Wildkaninchen in Deutschland
Einen dramatischen Abwärtstrend zeigen die Besätze des Wildkaninchens in Deutschland. Doch kein Wehklagen von uns Jägern oder anderer Natur- und Artenschützer macht unsere Politiker und Behörden bisher darauf aufmerksam. Ist die Wertigkeit des Niederwildes unter der jagdlichen Dominanz der Schalenwildarten schon soweit gesunken? WILD UND HUND sagt Nein und setzt sich für eine neuerliche Renaissance der Lapuze in Deutschland ein.
Es ist wahrscheinlich genau 853 Jahre her, dass das Kaninchen, wenn auch in leicht domestizierter Form, auch das mittelalterliche Deutschland wieder erreichte – eine lange Zeit. Zwischeneiszeitlich in Europa weit verbreitet, beschränkte sich das Vorkommen der grauen Flitzer nach der letzten Eiszeit zunächst auf Spanien, die Balearen und die nordwestafrikanischen Atlasländer. Urkundlich belegt, tauchte es im Jahre 1149 in Deutschland erstmals im Kloster Corvey an der Weser wieder auf. Der damalige Abt des Benediktinerklosters bezog die Tiere von einem französischen Amtsbruder.
Folgt man den Beschreibungen von Nachtsheim (1949) und Niethammer (1963), setzte die Domestikation des Wildkaninchens im späten Altertum und frühen Mittelalter in den Klöstern ein, „in denen besonders die schon seit der Römerzeit als Leckerbissen geschätzten, ungeborenen Jungen als angenehme Fastenspeise galten“. Vermutlich sind sämtliche mitteleuropäischen Wildkaninchenbesätze aus entflohenen oder gezielt ausgesetzten frühen Haustierformen hervorgegangen. Da aber die Domestikation erst begonnen hatte, ist es weitgehend unbedeutend, ob seinerzeit wirklich wilde oder auf der Anfangsstufe der Domestikation befindliche Kaninchen in die freie Wildbahn gelangten.
Sicher ist, dass bis ins 20. Jahrhundert hinein auch in Deutschland weiterhin (Wild-)Kaninchen ausgesetzt wurden. Und ebenso sicher ist, dass die „Dünenkeiler“ in der bestehenden Kulturlandschaft zumindest teilweise optimale Lebensbedingungen vorfanden, wie die ehedem überaus positive Entwicklung zahlloser Besätze unzweifelhaft belegt.
Die Myxomatose schwächte vorübergehend die Besätze
In vielen Niederwildrevieren mauserten sich die Kaninchen fortan gar zur Hauptwildart. In vielen anderen boten sie das „Salz in der Treibjagdsuppe“ und in wieder anderen einen gern genommenen und wohlschmeckenden „Beifang“. Die Baujagd mit dem Frettchen aber auch die Beize auf die grauen Flitzer erreichten ihren Höhepunkt. Sorgen machte sich eigentlich kaum jemand um die Kaninchenbesätze. Aufwendige Hegemaßnahmen waren nicht notwendig, die Kaninchen waren in mehr oder minder hoher Zahl einfach da. Und irgendwie konnte sich kaum jemand vorstellen, dass einmal alles ganz anders sein würde. Das Auftreten der Myxomatose schwächte hier und da zwar vorübergehend die Besätze, doch hatte die Seuche ihren Schrecken weitgehend verloren. Die Populationen erholten sich meist sehr rasch, häufig schon innerhalb eines Jahres.
Die in Europa erstmals 1952 von einem französischen Arzt zur Tilgung eines Parkbesatzes in Europa gezielt eingesetzten Myxomatose-Viren zehnteten in unterschiedlich langen und unter anderem von der Besatzhöhe abhängigen Zeitintervallen die Populationen der Wildkaninchen. Während der früheren akuten Seuchenzüge waren die Verluste zunächst dramatisch, doch sank die Sterblichkeit mit der Zeit deutlich ab. Die Kaninchen entwickelten körpereigene Abwehrreaktionen und ein gewisses Maß an Immunität, was die Besätze – wie gesagt – meist nach relativ kurzer Zeit wieder stark anwachsen ließ.
Seit 1988 aber wütet auch in Deutschland eine andere und ganz offenbar verheerendere Seuche als die Myxomatose: Die RHD (Rabbit Haemorrhagic Disease) oder Chinaseuche. Schon im Jahr 1986 von China nach Europa (Italien) „importiert“, wurde die Seuche in der Bundesrepublik erstmals 1988 bei Celle und Potsdam bestätigt. In der Folgezeit breitete sich die Viruserkrankung mit hoher Wahrscheinlichkeit fast über das gesamte Bundesgebiet aus und sorgte für dramatische Einbrüche und örtliche Tilgungen der Kaninchenpopulationen. Mir selbst sind einige norddeutsche Kaninchen-Vorkommen bekannt, die mittlerweile leider gänzlich erloschen sind. In anderen Revieren, in denen zuvor guten Gewissens und alljährlich dreistellige Streckenergebnisse verbucht werden konnten, sind die Besätze auf ein (vorläufig?) nicht mehr bejagbares Minimum zusammengeschmolzen.
