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Tunnelblick – Jagdfieber und seine Folgen

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Tunnelblick

Tunnelblick
Angst und Angriff liegen in der Biochemie des
Menschen ganz nah beieinander. Jäger spüren das auf
der Jagd besonders. Das Adrenalin im Blut schüttelt
den Körper, die Beute wird fixiert, der Blickwinkel
wird eng. JÖRG NAGEL ist dem Phänomen des
Tunnelblicks nachgegangen.

In wenigen Minuten heißt es „Hahn in Ruh“, doch der Jäger ist in Lauerstellung. In der Fichten-Naturverjüngung hat es mehrmals leise geknackt. Der Waidmann ist  hochkonzentriert und fixiert seit Minuten die schmale Schneise, an deren Ende er auf seinem Sitzstock hockt. Da, der Körper der geringen Sau hat sich einmal gezeigt, um sofort wieder zu verschwinden. Mit der Doppelbüchse in Voranschlag gehen, und die Nervosität
in den Griff kriegen, das nimmt sich der bislang beutelose Schütze vor. Die Gespräche der in Richtung Sammelplatz gehenden Treiberwehr vernimmt er wohl, zieht aber keine Schlüsse daraus. Auch gibt irgendwo ein Hund Laut. Alles nebensächlich, nur der Jagderfolg ist jetzt wichtig. In diesem Moment schiebt sich der Körper des Frischlings erneut aus den
Fichten. „Noch ein, zwei Gänge, und Du stehst frei“, denkt sich der Jäger, dessen Sinne voll auf das Ziel gerichtet sind. Die Stimmen der vier Treiber mit ihren beiden Wachteln sind ganz nah und werden doch nicht gehört. Es dauert eine kleine Ewigkeit, ehe sich der Kujel in Bewegung setzt. Mittig auf der Schneise erhält er den tödlichen Schuss. Der vom Jagdfieber gebeutelte Erleger hört nun wieder die Stimmen und registriert sie plötzlich als lautstark: „Hast Du noch alle Tassen im Schrank? Spinnst Du? Willst Du uns totschießen?“ Sein erschrockener Blick geht von der Sau weg und landet nur wenige Meter schräg dahinter bei den Treibern, von denen sich zwei vor Schreck auf den Boden geworfen
haben …

„Die Schussabgabe ist für die meisten Jäger eine psychische Ausnahmesituation.
Töten versetzt den Schützen in Alarmzustand.“ Bernd Pokojewski kennt Situationen wie die oben beschriebene sowohl bei Polizeibeamten als auch bei Jägern. Der ehemalige Ausbilder in verschiedenen Polizeisondereinheiten befasst sich seit langem mit dem mentalen Phänomen bei der ernsthaften Schussabgabe: „Beim Schützen findet im vegetativen
Nervensystem ein rasanter Anstieg der Herzfrequenz statt. In der Folge wird dessen Wahrnehmung eingeschränkt, es stellt sich der Tunnel- oder auch Scheuklappenblick
ein.“ Dies sei in solchen Extremsituationen ein Vor-, aber auch ein Nachteil, erklärt der Polizeiausbilder: „Der Tunnelblick lässt zwar das anvisierte Ziel klar erscheinen, alleine die Peripherie – sprich die Umgebungssituation – wird kaum noch realisiert. Ebenso werden
in diesem Moment Geräusche nur noch vermindert wahrgenommen. Das Rufen der Treiber hört der Jäger jetzt nicht mehr.

