss, was in der Finsternis auch eine Herausforderung ist. Erschöpft und überglücklich sitze ich vor der Hütte und darf diese Jagd im Geist immer wieder durchleben. Ich weiß schon jetzt: Ich werde ihm wieder folgen – dem Ruf der Wildnis.

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