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Ruhig, Roter!

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ROTWILDKONZEPT SÜDSCHWARZWALD

Jagd, Forst, Naturschutz, Tourismus – das Rotwild weckt Sehnsüchte, aber auch Vorbehalte. In einem baden-württembergischen Rotwildgebiet wird seit fünf Jahren versucht, gemeinsam einen Weg zu gehen. Eine Zwischenbilanz.

Simon Obermeier

Rotwildgebiet Südschwarzwald, Kernbereich, Wildruhezone – Drückjagd: Die Oktobersonne wirft ihre Strahlen durch die Äste der hohen Tannen. Links vom Drückjagdstand ein licht bestockter Hang, rechter Hand eingestreute Deckungsinseln. Das Treiben ist etwa eine Stunde im Gange. Von Weitem ertönt der Spurlaut eines Hundes. Immer wieder hallen Schüsse über die herbstlichen Schwarzwald-Hänge. Plötzlich rechts eine Bewegung. Ein Altier trollt bergauf aus einer Buchenverjüngung, gefolgt vom ebenfalls flüchtigen Kalb. Die Ansage des Jagdleiters war am Morgen: „Schießen Sie nur auf verhoffende Stücke.“ Der Lauf bleibt kalt. Nach dem zweistündigen Treiben liegen 17 Stück Rotwild: Metzger brechen auf, die Stücke werden sofort in die nahen Kühlhäuser der Forstreviere geliefert, Anschuss- und Anblicksprotokolle werden kontrolliert, Nachsuchen koordiniert. Der Eindruck: alles generalstabsmäßig geplant. Großflächige Drückjagden, die Wildruhebereiche einschließen? Was zunächst paradox klingt, ist Teil des Rotwildkonzeptes Südschwarzwald – der Versuch verschiedene Interessen hinsichtlich des Rotwildes unter einen Hut zu bringen: hoch attraktiv für den Jäger, Habitatsbildner für den Naturschutz, Gästemagnet für den Tourismus, und die Grundeigentümer wollen keine allzu starken Verbiss- oder Schälschäden. Kann es da überhaupt einen Kompromiss geben? Im Südschwarzwald hat man sich danach auf die Suche gemacht. Wissenschaftlich begleitet wurde ein Konzept entwickelt, das allen Ansprüchen entgegenkommen soll. „Die Projektgruppe ist mit dieser Vorgehensweise zur

Harmonisierung von Wald, Wild und Mensch einen Weg gegangen, der einmalig ist in Deutschland. Entstanden ist ein Konzept, das den Ansprüchen aller Nutzer Rechnung tragen kann – nicht zuletzt für das Rotwild selbst“, sagt der baden-württembergische Forstpräsident und Projektgruppenleiter Meinrad Joos. 2008 als freiwillige Selbstverpflichtung angenommen, wird das Konzept seither schrittweise verbindlicher verankert, sei es in neuen Jagdpachtverträgen, der forstlichen Planung oder aktuell bei einem Tourismuskonzept, das in Zusammenarbeit mit der Sporthochschule Köln erstellt wird.

