DIE REHE VOM ROSENKOGEL, TEIL 2
Wann sind Rehe wo? Sind sie Meister im Verstecken oder einfach gerade ganz wo anders? Besenderte Rehe eines Forschungsprojekts aus Österreich geben interessante Aufschlüsse. Eine Zusammenfassung von Dirk Waltmann.
Fasst man die Daten von allem im gesamten Projektzeitraum beobachteten Rehwild zusammen, ergibt sich eine durchschnittliche Streifgebietsgröße von 16 Hektar (ha) pro Stück. Das Minimum liegt bei sieben ha, das Maximum bei 26 ha. Bezogen auf den Jahreslauf schwanken die monatlichen Streifgebiete für ein Stück zwischen zwölf und 21 ha. Rehe ziehen im Herbst weiter umher, um auf den Feldern verbliebene Äsung aufzusuchen. Die Streifgebietsgrößen unterscheiden sich nur wenig von den Monaten davor, sie liegen aber weiter auseinander – quasi auf mehreren kleinen „Inseln“, die schließlich dieselbe Gesamtfläche ergeben wie in den Sommermonaten. Böcke geben nach der Brunft ihre Territorialität auf. Auch sie ziehen im Oktober und November weiträumiger umher. Im Winter steht die Lebensraumnutzung in engem Zusammenhang mit den Schneeverhältnissen und der Fütterung beziehungsweise der verfügbaren Äsung. Im besonders schneereichen Winter 2008/09 war zu beobachten, dass ein Teil des Rehwildes in etwas tiefere Lagen zog. Wenn es Witterung und Schneebeschaffenheit erlaubten, haben sie dennoch immer wieder kurze Tagesausflüge in ihre höher gelegenen Sommerstreifgebiete unternommen. Die Größe der Streifgebiete steht in engem Zusammenhang mit der Lebensraumqualität und der Rehwilddichte. Für den Jäger von besonderem Interesse ist vor allem auch ihre Aktivität. Es gibt nicht nur ausgeprägte jahreszeitliche Muster, sondern je nach Geschlecht, Jahreszeit, Jagddruck, Tourismus, Fütterung, Mondphasen, Tageslänge oder Temperatur auch ganz unterschiedliche Tagesabläufe. Während die Aktivität bei Böcken zumindest teilweise ganz gut in der Größe der von ihnen genutzten Territorien wiedergegeben wird, ist dies bei Ricken nicht so deutlich. Doch bei genauem Hinsehen erkennt man auch bei Ricken ganz ausgeprägte jahreszeitliche Aktivitätsmuster.
Das Markieren des Revieres sowie das Verteidigen gegen Eindringlinge sind die Gründe für vermehrte Aktivität der Böcke im Mai.
Im Winter verbringen Böcke viel Zeit in Fütterungsnähe. Manche nutzen zu dieser Zeit nur wenige Hektar. Im März ziehen sie dann von den Fütterungen weg, um ihre Revieransprüche rechtzeitig durchzusetzen. Bis Ende Mai nimmt die Aktivität der Böcke stetig zu. Gründe dafür sind das Verteidigen und Markieren ihres Revieres sowie der steigende Äsungsbedarf. Böcke beenden also die „Winterruhe“ früher als das weibliche Wild. Nach dem winterlichen Minimum
steigt die Aktivität bei den Ricken erst im April, dann aber fast sprunghaft an. Ist das weibliche Wild erst einmal aktiv, lässt es die Böcke weit hinter sich.
Am „Rosenkogel“ sind die Streifgebiete der Böcke im Januar und Februar am kleinsten im ganzen Jahreslauf (ø 10 ha.) Im März und April sind sie mit rund 24 Hektar am größten. Im Mai sind die Bockterritorien mit 17 ha etwa so groß wie im August (16 ha). Zur Feistzeit im Juli muss der Jäger seinen Bock genau suchen. Das Streifgebiet liegt dann bei gerade einmal elf Hektar. Während der Brunft nehmen Böcke ihre gesamte Revierfläche wieder in Anspruch. Diese entspricht fast dem im Mai festgelegten Territorium. Zur Erinnerung: Das Projekt wurde in einem Revier mit hoher Rehwilddichte durchgeführt (etwa 15 Stück/ 100 ha).