Der Begriff Tunnelblick ist weder in der praktischen Medizin, noch in der Psychologie näher definiert. Es bleibt nur die theoretische Analyse dieser hormongesteuerten Bewusstseinsveränderung. Angst und Angriff sind die beiden Auslöser. Medizinisch ist immerhin im Moment kurz vor der Schussabgabe eine Unterversorgung der großen Muskelgruppen mit Blut nachweisbar. Dies zum Vorteil des Gehirns, das sich ausschließlich
auf die anvisierte „Beute“ fixiert. Beim Beutemachen ist diese Konzentration der Sinne seit Anbeginn maßgeblich. Zum Tunnelblick kommen bei der Schussabgabe weitere Phänomene hinzu, weiß Bernd Pokojewski: „Die hierfür notwendige Feinmotorik – die Koordination zwischen Hand und Auge – kann deutlich reduziert sein. Starkes Zittern der Extremitäten kennen Jäger auch als das so genannte Jagdfieber. Zudem öffnet der Schütze häufig unmittelbar vor dem Abdrücken den Mund, und das Zielauge wird weit aufgerissen. Das Gehirn gibt diese Verhaltensorder weiter, um größtmögliche Informationen zu erlangen.
Der durch die Anspannung erhöhte Sauerstoffverbrauch wird kompensiert.“ Der Schütze muss sich diesen Phänomenen gegenüber allerdings nicht ausgeliefert fühlen. Durch  rationale Steuerung lassen sich die Vorteile nutzen und die Nachteile minimieren. Bernd Pokojewski weiß wie: „Der Schütze ist in der Lage, durch bewusstes Handeln die vorgenannten Instinkte zu unterdrücken. Zum Beispiel muss man reichlich mit seiner Waffe trainieren, um keine mentale Kraft an technische Fragen zu verschwenden, sondern geistig hellwach die Jagdsituation beherrschen.“ Das weiß auch Peter Schaab, der Schießausbilder bei der Polizei in Wiesbaden und Jäger ist: „Es gibt Jäger, die sind mit dem Umgang ihrer Büchse oder Flinte nicht genug vertraut.“ Die Handhabung der Waffe, des Jägers Werkszeug, müsse sitzen, damit im Ernstfall mentale Kapazitäten frei seien, sagt auch er.
„Eine typische Drückjagdsituation kann so aussehen: Ein Jäger beschießt eine flinke Sau in der Schneise. Diese flüchtet in eine Dickung. Es raschelt. Der Hund ist hintendran. Menschenstimmen. Urplötzlich wieder Bewegung. Ein Moment, der mir volle Konzentration
abverlangt. Wenn dem Jäger jetzt der Zustand der Waffe nicht instinktiv bekannt ist, verbraucht er zu viel geistiges Potenzial auf Kosten der Situationsbeherrschung. Im besten Falle ist er nicht schussbereit, im schlechtesten passiert ein Fehler, vielleicht folgenschwer“,
warnt Schaab. Üben, üben und nochmals üben, empfiehlt der Schießlehrer. Jeder Griff an der Waffe muss sitzen, jeder Zustand stets präsent sein. Die Vorbereitung der Polizisten auf die besondere Belastung bei der Schussabgabe in der Schießanlage ist Schaabs Tagesgeschäft. Um den Beamten sicherer zu machen, werden gezielt Stresssituationen
beim Training hergestellt.

Patronenhülsen liegen wild auf dem Boden verteilt, machen den Stand der Schützen unsicher. Immer wieder treten die Beamten auf die Munitionsreste und sind abgelenkt. Hinzu kommen Anfeuerungsrufe und laute Kommandos des Polizei-Ausbilders: „Jetzt die Scheibe links! Beim Nachladen drei Schritte zurück – und jetzt wieder vor auf die Linie!
Schneller! Magazin raus und neues rein! Nur auf die Beine schießen …!“ Alles muss schnell gehen und dann noch die unerwarteten Berührungen kurz vor der Schussabgabe oder das überraschende Händeklatschen. Es herrscht ordentlich Hektik auf dem Schießstand der
hessischen Landespolizei. „Genau das möchte ich erreichen. Der Moment der Schussabgabe ist im Ernstfall eine stressbeladene Aktion, mit reichlich Hormonausschüttung und starker mentaler Belastung“, sagt der verantwortliche Schießausbilder.

Jäger erleben in vielen Situationen auf Gesellschaftsjagden den gleichen Stress. Der Jagdleiter hat um Strecke gebeten, und nun nähert sich das Treiben: Von wo kommt das Wild und um welches handelt es sich? Ist der Laut gebende Jagdhund unmittelbar am Stück oder folgt er auf der Fährte? Von wo kam eben der Treiberruf, und warum sehe ich den Standschützen rechts von mir nicht mehr? Diese und weitere Gedanken, um Schussfeld, Kugelfang oder auch Freigabe und Gewichtsbeschränkungen, treiben bei manchem Jäger den Adrenalinspiegel nach oben – es entsteht Stress. Polizeiausbilder Schaab weiß, wie der Jäger das Unfallrisiko auf Bewegungsjagden reduzieren kann. Er empfiehlt: Der Schütze muss sich „Grenzen setzen“ und „sich bescheiden“. Nicht nur die Kontaktaufnahme mit den Nachbarschützen, die Ermittlung des Schussfeldes und die des Kugelfangs seien selbstverständlich, ebenso müsse dem Jäger eine „Ortsbeschau“ in Fleisch und Blut übergehen. „Geistig wach muss der Jäger erkennen, in welche Richtung und auf welche Maximalentfernung geschossen werden darf. Dabei spielt natürlich auch die  Temperatur eine Rolle, denn ein vom vereisten Baum oder Boden abprallender abprallender
Schuss kann bei einem Einschlagswinkel von 20 Grad noch in drei bis vier Kilometern Unheil anrichten.“

