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Leitbachen sichern

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Leitbachen sichern ihrerseits die Rotte, unsererseits sollten wir ihnen freies Geleit sichern. Doch sind die Funktion und das Ansprechen von Leitbachen oft alles andere als eindeutig.

 

Dr. Kurt Menzel war bis 1997 Leiter des Bundesforstamtes Siebensteinhäuser in der Lüneburger Heide

Von Dr. Kurt Menzel

Der Begriff „Leitbache“ ist eine relativ neue Wortschöpfung. Weder die alten Schwarzwildspezialisten wie Karl Snethlage, Rudolf Fries oder Lutz Heck führten ihn, noch steht er in Freverts „Wörterbuch der Jägerei“.

Analog dem Leittier beim Rotwild, das ein Rudel führt, steht die Leitbache für ein erfahrenes weibliches Stück Schwarzwild, dem unterstellt wird, daß es eine Rotte führt.

Wie kam es zu diesem Ausdruck? Insbesondere „Sauenvater“ Heinz Meynhardt (†) hat durch seine Forschungen an einer futterzahmen Rotte im Kreis Burg bei Magdeburg viele neue Einblicke in die Lebensweise und das Sozialverhalten der Sauen gewonnen und einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht.

Eine wesentliche Erkenntnis betraf die Rottenbildung. Entgegen früherer Meinung, nach der sich Schwarzwild eher zufällig zu größeren Rotten zusammenfindet, erkannte Meynhardt, daß Schwarzwildrotten durchweg Familienverbände sind. Die jüngeren Bachen sind überwiegend Töchter einer älteren dominanten Bache, eben der Leitbache.

Um die Funktion einer Leitbache erkennbar werden zu lassen, müssen demnach mindestens zwei Bachen mit ihrem Nachwuchs eine Rotte bilden. Hierbei kommt es neben den Mutter-Tochter-Verbindungen auch zu Schwester-Schwester-Gesellschaften. Als Leiter eines Bundesforstamtes auf einem großen Truppenübungsplatz in der Südheide (Niedersachsen) hatte ich häufig selbst Gelegenheit, mir ein Bild über das Sozialverhalten der Schwarzkittel zu machen.

Dies nicht nur, weil die Sauen auf dem abgeschiedenen und für die Öffentlichkeit gesperrten Übungsplatz überwiegend tagaktiv waren. Es gab darüber hinaus futterzahme Rotten, die mir ihrerseits Einblicke in ihre Lebensweise und Zusammensetzung gewährten.

Die „Zähmung“ dieser Rotten war denkbar einfach: Da die übenden Einheiten in vielgenutzten Revierteilen – z. B. Biwakplätze oder Schießbahnen – auch verpflegt werden und dort Essensreste anfallen, erkannten die Sauen rasch, dort nach Fraß zu suchen.

Ebenso schnell lernten sie, daß Ihnen von den Soldaten keine Gefahr drohte. Sie verringerten ihre Fluchtdistanz und fraßen den Soldaten letztlich aus der Hand. Im Gegensatz zu den Sauen Meynhardts waren die Wutze aber nicht auf eine Person fixiert. Sie ließen sich von Soldaten aller übenden Nationen und den Forstbeamten füttern. Abseits der Futterplätze verhielten sie sich wie „Wildschweine“.

Eine dieser Familien zog mich im Jahre 1994 besonders in ihren Bann. Ich konnte sie durch Rufen oder das Signal der Autohupe anlocken und nach dem Ausstreuen von etwas Mais in aller Ruhe beobachten. Die Rotte bestand aus einer alten, starken Bache, drei weiteren Bachen und einem weiblichen Überläufer. Hinzu kam eine allmählich abnehmende Zahl von Frischlingen.

Die Urmutter dieser Rotte, die Leitbache, war das vorsichtigste und mißtrauischste Stück. Wir nannten sie Anna. Sie „führte“ zwar die Rotte, betrat normalerweise aber zuletzt den Futterplatz. Wenn sich die anderen Sauen längst auf den Fraß gestürzt hatten, prüfte sie noch immer sorgfältig, ob die Luft wirklich rein war.