Das weibliche Rehwild hat im Frühjahr also etwas mehr Zeit, denn es muss keine Reviere verteidigen. Im März sieht man bei ihm wenig Unterschied zu den beiden vorhergehenden Monaten. Die Vegetation ist kaum entwickelt und die Temperaturen sind oftmals noch winterlich. Im April erwachen die während des Projekts beobachteten weiblichen Rehe so richtig aus ihrer „Winterruhe“. Sie zeigen Aktivitätswerte, welche Böcke im ganzen Jahr kaum erreichen. Im Mai steigen die trächtigen Ricken kurz vor und nach dem Setzen ihre Aktivität auf die Jahresspitzenwerte.
Sie bewegen sich zwar enorm viel, das aber nur auf sehr kleiner Fläche. Sobald die Kitze der Mutter folgen können, dehnen die Rehfamilien ihren Aktionsradius im Juni wieder aus. Im Juli geht der Raumanspruch zurück – aber nicht soweit wie bei den Böcken. Im August steigt er sprunghaft an, bleibt im September hoch, fällt dann im Oktober wieder deutlich ab und erreicht im November einen Spitzenwert. Im Spätherbst wird nämlich auf großer Fläche
Trockenes Gras und Adlerfarn bieten keine Äsung. Wer im Herbst dennoch stur an solchen Schlägen ansitzt, wird nur zufällig erfolgreich jagen.
nach den letzten günstigen Plätzen mit hoher Äsungsqualität gesucht. Ricken durchstreifen dann die größten Gebiete, sind deshalb aber nicht mehr auf den Läufen. Sie nutzen ihren Lebensraum nur anders auf der Suche nach Nahrung. Die Folgen für die Rehbejagung (gültig für Waldreviere wie am „Rosenkogel“): Wer Ende November seinen Ricken- und Kitzabschuss noch nicht erfüllt hat, der wird nur mehr zufällig erfolgreich sein. Rehe zeigen sich nicht mehr so regelmäßig dort, wo üblicherweise Hochsitze stehen. Mit herkömmlicher Ansitzjagd wird man keine zufriedenstellenden Ergebnisse erzielen. Ganz abgesehen davon, dass das Wild um diese Zeit bereits Ruhe haben sollte.
Dass Rehe standorttreu sind, weiß man seit Langem. Gerade die Satellitentelemetrie macht es möglich, jene Bewegungen dieser Wildart aufzunehmen, welche ansonsten kaum zu erfassen sind. Voraussetzung dafür ist, dass unabhängig von äußeren Einflüssen regelmäßig Daten gesendet werden. Generell können verschiedene Wanderbewegungen bei Rehen unterschieden werden:
Saisonale Wanderungen zwischen Frühjahr-/Sommer- und Herbst-/Winterstreifgebieten: Dabei spielt beim weiblichen Wild vor allem das Nahrungsangebot eine wichtige Rolle. Beim männlichen Wild sind verfügbare Territorien ein wichtiger Parameter. Insgesamt ist die Kombination von Deckung und Äsung wichtig. In Feldrevieren kann die Deckung zum Minimumfaktor werden, in Waldrevieren die Äsung. Abwanderung von Böcken auf der Suche nach einem eigenen Territorium beziehungsweise Streifgebiet: Jährlinge wandern häufig aus dem Streifgebiet ihrer Mutter aus, das war auch am „Rosenkogel“ der Fall. Die zurückgelegten Strecken waren aber nicht größer als rund zwei Kilometer. Damit sind diese Rehe immer noch im angestammten Revier geblieben. Zwei- oder dreijährige Rehböcke, die ein eigenes Revier suchen, können über weite Strecken abwandern. Besonders deutlich hat dies der im ersten Teil (WuH 9/2013) beschriebene „Wanderbock“ gezeigt. Die kurzen Abwanderungen von Ricken während der Brunft lassen sich mit der Suche nach einem bevorzugten Partner erklären. Aus allen bisherigen Forschungsprojekten zu diesem Thema geht hervor, dass ein Anteil von etwa 40 Prozent der Ricken während der Brunft kurzfristig aus ihrem Streifgebiet abwandert. Die Distanzen, die bei den beobachteten Stücken gemessen wurden, gehören vergleichsweise zu den längsten. Zwei Ricken sind 2008 über 3,7 Kilometer vom „Rosenkogel“ auf den „Reinischkogel“ gewandert.
