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Im Reich von Väterchen Frost

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Wo Elche und starke Keiler ihre Fährten ziehen, führt der Winter ein strenges Regiment. Dadurch wird das Waidwerken zu einer besonderen Herausforderung. Markus Deutsch fror in Weißrussland.

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Foto: Karl-Heinz Volkmar

 

Peter schiebt seine warme Dienstmütze zurecht. Sie ziert noch das aus Messing gefertigte Berufsjägerabzeichen aus vergangenen Sowjetzeiten. Dann gießt er dampfenden Hagebuttentee aus der Thermosflasche ein. In aller Ruhe schraubt der hünenhafte Weißrusse die Flasche wieder zu, nimmt einen kleinen Schluck und beugt sich etwas herunter, um durch das Kanzelfenster noch mal den Blick über die Lichtung schweifen zu lassen. Nach wie vor fressen zwei Überläufer und sechs Frischlinge an der Kirrung.
„Der Keiler wird noch kommen“, flüstert der Berufsjäger in seiner beruhigenden Art. Und nach einem Blick auf seine Uhr fügt er noch hinzu: „Es ist ja erst drei.“ Bereits seit dreißig Jahren arbeitet Peter im staatlichen Jagdgebiet Teterinskoje, hat schon unzählige Jagdgäste geführt und kennt jede Ecke des Reviers. Seine Kollegen nennen ihn aufgrund der Haarfarbe „den Roten“. Dabei würde der Namenszusatz „der Große“, wie bei seinem royalen Namensvetter aus dem Zarenhaus, noch besser passen: Der stattliche Jäger misst fast zwei Meter und lässt dadurch die geräumige Kanzel kleiner wirken als sie ist.


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Berufsjäger Peter führt bereits über dreißig Jahre Jagdgäste im Revier Teterinskoje.Foto: Markus Deutsch
Heute Abend ist die letzte Chance, einen Urian zu strecken. Morgen früh geht es wieder zurück nach Deutschland. Meine Anspannung lässt sich wohl nicht verbergen, denn nach einem weiteren Schluck Tee unternimmt Peter noch einen Beruhigungsversuch: „Immer mit der Ruhe. Wir sitzen so lange, wie Du möchtest.“
Aber mit der Ruhe ist das so eine Sache. Schließlich will man nicht als Schneider nach Hause fahren. Zudem setzt die gnadenlose Kälte eine Frist von maximal vier Stunden. Spätestens dann ist der starke Frost auch durch die dicksten Thermo-Ansitz-Klamotten gekrochen. Eine Woche vor der Reise waren die Temperaturen östlich von Minsk noch moderat gewesen: nachts etwa zehn Grad minus, tagsüber um den Gefrierpunkt. Aber Väterchen Frost wollte wohl Mitte Februar noch einmal seine Macht unter Beweis stellen und hat sein Zepter geschwungen.
Die ganze letzte Woche über hatte es kräftig gefroren. Am Tage wurden kaum Temperaturen über zehn Grad minus gemessen. Selbst für die wintererprobten Weißrussen kein alljährliches Phänomen. Zudem ist die trockene Kälte des Kontinentalklimas besonders tückisch, wie ich bereits am ersten Abend schmerzlich erfahren musste: Nach dem Ansitz hatte ich, den Frost völlig unterschätzend, die Handschuhe ausgezogen, um die Patronen aus dem Magazin zu repetieren. Dabei fror die erste gleich an meinen Fingerkuppen fest. Danach fasste ich die Waffe nur noch mit Handschuhen an.