Diese „Vorarbeiten“ können die Risiken eines weiteren mentalen Phänomens minimieren: Der so genannte „Tunnelblick“ spielt sowohl bei Jägern wie Polizeibeamten eine Rolle. Das Fokussieren des Blicks und die mentale Fixierung auf einen bestimmten Punkt unter Ausschaltung des „nebensächlichen“ Umfelds war und ist die Voraussetzung
für einen gezielten Schuss. Schaab: „Beamte des Sondereinsatzkommandos lassen sich beim Erstürmen von Räumen durch einen Hintermann führen, da ihr Blick ausschließlich auf
frontale Zielerfassung ausgerichtet ist, das Geschehen links und rechts wird völlig ausgeblendet.“ Im Falle von zu erwartender Gegenwehr sei der „Tunnelblick“ von großem Nutzen, während er in jagdlichen Situationen auch gefährlich sein könne. „Kein Objekt außer dem Ziel wird registriert.“ Um mit diesem und dem Jagdfieber fertig zu werden, empfiehlt Schaab regelmäßiges Training an Gewehr und Kurzwaffe. Rund 50 Schießkinos in Deutschland stehen für diese Ausbildung bereit. Anders als die klassischen Schießstände
werden hier Filmsequenzen eingespielt und die Schussabgabe so unter realitätsnahen Bedingungen geübt. „Rund 70 Prozent meiner Kunden sind Jäger. Fast alle üben auf
Schwarzwild“, erläutert Guido Koch, Betreiber des Schießkinos in Cramberg im Rhein-Lahn-Kreis. Je nach Wunsch des Schützen oder per Zufallsauswahl werden auf der 30-Meter-
Bahn Filmausschnitte von verhoffenden Sauen, hochflüchtigen Stücken oder auch ganzen Rotten auf die Leinwand projeziert. Es wird also nicht nur die Schießfertigkeit, sondern
auch das rasche Ansprechen trainiert. Jagdfieber beobachtet Koch auch in seinem Schießkino: „Manche Jäger schüttelt es schon vor der ersten Einblendung gewaltig. Bei den Sequenzen mit Ton war es besonders auffällig, deshalb zeige ich seit einiger Zeit nur noch Stummfilme.“

Rund 800 Filme von Rot-, Schwarz- und Rehwild hat Koch gedreht und dabei auch bewusst Jagdhunde mit aufgenommen, um die Besucher seines Schießkinos mit
jagdrealistischen Situationen zu konfrontieren. „Optimal wäre es, wenn man auch mal einen Treiber hinter einem Busch oder den knienden Pilzesucher in der Dickungsschneise
auf Leinwand bringen könnte, um den Stressfaktor des Schützen so noch einmal zu erhöhen. Aber das ist nach Gesetzeslage in Deutschland verboten, um Schützen nicht die Möglichkeit zu geben, auf menschliche Ziele zu üben“, erklärt der Kinobetreiber und Jäger.
Koch bestätigt, dass der Umgang mit der Waffe bei einigen Jägern alles andere als sicher ist. Ebenso beobachtet er, dass die Anspannung der Schützen selbst in seinem Kino so groß ist, dass hier „unglaubliche Geschichten“ passieren: „Es ist schon vorgekommen, dass Schützen auf Film-Sauen schießen, die bereits seit ein, zwei Sekunden von der Leinwand verschwunden sind. Der Höhepunkt aber war ein Teilnehmer, der geschossen hat, als auf der Leinwand nur die Windows-Oberfläche des Computers zu sehen war, ich also den Film noch gar nicht gestartet hatte. Der aufgeregte Mann sagte mir hinterher, er habe vor dem blauen Hintergrund deutlich eine Sau gesehen und beschossen. Das war tatsächlich das X im rechten oberen Feld des Computer- Bildschirms.“

Auch die hessische Polizei kennt solche Phänomene der mentalen Überforderung bei der Schussabgabe in  Ausnahmesituationen. So zum Beispiel bei dem in jüngerer Zeit verstärkt vorkomvorkommenden polizeilichen Waffeneinsatz gegen Tiere. Spektakulärster Fall in
Hessen war sicherlich „die wilde Schießerei“ Ende September auf dem Parkplatz einer Fast-Food-Kette in Rüsselsheim. Ein Großaufgebot der Polizei hatte dort mit rund 100 Schüssen aus den Dienstpistolen sechs in die Innenstadt geflüchtete Wildschweine getötet. Nach harscher Kritik aus Reihen der örtlichen Jäger und des Landesjagdverbandes wurde kürzlich in Darmstadt eine so genannte „Task-Force“ gebildet, die – situationsbedingt– sogar in besiedeltem Gebiet scharf schießen darf. Mitglieder dieser „schnellen Einsatzgruppe“ sind
jagderfahrene Polizeibeamte, Jäger und Mitarbeiter des Forstamts. „Seit Kurzem trainieren unsere Beamten den sicheren Schuss auch auf Tierscheiben, die zum Beispiel Wildschweine, aber auch aggressive Hunde darstellen. Dies ist sinnvoll, da in der Vergangenheit doch der eine oder andere Kollege überfordert war, wenn er zu einem Wildunfall gerufen wurde oder sich wieder einmal Schwarzwild in besiedeltem Gebiet
eingefunden hatte“, berichtet Polizeiausbilder Peter Schaab. Diese zusätzliche Ausbildung der Polizeibeamten soll dazu führen, dass solche Unsicherheiten beziehungsweise Fehler
künftig abgestellt werden. Ganz offensichtlich heißt es nicht nur für Jäger, sondern auch für Polizeibeamte: üben, üben, üben.

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