Das „Herzstück“ bildet die Aufteilung des Gebietes in Kern-, Übergangs- und Randbereich. Für die einzelnen Areale gelten unterschiedliche Ziel-Wilddichten, waldbauliche Ziele, Bejagungsstrategien, aber auch Regeln zur Besucherlenkung (siehe Tabelle Seite 41). Ein System, dem zunächst auch mit Skepsis begegnet wurde. „Die einen befürchteten, es werde jetzt zu viel erlegt, die anderen befürchteten größere Schäden, wieder andere zu große Einschränkungen für den Tourismus“, sagt Jürgen Kaiser, Bürgermeister der Gemeinde Schluchsee und Mitglied in der Arbeitsgruppe Rotwild. Auch gegenüber der wissenschaftlichen Betreuung des Konzepts durch die Forstliche Versuchsanstalt Baden-Württemberg (FVA) gab es Bedenken. ‚Die wissen ja eh alles besser‘, dachten wohl einige. Es war also erst ein Vertrauensbildungsprozess nötig, der aber rasch auf einen guten Weg kam“, weiß Dr. Rudi Suchant aus der Anfangszeit zu berichten. Er hat das Konzept von Beginn an wissenschaftlich begleitet. Alte Strukturen aufzubrechen, sei es jagdlich oder forstlich, ist nicht immer einfach. „Ganz klar: Anfangs hatten wir gewisse Schwierigkeiten und mussten etwa erst lernen, was es heißt, Drückjagden auf großer Fläche abzuhalten. Uns fehlten die Infrastruktur und eben auch die Strecken. Mittlerweile haben wir über 130 Drückjagdsitze“, sagt Hubert Kapp, Förster im Kernbereich des Rotwildgebietes und Schweißhundführer. Über Jahrzehnte hinweg gab die Einzeljagd den Ton an. „Die jagdliche Störung war hoch, das Wild wurde immer scheuer. Zudem war die nötige Bestandsreduktion rein mit Einzeljagd nicht zu bewältigen“, so Rudi Suchant.
Mittlerweile wird auf großflächige, revierübergreifende Drückjagden gesetzt – etwa 500 bis 700 Hektar. Staatsreviere und Privatreviere arbeiten dabei zusammen. Bei ihnen kommen 50 bis 70 Schützen, meist erfahrene, heimische Jäger, rund 25 Treiber sowie circa 30 spurlaute, solo jagende Hunde zum Einsatz. Jeder Bereich wird nur einmal bejagt. Der Streckenanteil von Bewegungsjagden ist beim weiblichen Rotwild, Spießern und Hirschen der Klasse III schon bei über 50 Prozent. Der Gedanke dahinter: Schnell, sauber und effizient, dann hat das Rotwild wieder seine Ruhe. Daher werden diese Jagden sehr zeitig im Anschluss an die Brunft abgehalten. Die Einzeljagd ist ebenfalls auf eines hin ausgelegt – störungsarm soll sie sein. Das Stichwort heißt Intervalljagd: Ab Anfang, Mitte Juni für zehn Tage auf einjährige Stücke – Jagdruhe – im August auf Kälber mit zugehörigen Alttieren – Gästejagd auf Hirsche zur Brunft – Drückjagden und Nachlese auf der Einzeljagd.
Der stärkste Eingriff erfolgt bei den Kälbern bis zu den dreijährigen Stücken. In der Mittelklasse werden nur körperlich schwache erlegt. Anfang Dezember endet im Kernbereich die Jagdzeit, sodass Ruhe einkehren kann. „Kirrungen sind im Kernbereich, die Nachtjagd generell in unserem Rotwildgebiet tabu. Wir versuchen immer ganze Familienverbände – also
Kalb, Alttier und eventuell Schmaltier – zu erlegen. So hinterlassen wir keine Zeugen. Den Schuss ins Rudel wollen wir, wegen der Störung anderer Stücke, nicht sehen“, erklärt Kapp. „Auch die private Jägerschaft – von wenigen Ausnahmen abgesehen – trägt die Zielsetzung voll mit. Ich denke, das Konzept ist ideal für Mensch und Wild“, meint Christoph Kaiser, Hegeringleiter und Jagdpächter im Kernbereich. Noch bevor das Rotwildkonzept 2008 etabliert wurde war klar, dass der Bestand reduziert werden musste. Bei Fährtenerhebungen und an den Fütterungen wurden etwa 700 Stück gezählt. Verglichen mit den Abschüssen in den 1990er-Jahren wurde der Abschuss ab 2000 schrittweise um bis zu 50 Prozent erhöht – auf eine Jahresstrecke von über 300 Stück im Jahr 2007. „Derzeit sind wir etwa bei einem Bestand von 450 Stück. Ziel ist es, auf rund 400 als Frühjahrsbestand zu kommen“, sagt Rudi Suchant. Doch Schießen alleine bringt nichts, darüber waren sich alle Beteiligten der Projektgruppe einig. Schließlich ist eines der Hauptinteressen im Südschwarzwald, das Wild für Besucher erlebbar zu machen, sprich: Das Wild soll tagaktiv sein. Ruhe, offene Flächen, ausreichend Äsung und Deckung kommen diesem Ziel entgegen. Daher wurde, beginnend mit den ausgewiesenen Ruhebereichen im Kern, umfangreich in Maßnahmen zur Lebensraumverbesserung investiert.