 


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Oberjäger Andrej zeigt, bis in welche Höhe das Elchwild die Weide geschält hat.Foto: Markus Deutsch
Ein leichter Stoß von Peter reißt mich aus meinen Gedanken. Mit einer Kopfbewegung deutet er nach rechts auf ein Birkengehölz. Dort regt sich etwas zwischen den Stämmen. Allerdings verschwimmen das Rindenmuster und die Schneedecke, weil es bereits dämmert. Vorsichtig nähert sich ein Stück Schwarzwild dem Bestandsrand, doch noch verstellen die Birken die Sicht.
Aufmerksam beobachtet das Wild die Freifläche, freilich ohne das Gehölz zu verlassen. Das lässt das Jägerherz schneller schlagen: Es muss sich um ein älteres, erfahrenes Stück handeln, das erst einmal die Lage prüft. Wieder zieht der Schwarzkittel ein Stück am Lichtungsrand entlang, verhofft, äugt in Richtung der bereits brechenden Artgenossen.
Schließlich siegt der Futterneid über die Vorsicht. Das Wild verlässt die schützende Waldfläche und zieht an die Kirrung. Jetzt lässt es sich einwandfrei ansprechen: Vor uns steht ein reifer Keiler. Die Masse des Körpers liegt deutlich über den Vorderläufen. Als er den Kopf dreht, blinkt uns sein stattliches Gewaff entgegen. Beim Ziehen schont er einen Vorderlauf. Eine während der Rauschzeit erworbene Wunde aus einem Kampf mit Nebenbuhlern? Eine alte Schussverletzung? Zumindest lässt der Gedanke, das Stück von einem Leiden zu erlösen, die potenzielle Beute noch attraktiver werden.

 


Während Peter leise das Kanzelfenster öffnet, nehme ich den Repetierer zur Hand. Ganz sachte, peinlich darauf achtend nirgendwo anzustoßen, bringe ich die Waffe in Position. Der Keiler hat mittlerweile die anderen Schwarzkittel von den besten Stellen der Kirrung verdrängt und stärkt sich an dem ausgebrachten Getreide. Gerade ziehe ich die .30-06 in die Schulter – bereit, dem Keiler die Kugel anzutragen – da bricht ein Schuss. Kurz darauf knallt es noch zwei Mal kurz aufeinander. Die „Bühne“ vor uns ist leer. Mein Lauf ist kalt.
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Bei der Fahrt durchs Revier ist der Wagen stecken geblieben. Foto: Markus Deutsch
„Das waren die Petersburger“, mutmaßt mein Jagdführer. „Die sitzen heute ungefähr fünf Kilometer von hier.“ Obwohl die russischen Jagdgäste ein ganzes Stück entfernt jagen, hat der Frost den Schall glockenhell zu uns herübergetragen. Da die Jagdsaison bereits dem Ende entgegengeht, reagieren die Sauen auf solche Störungen empfindlich. Die beiden russischen Jagdkameraden jagen hier regelmäßig auf Überläufer und Frischlinge, da einer der beiden in der Stadt an der Newa ein Wildspezialitäten-Restaurant betreibt. Die Beute wird im Anschluss an die Jagd im eigenen Transporter gen Norden verfrachtet.
Hinter vorgehaltener Hand verrät Peter noch, dass einer der Petersburger beim letzten Mal während eines spontanen Gelages aus dem Speisezimmer unserer Unterkunft durch das geschlossene Fenster auf ein Stück Schwarzwild geschossen hat. Deshalb musste er eine saftige Strafe und natürlich das Fenster bezahlen.

 


Zwar erheitert mich die Geschichte ein wenig, aber sie tröstet nicht darüber hinweg, dass gerade eine richtig gute Chance vertan wurde. Das scheint der feinfühlige Weißrusse zu bemerken und versucht, mich erneut aufzumuntern: „Wenn Diana oder Hubertus es heute gut mit Dir meinen, tritt der Alte noch mal aus. Noch ist nicht aller Tage Abend.“
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Bereits vor Einbruch der Dunkelheit ist diese Rotte ausgetreten. Foto: Markus Deutsch

 

Zwar ist es ärgerlich, dass wir jetzt wieder warten müssen, aber den russischen Hubertusjüngern kann ich auch nicht böse sein. Schließlich treibt uns an diesem Tag der gleiche Beutetrieb in die kalte weißrussische Winterlandschaft. Zudem haben mir die beiden Petersburger vor einigen Tagen wieder „ins Leben geholfen“, als ich nach einem längeren Abendansitz halberfroren wieder zur Jagdbasis zurückgekehrt war.
Mittlerweile ist der Mond über den Wipfeln aufgegangen. Drei Stunden harren wir jetzt schon auf der Kanzel aus. Um Väterchen Frost noch ein wenig draußen zu halten, hat mein weißrussischer Begleiter erneut vom heißen Tee nachgeschenkt. Er reicht mir einen dampfenden Becher. Das heiße Getränk tut gut und wärmt die klammen Finger. Nach und nach wagen sich wieder Frischlinge aus dem Bestand an die Kirrung, und auch die Bache lässt nicht lange auf sich warten.