Allein in den letzten zehn Jahren (Jagdjahre 1991 bis 2000) sank die Kaninchenstrecke bundesweit um 73 Prozent! Die Rückgänge in den einzelnen Bundesländern, in denen zuvor nennenswerte Kaninchenstrekken erzielt wurden, zeigt die Grafik auf der nächsten Seite – eine erschreckende Bilanz.
Und nun? Mitunter gewinnt man in diesbezüglichen Diskussionen den Eindruck, dass der drastische Rückgang dieser Niederwildart mancherorts nur achselzuckend registriert wurde und wird. Von „Nichtkaninchenjägern“ wird er offenbar kaum oder überhaupt nicht wahrgenommen.
Erholen sich die Besätze auf natürlichem Weg?
Ein Schelm, der Böses dabei denkt… Doch welch ein Geschrei hätten wir wohl angestimmt, wenn zum Beispiel unsere Rehwildpopulationen einen ähnlichen Niedergang vollzogen hätten? Kaum vorstellbar – oder? So aber traf es eben „nur“ das Wildkaninchen in einem leider völlig vom Schalenwild dominierten jagdlichen Umfeld. In den östlichen Bundesländern fristet das Kaninchen seit Jahrzehnten ein kümmerliches Schattendasein. Allein aus jagdwirtschaftlichen Gründen stand dort längst das Schalenwild über allem anderen.
Aus Sicht der Kaninchen und der verbliebenen Niederwildjäger bleibt zu hoffen, dass sich die vielerorts auf ein Minimum reduzierten Besätze auf natürlichem Wege erholen und ähnlich wie bei der Myxomatose über körpereigene Abwehrmechanismen der Seuche fortan trotzen können. Doch was passiert in jenen Revieren, in denen der Karnickelbesatz bereits gänzlich erloschen ist? Aus, vorbei – ein für allemal?
Kein Vergleich mit Neuseeland oder Australien
Das Aussetzen von Wildkaninchen und Schwarzwild in die freie Wildbahn ist durch § 28 Abs. 2 des Bundesjagdgesetzes bis heute ausnahmslos verboten. Eine Regelung, die vor dem Hintergrund potenziell hoher land- und forstwirtschaftlicher Schäden durch die Karnickel getroffen wurde. Die Schäden durch Kaninchen sind im Gegensatz zu jenen, die der Feldhase möglicherweise verursacht, bekanntlich ersatzpflichtig. Es steht außer Frage, dass Wildkaninchen sowohl in der Land- als auch in der Forstwirtschaft, dort bevorzugt in Laubholz- oder Kiefernkulturen, erhebliche Schäden verursachen können.
Mir ist in meinem norddeutschen(!) jagdlichen Umfeld in vielen vielen Jahren jedoch nur ein nennenswerter Fall bekannt geworden, der dann aber mit damals 9000 DM recht heftig ausfiel. Dort allerdings war ein angrenzender Campingplatz der Hauptgrund, der den Kaninchen schon durch die zahlreich vorhandenen Paletten in optimaler Weise Deckung und Aufzuchtstätten bot beziehungsweise bietet. Ansonsten beschränken oder beschränkten sich die mir bekannten Schäden durch Kaninchen arttypisch und meist sehr kleinflächig auf die Ränder landwirtschaftlicher Kulturen. In diesen Fällen bieten vielerorts schon die Revierstruktur und die Standorte der Baue den Kaninchen kaum Gelegenheit, spürbare Ertragseinbußen durch Verbiß und/oder Nageschäden zu verursachen. Wie auch immer – die mitunter auftretenden landwirtschaftlichen Schäden durch Kaninchen in Mitteleuropa sind keinesfalls mit jenen zum Beispiel in Australien oder Neuseeland zu vergleichen, wo die Kaninchen über die immensen Agrarschäden hinaus ganze Ökosysteme zerstörten oder empfindlich beeinträchtigen.