Im Vordergrund steht ein Waldbau mit dem Ziel, „mehr Licht auf den Boden“ zu bekommen: Die überwiegend gleichaltrigen Fichtenbestände werden durchforstet und gelichtet, Freiflächen geschaffen, Bestandslücken offen gehalten, Rücke- und Maschinenwege verbreitert sowie natürliche Äsung, etwa durch Initialpflanzungen von Weichlaubbäumen, gezielt gefördert. „Wir sehen bei unserem Forstrevier deutliche Verbesserungen. Der Verbissdruck ist massiv gesunken. Schälschäden – die 2004 noch stark anstiegen – gehen
heute gegen Null“, sagt Hubert Kapp. „Andererseits kann das Wild in dem neu geschaffenen Habitat gemäß seiner natürlichen Lebensweise das Ruhebedürfnis auf den Freiflächen stillen und tagsüber zur Äsung ziehen. Die Wildbretgewichte haben übrigens zugenommen.“ 2014 und 2015 sollen die Habitatkapazitäten erneut bewertet werden. Schon jetzt, sagt Rudi Suchant, sei absehbar, dass die forstliche Strategie deutliche Wirkung zeige. „Wir haben in den fünf Jahren eine Entwicklung, wie sie sich ohne die aktive Habitatgestaltung wohl erst in 30 bis 40 Jahren eingestellt hätte.“ Positiver Nebeneffekt: Die Maßnahmen kommen auch dem Auerwild zugute. Schließlich sind Äsungsschneisen für das Rotwild auch Einflugschneisen für den Urhahn (siehe zum „Aktionsplan Auerwild“ im Schwarzwald WuH 7/2012, Seite 18)
Im Winter zeigt sich der Südschwarzwald für das Rotwild von seiner rauen Seite. Lang andauernd hohe Schneelagen sind der Normalfall und Schnee bis in den Mai hinein keine Seltenheit. Das natürliche Äsungsangebot in der Kernzone, in der das Rotwild jetzt konzentriert zu finden ist, wird auf großer Fläche knapp. Das hat die wissenschaftliche Auswertung der Nahrungskapazität gezeigt. Daher ist bisher die Wildfütterung fester Bestandteil des Konzeptes. Das Wild kann seinen Stoffwechsel im Winter nur reduzieren, wenn es kein energie- und eiweißreiches Futtererhält. Auf Kraftfuttergaben wie in den vergangenen Jahrzehnten wird daher verzichtet. Vorgelegt werden Bergheu sowie in geringer Menge Apfeltrester und Rüben. Sperrschilder machen um diese Bereiche deutlich: Hier herrscht Betretungsverbot – Rotwild braucht gerade dort Ruhe. Zusätzlich kommen an den Fütterungen dem Sicherheitsbedürfnis des Wildes nahe Einstände und dicht bestockte Sichtschutzstreifen entgegen. „Die wenigen Spuren im Schnee um die Fütterungen sprechen eine deutliche Sprache: Die Leute halten sich relativ gut an das Betretungsverbot“, sagt Hubert Kapp erleichtert. Aber mit der Ruhe für das Wild kann es so eine Sache sein. Immerhin ist der Hochschwarzwald das ganze Jahr über ein Tourismusmagnet. Allein in den Gemeinden St. Blasien, Schluchsee und Häusern gab es 2012 fast 700 000 Übernachtungen. Untersuchungen der FVA ergaben, dass das Wild insbesondere auf Besucher abseits der Wege, seien es Pilzsucher oder Schneeschuhwanderer, sehr empfindlich reagiert und den Einständen für längere Zeit fernbleiben. „Die Besucher wollen die Hirsche sehen und interessieren sich für das Wild. Das zeigen die große Nachfrage nach den jährlich etwa zehn Wild-Führungen zu den Beobachtungspunkten und der Andrang bei den Rotwild-Tagen“, sagt Jürgen Kaiser. „Ich wünsche mir daher ein Tourismuskonzept, das dem Rotwild und den Besuchern zugleich gerecht wird. Daran wird derzeit intensiv gearbeitet“, sagt Rudi Suchant. Von allen Seiten hört man, die Mühen haben sich rentiert. Auch vonseiten anderer Rotwildgebiete ist das Interesse groß. Das Rotwildkonzept Südschwarzwald – ein Modell, das Schule machen könnte? Vielleicht ja. Greift es doch die Idee der klassischen Hegegemeinschaft auf und denkt sie konsequent weiter: das Rotwild im Zentrum, alle Interessengruppen, Forst, Jagd, Tourismus und Naturschutz frühzeitig in einem Boot. Dem viel zitierten Wald-Wild-Mensch-Konflikt könnte dadurch vielleicht auf Dauer eins ausgewischt werden.
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