 


Aber die Rotte wirkt unruhig. Immer wieder werfen einzelne Stücke auf. Manchmal setzen sie zur Flucht an, um dann doch wieder ans Getreide zurückzukehren. „Irgendetwas stimmt nicht“, raunt Peter und nimmt noch einen Schluck. „Vielleicht sind Wölfe in der Nähe.“ Das scheint nicht abwegig, denn tagsüber hatten wir bei einer Revierfahrt ganz in der Nähe eine frische Wolfsspur entdeckt. Daraufhin hatte der Oberjäger Andrej Schimtschuk schon einmal die Rollen mit den orange-roten Lappen aus dem Lager holen lassen.
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Die Rollen mit den Lappen können wieder verstaut werden. Für eine eingestellte Wolfsjagd ist es zu kalt. Foto: Markus Deutsch
Nach alter russischer Sitte nötigten sie mich in die „Banja“ – die russische Sauna. Dort müssen alle Schwitzwilligen einen graubraunen Schlapphut aus Filz aufsetzen, was etwas albern wirkt, wenn man ansonsten im Adamskostüm die wohlige Wärme genießt. Angeblich soll dadurch das Gehirn vor einem Überhitzen bewahrt werden. Dann heizt einer der Anwesenden durch Birkenwasseraufgüsse kräftig ein. Kurz bevor die Saunagenossen in den nächsten Aggregatzustand übergehen, nimmt der Heizer zwei Birkenreisigbündel und bearbeitet damit unnachgiebig die Leiber der übrigen.
Wer nicht schon nach diesem inquisitorisch anmutenden Prozedere seine Lebensgeister ausgehaucht hat, bekommt im Anschluss daran die Chance dazu. Denn nun geht es aus der hundert Grad heißen Sauna raus ins Freie. Mutter Natur empfängt die Schwitzenden mit einer eisigen Umarmung, wobei der Temperaturunterschied in unserem Fall um die 120 Grad Celsius betrug. Mit dieser Geste hatten mich die Petersburger Jäger am dritten Tag meines Aufenthalts von der slawischen Gastfreundschaft überzeugt. An den kommenden Abenden habe ich dann jedes Mal nach dem Ansitz auf diese Art die Kälte aus dem Körper getrieben.
Nach einer kurzen Besprechung mit den übrigen Berufsjäger war man aber zu dem Schluss gekommen, dass es für eine großangelegte, eingestellte Jagd auf die Grauhunde eindeutig zu kalt war. Das erforderliche stundenlange Stillstehen in eisiger Winterkälte wollte man den teilnehmenden Jägern ersparen.
Aber nicht nur Wölfe hatten an dem Morgen ihre Spuren auf der Neuen hinterlassen. Als wir in der Nähe eines Flusses von der Straße abbogen, fiel uns eine frische Fährte ins Auge.  Bis an den Bestandsrand gingen wir sie aus und stießen dort auf frische Lager. Ein Elchtier mit Kalb war nachts über die Freifläche gezogen und hatte sich im Windschatten niedergetan. Nach dem Ruhen hatten sich die beiden an der Rinde der umstehenden Weiden gütlich getan. Dabei hatte das Tier die Zweige bis in eine Höhe von über zwei Metern beäst.
Während wir noch die geschälten Äste begutachteten, ließ uns ein plötzliches, kurzes Splittern der Äste herumfahren. Das Tier und sein Kalb hatten sich keine sechzig Meter von uns in einer Dickung niedergetan und uns die ganze Zeit ausgehalten. Jetzt hatten aber beide entschieden, dass es Zeit zum Weiterziehen sei und entfernten sich im scharfen Troll.