Am Futter selbst war sie dominant und sicherte sich die besten Brocken. Unter den anderen drei Bachen war keine eindeutige Rangordnung zu erkennen. Sie standen bei der Futteraufnahme einträchtig nebeneinander. Nur wenn einer der Frischlinge zu nah kam, passierte es, daß er im hohen Bogen zur Seite geworfen oder sonstwie in die Schranken gewiesen wurde.

Die Überläuferbache hielt sich meist im Randbereich auf und attackierte ihrerseits zu aufdringliche Frischlinge. Anna bestimmte zwar durch entsprechende Warnlaute, wann und in welche Richtung das Feld geräumt werden sollte. Hierbei sicherte sie aber – als „Leitbache“ – häufig am Ende der Rotte den Rückzug. Nicht nur an futterzahmen, sondern gerade bei völlig wildlebenden Sauen habe ich immer wieder festgestellt, daß eine flüchtende kopfstarke Rotte zwar von ein oder zwei Bachen angeführt wird, am Ende aber, hinter den Frischlingen, noch ein oder zwei stärkere weibliche Stücke folgen.

Achtung – Leitbachen kennen kein Pardon

Auch wenn nur zwei Bachen mit ihren Frischlingen einen Familienverband bilden, findet man bei der Flucht die eine vorn und die andere, meist stärkere und ältere, hinten. Diese Anordnung zählt zu den artspezifischen Verhaltensmustern. Es leuchtet ein, daß bei der Verfolgung der Rotte durch Raubwild, z. B. Wölfe, die Frischlinge durch eine am Ende der Rotte postierte Bache deutlich besser geschützt sind als wenn junge Stücke selbst das Schlußlicht bilden.

So beschreibt auch Dr. Lutz Briedermann (†) in seinem „Schwarzwild“ (1986), daß Keiler und starke Bachen auch von Wölfen im allgemeinen nicht angegriffen werden, ihrerseits aber durchaus austeilen. Hierzu hatte ich ein eindrucksvolles Erlebnis. Meine BGS-Hündin war im Frühjahr an eine Rotte Schwarzwild geraten und verfolgte diese lauthals über eine große Freifläche. Bevor sie einen der kleinen Frischlinge fangen konnte, drehte sich eine der am Ende der Rotte flüchtenden Bachen in vollem Lauf um und attackierte die Hündin so, daß diese sehr bald mit schweißenden Behängen wieder bei mir auftauchte.

Diese „Fluchtformation“ erleben wir bei vielen Bewegungsjagden. Selbst im Spätherbst und Winter folgt den Frischlingen noch das eine oder andere starke weibliche Stück, das dann häufig als vermeintlicher Keiler sein Leben lassen muß. Auch ich habe hier Lehrgeld gezahlt und mache keinen Hehl daraus.

Das Verhalten des Leittieres beim Rotwild ist völlig anders. Durch ihren zahlenmäßig pro Jahr viel größeren Nachwuchs kann die Bindung einer Bache an jeden Frischling nicht so eng sein, wie die des Alttieres zum Kalb. Auf diesem engen Kontakt zwischen Alttier und Kalb aber basiert die besondere Funktion des Leittieres für das ganze Rudel.

In einer Großrotte ist die Fixierung des Frischlings auf seine Mutter mit der des Rotkalbes auf das Alttier und umgekehrt nicht zu vergleichen. Schon bald nach der Geburt wechseln Frischlinge mitunter zum Saugen die Bache. Auch wird mutterlosen Frischlingen von anderen Bachen des Familienverbandes das Saugen normalerweise nicht verwehrt und verwaiste Frischlinge werden meistens nicht aus der Rotte ausgestoßen. Das führungslose Rotkalb wird aus dem Rudel verstoßen – kein anderes Alttier nimmt sich seiner an.

Für den praktischen Jagdbetrieb ist es trotzdem von großer Bedeutung, daß man sich der Schwierigkeit bei der Ansprache der Leitbachen bewußt ist; denn ihre (Voll-)Schonung wird heute aus verschiedenen Gründen lautstark gefordert. Die Leitbache ist generell, speziell aber auf Bewegungsjagden viel schwieriger anzusprechen als das Leittier beim Rot- oder Damwild. Es ist daher nur konsequent, die Freigabe im Rahmen vieler Gemeinschaftsjagden auf Frischlinge zu beschränken.