Kurzfristige Abwanderungen konnten die Wildbiologen bei einer Ricke im Februar und März feststellen. Sie wanderte dreimal weit aus ihrem Ganzjahresstreifgebiet ab, kehrte aber jedes Mal wieder zurück und blieb schließlich dort. Ende Februar wanderte die Ricke 11,8 Kilometer. Insgesamt dauerte der Ausflug knapp drei Tage. Die Strecke vom Heimatstreifgebiet bis zum Wendepunkt zog das Reh ohne Aufenthalte an einem Tag. Zehn Tage später ist die Ricke ein weiteres Mal in diese Richtung aufgebrochen. Der dritte Ausflug erfolgte erneut zehn Tage später – dieselbe Richtung, dieselbe Dauer, jedoch nur mehr 3,4 Kilometer. Danach blieb sie im eigentlichen Streifgebiet.
Tatsächliche Abwanderungen können auch bei erwachsenen, älteren Ricken vorkommen. Die „Weiße Mühlsteingeiß“ ging 2008 in der Brunft am 6. August über 3,7 Kilometer auf den „Reinischkogel“. Am 7. August kehrte sie wieder zurück. Nach zehn Tagen wanderte es wieder exakt in dasselbe Gebiet am „Reinischkogel“ und blieb von da an dort. Die Ricke führte 2009 ein starkes Bockkitz und wurde 2010 erlegt. Eine Ricke, die „Wandergeiß“ genannt wurde, hielt nicht wie die anderen ein bestimmtes Streifgebiet, sondern bewegte sich zwischen „Reinischkogel“ und „Rosenkogel“ über weite Strecken außerhalb des Untersuchungsgebiets. Diese Ricke blieb nirgends über einen längeren Zeitraum – auch nicht im Winter bei Fütterungen. Sie war etwa eine Woche bis zehn Tage an einem Ort und zog dann wieder weiter.
Keine eigentliche Wanderung, aber deutlich mehr Bewegung gibt es im Spätherbst auf der Suche nach den letzten guten Äsungsplätzen. Im Gebirge ziehen Rehe dann oftmals im Oktober in höhere Lagen, wo noch mehr eiweißreiche Äsung vorhanden ist.
Mit der Suche nach Äsung steigt die Aktivität des Rehwildes.