 


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Mit der Futterschaufel bringt der Fahrer Getreide aus. Foto: Markus Deutsch
Nachdem das imposante Wild im gegenüberliegenden Waldstück verschwunden war, setzten auch wir unsere Erkundungstour durchs Revier fort. Es galt, noch einige entfernter gelegene Kirrungen zu beschicken. Wo die Piste zu stark ausgefahren war oder Schneewehen das Vorwärtskommen verhinderten, erschloss unser Fahrer spontan neue Routen. Nach dem Motto „Wir machen den Weg frei“ wurde Allrad zugeschaltet, und dann ging es quer durch jungen Bewuchs dem Ziel entgegen. Allerdings blieben wir unmittelbar unter der letzten angesteuerten Kanzel im Schnee stecken. Nach einer halben Stunde hatten wir den Wagen wieder flott. Deshalb konnte unser Fahrer auch dort die Kirrung mit ausladenden Schwenkbewegungen der großen Futterschaufel beschicken, sodass sich große, goldbraune Getreidekreise auf dem Schnee bildeten.
Auf den Kornkreis vor unserer Kanzel starre ich gerade gedankenverloren, als sich Peter mir zuwendet: „Und? Ist Dir kalt?“ „Noch gehts“, antworte ich ihm leise. Aber ich merke, wie sich die Kälte sich langsam an meinen Waden emporhangelt. Lange können wir nicht mehr sitzen. Die Hoffnung auf Waidmannsheil schwindet zusehends. Verstohlen schiebe ich den Ärmel hoch. Es ist bereits kurz vor acht. Fünf Stunden! So lange haben wir noch an keinem Abend gesessen, aber es ist nun mal der letzte, zumindest für diese Jagdreise. Auf der Lichtung haben sich lediglich drei Überläufer der Bache und den Frischlingen hinzugesellt. Vom Keiler keine Spur.
„Früher lagen auf den meisten Lichtungen, auf denen wir heute kirren, kleine Dörfer“, flüstert mir mein historisch sehr beschlagener Jagdführer zu, um mich abzulenken. „Die meisten wurden im Lauf der Jahre aufgegeben, weil die Bewohner in die Stadt zogen. Einige wurden aber auch während des Zweiten Weltkriegs zerstört.“
Der Weißrusse bemerkt mein großes Interesse für das Thema und erzählt weiter. An meine kalten Beine denke ich schon gar nicht mehr. „Mitten in diesem Waldstück gab es mal eine große Straße, die von Minsk nach Moskau führte. Die Wehrmacht hat sie auf dem Rückmarsch genutzt, und im Sommer ’45 haben hier Bewohner aus meinem Dorf einen vergrabenen Koffer gefunden“, erzählt Peter weiter, „Da war ein ganz wertvoller, vergoldeter Revolver drin und eine komplette deutsche Offiziersuniform samt Stiefeln. Die Leute hier hatten damals nur wenig. Deshalb heiratete ein Nachbar von mir in dieser Uniform seine Frau.“
Der Berufsjäger hat kaum das letzte Wort geflüstert, als es im Birkenhain leise knackt. Sofort sind alle Sinne geschärft. Die Schwarzkittel auf der Lichtung haben aufgeworfen und sichern in Richtung Birken. Ist es der Keiler? Sollte es doch noch klappen? Das Ganze dauert nur den Bruchteil einer Sekunde. Dann bläst die Bache kurz – vor uns gähnende Leere. „Es waren bestimmt Wölfe. Sonst hätten die Sauen nicht so allergisch reagiert“, mutmaßt mein Jagdführer.
Enttäuscht bemerke ich schlagartig wieder die ungemütliche Kälte. Auch Peters Leidensfähigkeit scheint ein Ende zu haben. „Es hat keinen Zweck. Diana und Hubertus schlafen heute anscheinend.“ Es ist alle Tage Jagdtag, aber nicht immer Fangtag, denke ich mir, und nehme mir fest vor, irgendwann wieder in diesem wildreichen Revier zu jagen. Vielleicht erwachen die Göttin und der Heilige dann für einen Moment aus ihrer Winterruhe.

 

 

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