Dennoch ist es aus wildökologischer Sicht unerläßlich, einer unerwünschten und weiteren Ausbreitung des Schwarzwildes durch einen gezielten Bachenabschuß, unter Beachtung der tierschutzrechtlichen Vorgaben, entgegenzuwirken. Wenn bei Gemeinschaftsjagden nur geringe Sauen freigegeben werden, bleibt für den Bachenabschuß nur die sachgerechte, zeitintensive Einzeljagd, die in vielen Revieren heute aber auch nicht eben hoch im Kurs steht.

Verantwortungsbewußte Revierleiter kommen also nicht umhin, das größere Risiko von Fehlabschüssen bei Bachen oder eine größere „Beunruhigung“ des Wildes durch Einzelabschüsse in Kauf zu nehmen. Wobei der Abschuß führender Bachen immer eine „Sauerei“ bleibt.

Die futterzahmen Rotten des Übungsplatzes beanspruchten Gebiete von nur etwa 100 Hektar Größe. In diesen Arealen duldeten sie keine anderen Sauen, und es war nur etwa die doppelte Fläche, in die sie bei starken Störungen oder ausbleibender Fütterung auswichen. Ich behaupte, daß es auf dem großen, walddurchsetzten Übungsplatz eine Vielzahl von Schwarzkitteln gibt, die ihr angestammtes Wohngebiet nicht verlassen und nie in ihrem Leben ein Getreidefeld, einen Maisacker oder gepflegtes Grünland gesehen haben.

Deshalb stehe ich der Meinung, daß führungslose Frischlings- oder Überläuferrotten orientierungslos weite Wege zurücklegen, sehr skeptisch gegenüber. Es ist aber vorstellbar, daß sie in Wald-Feld-Revieren viel unbekümmerter (weil unerfahrener) die Felder mit schmackhaftem Fraß aufsuchen und dort zu Schaden gehen. Durch die simple Formel: „Mit Leitbache wenig Wildschäden, ohne Leitbache hohe Wildschäden“ ist die Frage der Wildschadensbegrenzung aber sicher nicht zu lösen.

Doch ist die Leitbache in unseren Revieren überhaupt eine feste Größe? Wo gibt es noch wirklich kopfstarke und in ihrer Alters- und Sozialstruktur intakte Schwarzwildrotten mit einer über Jahre aktiven Leitbache? In der Masse der Schwarzwildreviere haben wir es mit schlecht bis katastrophal gegliederten Beständen zu tun. Entsprechend wenig Leitbachen gibt es, und durch häufige jagdliche Eingriffe besteht kaum die Möglichkeit, wieder artgemäße Sozial- und Altersstrukturen aufzubauen.

Eins kommt noch hinzu: Auch in gut geführten Revieren bilden sich nicht nur Großrotten mit einer Leitbache. Auch dort kommen immer wieder einzeln lebende Bachen mit ihren Frischlingen vor. Dieses Verhalten ist auch vom Rotwild bekannt. Die meisten Alttiere bevorzugen ein Leben in Rudeln verschiedener Größe. Andere werden nur mit ihrem Kalb und gegebenenfalls einem Schmaltier oder Spießer angetroffen. So wenig aber ein einzelnes, führendes Tier ein Leittier ist, genausowenig ist eine einzelne, führende Bache eine Leitbache. Darüber sollte man sich einig sein, wenn man von Leitbachen spricht.

Vielleicht ist es zum Abschluß noch von Interesse, was aus Annas Rotte geworden ist. Anna wurde im nächsten Winter in einer angrenzenden Feldjagd bei Mondschein als Keiler erlegt, aufgebrochen 130 Kilogramm – das Schicksal vieler „großer“ Bachen. Die übrige Rotte wurde im Zuge der Reduktion (Schweinepest!) weitgehend aufgerieben. Ich selbst habe mich an diesem Feldzug nicht beteiligt. Auch der passionierteste Jäger hat gottlob noch Hemmungen, auf Wildtiere zu schießen, mit denen er in engerem Kontakt stand und die er liebgewonnen hatte.

 

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