Sonderfälle sind sicher Friedhöfe, Parkanlagen, Autobahnwälle, Kleingartenkolonien sowie Weinanbau- und andere vergleichbare Gebiete. In ihrer und in der Nähe waldbaulich sensibler Bereiche verbietet sich eine Neu- oder besser Wiederbegründung von Kaninchenbesätzen von selbst. Dort kann es – wie bisher – nur darum gehen, die Zahl der Kaninchen möglichst gering zu halten. Was aber spricht gegen eine Wiederansiedlung in nicht wildschadensträchtigen Revieren, in denen die Kaninchen vor dem Auftreten der RHD in mehr oder minder hoher Zahl vorkamen, heute jedoch, gesichert oder vermutlich durch die RHD völlig verschwunden sind. Auf eine mögliche natürliche Wiederausbreitung zu setzen, wäre angesichts der ausgeprägten Standorttreue naiv. Eine solche hat auch zu Zeiten höchster Besätze nur in äußerst geringem Maße – wenn überhaupt – stattgefunden.
Kaninchen auf dem Speiseplan
Es steht außer Frage, dass es nicht eben modern ist, die Wiedereinbürgerung von Wildkaninchen zu befürworten. Doch nochmal: Welche vernünftigen, nicht ideologisch geprägten Gründe sprechen bei einer sachgerechten Handhabung und Durchführung – wohlgemerkt nur in nicht wildschadensanfälligen ehemaligen Kaninchenrevieren – dagegen? Die Lebensräume passen dort nach wie vor, und der Einfluss der Beutegreifer war auch vorher für das Wohl und Wehe beziehungsweise den Rückgang der Kaninchen offenbar nicht entscheidend. Im Gegenteil – kopfstarke Kaninchenkolonien ziehen Habicht, Fuchs & Co in hohem Maße an und können so von anderen, vielleicht seltenen oder bedrohten Beutetierarten ablenken. Steht doch das Kaninchen letztlich auf dem Speiseplan fast sämtlicher heimischen Haarraubwild- und zahlreichen Eulen- und Greifvogelarten.
Aussetzen von Wildkaninchen ist grundsätzlich verboten
Mehr scherzhaft sei an dieser Stelle erwähnt, dass in besagten Revieren selbst die IUCN-Richtlinien zur Wiedereinbürgerung ehemals heimischer Wildtierarten beim Wildkaninchen erfüllt sind: Die Gründe des Aussterbens sind bekannt, die Lebensräume ermöglichen die Bildung sich selbst tragender, vitaler Bestände und so weiter… Wie bitte? Jaja, ich weiß, doch soll die Frage, ab wann eine freilebende Tierart wirklich als „heimisch“ bezeichnet werden darf oder nicht, hier nicht weiter diskutiert werden. Auch sollten wir dieses Buch, angesichts der ersten erfolgreichen Einbürgerung in die freie Wildbahn im Jahre 1231 auf Amrum, nach nunmehr fast 800 Jahren zumindest beim Wildkaninchen endgültig zuschlagen.
Dort, wo noch Restbesätze vorhanden sind, sollte auf den Wiederaufbau aus „eigener Kraft“ gesetzt werden. Anderenorts stellt sich die Frage, wie und vor allem wie lange die RHD noch ihr todbringendes Zepter schwingt. Kann es – von anderen Problemen und Unwägbarkeiten einer Wiedereinbürgerung einmal abgesehen – gelingen, über das Aussetzen geimpfter Tiere (Arvilap, Rika-Vacc.), dauerhaft resistente, stabile Besätze zu gründen? Jene Besätze, die die so genannte subakute Form der Chinaseuche durchlaufen haben, lassen diesbezüglich hoffen. Dr. Hans-Jörg Horst schildert den Verlauf in seinem Beitrag zur RHD in Heft 1/2001 (Seite 18) von WILD UND HUND wie folgt: „Außer einer vorübergehenden Appetit- und Teilnahmslosigkeit sind kaum Symptome wahrnehmbar. Die Tiere gesunden und bilden eine bis zu 15 Monate anhaltende, vielleicht sogar lebenslange Immunität aus.“ Und noch können wir auf gesunde und große, kopfstarke Besätze – zum Beispiel auf den Nordseeinseln – zurückgreifen.
Doch ist es müßig über derartige Maßnahmen zu diskutieren, solange die Legislative in unserem Land das Aussetzen von Wildkaninchen weiterhin grundsätzlich und ausnahmslos verbietet. Es ist jedoch an der Zeit, das Wildkaninchen endlich aus seinem kaum beachteten Schattendasein herauszuführen und auf die Probleme dieser Wildart in unserem Lande nachdrücklich aufmerksam zu machen – je eher, desto besser.
Wildkaninchen bevorzugen kurzrasige Äsungsflächen in erreichbarer Nähe ihrer Baue. Solche und ähnliche Freiflächen gehören zu den unverzichtbaren Lebensraumelementen im Kaninchenrevier |