Aus der Raumnutzung der Ricken konnten die Wildbiologen erkennen, dass Rehe nicht-durchforstete Dickungen in ihrem Streifgebiet fast vollkommen meiden. Die Ansicht, dass sie Dickungen benötigen, um dort Ruhe und Einstand zu finden, scheint demnach nicht gerechtfertigt. Kalte, schattige Fichtendickungen werden fast auffällig gemieden. Jäger, die ihr Revier rehwildfreundlicher gestalten wollen,
können allein über Bestandspflege und Durchforstung günstige Verhältnisse schaffen. Damit wird der Lebensraum erweitert, und es entsteht ein größeres Äsungsangebot. Die Heidelbeere wird besonders im Winter und Frühling häufig geäst. Rehe nehmen aber auch die Beeren – wie viele andere Tierarten auch – im Hochsommer gerne auf. Neben Randlinien zeigte sich im Untersuchungsgebiet, dass auch das Verhältnis zwischen Bestandsfläche und deren Umfang eine Rolle spielt. Je größer der Umfang im Verhältnis zur Fläche, desto eher gefällt es dem Reh. Beliebt sind ausgebuchtete, lange Waldränder. Rehe haben auch durchforstete Bestände deutlich gegenüber nicht-durchforsteten bevorzugt, besonders dann, wenn schon etwas Grün am Waldboden wuchs. Waren Althölzer bereits vorverjüngt, so wurden Bestände mit gruppenweiser Verjüngung verschiedener Altersstufen beziehungsweise Schichten vorgezogen. Je mehr Struktur, desto besser!
Im Untersuchungsgebiet dominierten Nadelhölzer, daneben gab es vor allem Vogelbeere, einzelne Rotbuchen, örtlich Weide und Erle. Im Frühjahr wurden Bestände mit Laubholzverjüngung von den Rehen signifikant bevorzugt. Im Herbst waren es Waldbestände mit Mischbaumarten, vor allem Standorte, die gut mit Feuchtigkeit versorgt waren und wo es um diese Jahreszeit noch etwas frische, grüne Äsung gab.
Besonders im Herbst suchen Rehe gezielt nach eiweißreicher Nahrung. Französische und schwedische Rehwildstudien haben gezeigt, dass die Auswirkungen der Wilddichte auf das Körpergewicht abhängig von der Lebensraumqualität sind. Absolutzahlen zur Wilddichte sagen wenig aus.
Die Größe der Streifgebiete hängt mit Konkurrenz und mit der Qualität der Lebensräume zusammen. Dort, wo Lebensräume weniger gute Äsung bieten, brauchen Rehe mehr Platz. Sie wechseln je nach Nahrungsangebot zwischen verschiedenen Revierteilen. Die Qualität des Lebensraumes spiegelt sich sowohl im Zuwachs, wie auch in der Entwicklung der Kitze wider. Bei höherer Dichte schränken die sesshaften Rehe ihren Raumanspruch stärker ein. Und zwar weibliche Rehe sowie Böcke. Gibt es weniger Nachbarn und steht mehr Platz zur Verfügung, durchstreifen sie deutlich größere Gebiete. Damit nimmt in vielen Fällen auch der Verbissdruck auf einer bestimmten Fläche ab. Neuere französische Studien belegen, dass es einen direkten Zusammenhang zwischen Einstandsqualität, lokaler Wilddichte und Körpergewicht bei Ricken gibt.
Zur Blattzeit nutzen Böcke ihre gesamte Revierfläche. Bei den weiblichen Stücken steigt der Raumanspruch zum August sprunghaft an.
REHWILDWANDERUNGEN
Ganz allgemein sind Rehe standorttreu. Dennoch ist auch diese Wildart flexibel, was sich im Gebirge allein schon durch die saisonalen Wanderungen zwischen Sommer- und Winterstreifgebieten zeigt. Man gewinnt den Eindruck, dass Rehe – obwohl auf kleiner Fläche zu Hause – durchaus großräumige Ortskenntnis erwerben können. Sie sind auch in der Lage, über weite Strecken zu wandern, und das im Einzelfall zielorientiert. Man unterscheidet: Saisonale Wanderungen – Abwanderungen von Böcken auf der Suche nach einem Revier – Abwanderungen von Ricken während der Brunft – kurzfristige Abwanderungen im Frühling – Abwanderungen bei erwachsenen Ricken – Ricken, die kein bestimmtes Streifgebiet halten, sondern sich großräumig bewegen – Bewegungen im Spätherbst entsprechend dem Äsungsangebot. Herzog Albrecht von Bayern gibt auch noch Wanderbewegungen zu günstigen Setzplätzen an.
Dr. Hubert Zeiler