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Der Weg zurück ist frei

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Hat der Luchs in Deutschland überhaupt eine Zukunft? Ist der Luchs ein ernsthafter Konkurrent des Jägers oder ein effektiver Kumpan des Försters? Ulrich Wotschikowsky bringt Fakten.

 

Von allein schafft es der Luchs nicht, bei uns wieder heimisch zu werden. Wissenschaftler fordern deshalb ein bundesweites Wiedereinbürgerungs-Programm

von Ulrich Wotschikowsky

Noch vor 30 Jahren, als die ersten Luchse in Mitteleuropa ausgesetzt wurden, wusste man herzlich wenig über den geheimnisvollen Leisetreter. Das hat sich mittlerweile geändert: Der Luchs ist gut erforscht. In alten Büchern stand zu lesen, er könne ganze Reviere rehrein machen und töte aus reiner Mordlust, ohne seine Beute zu verzehren. Drei- bis fünftausend Hektar Wald, so meinte man, bräuchte er zum Leben, und man hielt das für viel Raum.

Andere drehten die Argumentation um: Weil er so viele Rehe umbringe, könne er die Wälder vom Verbiss entlasten. Und wiederum andere meinen bis heute, der Luchs lebe hauptsächlich von Mäusen und vergreife sich nur gelegentlich an kranken oder altersschwachen Rehen. Einig war man sich allenfalls darin, dass er sehr scheu sei und sich nur in großen, abgeschiedenen Wäldern wohl fühle.

Vieles korrigiert

Heute wissen wir: Der Luchs braucht enorm viel Platz, er ist alles andere als über-trieben scheu, und er lebt bei uns nahezu ausschließlich von Rehen, im Gebirge auch von Gams. Die Forschungsergebnisse auf die wir uns stützen können stammen aus der Schweiz sowie aus Polen, Skandinavien und Slowenien. Ich beziehe mich nur auf Untersuchungen, die mit Hilfe der Radiotelemetrie erfolgten. Diese Methode ist bei einem so seltenen und schwierig zu beobachtenden Tier wie dem Luchs unverzichtbar. Sie hat vieles korrigiert, was in alten Büchern zu lesen ist.

Wer den Mageninhalt von Luchsen analysiert, findet darin über 90 Prozent Rehfleisch. Jawohl – der Luchs frisst erstens Rehe, zweitens Rehe, drittens Rehe. Was ihm sonst noch in die Quere kommt, spielt für seine Gesamternährung kaum eine Rolle: Füchse, streunende Katzen, der eine oder andere Hase, eine unvorsichtige Maus, damit hat sich’s. Aas, auch Aufbrüche rührt er nur ausnahmsweise an. Raufußhühner sind sogar in Skandinavien eine eher seltene Gelegenheitsbeute. Dort können allerdings Schneehasen wichtig sein, besonders, wenn Rehe fehlen. Aber lieber ernährt er sich, zum Unmut der Samen, von deren Rentieren. Rotwild fällt ihm nur ausnahmsweise zum Opfer, und dann in erster Linie Kälber. Bei diesem Wild stößt der Luchs deutlich an seine Grenzen: In Bialowiesa waren es nur Kuder, die sich an geringes Rotwild heranwagten. Sie wiegen im Schnitt etwa zwei Kilogramm mehr als die Katze. Auch beim Gamswild greift der Luchs sich eher ein Kitz oder einen Jährling als ein erwachsenes Stück.

Vom Luchs ist keine Hilfe zu erwarten

Durch die Radiotelemetrie weiß man inzwischen auch gut Bescheid darüber, wie es sich mit dem „Lustmorden“ beim Luchs verhält. Wird er nicht gestört, so kehrt er zu einem gerissenen Reh mehrere Tag lang zurück und verzehrt es vollständig – das heißt: Er verzehrt das gesamte Muskelfleisch, lässt aber Gescheide, Decke und die größeren Knochen liegen. Auch den Kopf: Entgegen einem verbreiteten Märchen ist der Luchs nämlich kein Kopfabschneider.

Es kann durchaus mal sein, dass er ein Reh reißt und nicht weiter anrührt, aber einige Tage später zurückkehrt, wie ich es im Bayerischen Wald wiederholt erlebt habe. Mit „Lustmord“ hat das jedoch freilich nichts zu tun.

Normalerweise reicht ihm ein Reh knapp für eine Woche. Eine Katze, die von zwei oder drei Jungtieren begleitet wird, ist freilich in wenigen Tagen mit einem Reh fertig. Anja Jobin hat in der Schweiz recht genau abschätzen können, was das im Jahresverlauf heißt: Rund 60 Rehe für einen einzelnen Luchs, rund 80 für eine Katze mit zwei heranwachsenden Jungtieren. Das klingt nach viel und ist es doch nicht. Denn der Luchs verteilt seine Beutezüge auf eine große Fläche.

Wo der Luchs überwiegend von Rehen lebt – und das ist ganz Mitteleuropa – liegt die Dichte einer Population etwa bei einem ausgewachsenen Luchs pro 10 000 Hektar (= 100 Quadratkilometer). Das sind Luchse, die ein eigenes Streifgebiet (Home range) etablieren konnten. Dabei kann man von rund 10 000 Hektar für eine Katze ausgehen und von der dreifachen Fläche für einen Kuder. Diese Dichtewerte sind unabhängig voneinander in mehreren Gebieten ermittelt worden. In Norwegen besetzen Luchse bei dünnen Rehbeständen zwei- bis dreimal so große Areale. Umgekehrt gibt es bisher noch keine Hinweise auf deutlich kleinere Streifgebiete (also höhere Luchsdichten) in Gebieten mit besonders hohem Beuteangebot.

Verknüpfen wir nun den Nahrungsbedarf eines Luchses (60 Rehe) mit den Dichtewerten, so ergibt sich, dass die ausgewachsenen Luchse etwa 0,6 Rehe pro 100 Hektar erbeuten. Diesen Wert müssen wir ein wenig nach oben korrigieren, weil führende Katzen etwas mehr Rehe reißen und weil sich einige halb ausgewachsene Luchse (die noch kein eigenes Revier besitzen) zwischen den Streifgebieten herumtreiben. Wir kommen etwa auf ein Stück Rehwild pro 100 Hektar und Jahr, das wir abgeben müssen.

Vergleichen wir diese Zahlen mit den Jagdstrecken: In rehreichen Revieren (zum Beispiel Schwarzwald, hessische Mittelgebirge, Vorderer Bayerischer Wald) sind sechs bis acht Rehe pro 100 Hektar durchaus üblich. In den nord- und ostdeutschen Wäldern mit geringerer Standortqualität (Sandböden) und bei spürbarer Konkurrenz durch Rotwild sind die Strecken geringer. Immerhin bleibt festzuhalten: Der Anteil des Luchses an der Gesamt-Rehstrecke ist klein.

Daraus folgt auch, dass die Forstleute vom Luchs keine Hilfe zu erwarten haben. Luchse können Verbissprobleme nicht lösen. Der Luchs ist weder ein ernsthafter Konkurrent des Jägers noch ein effektiver Kumpan des Försters.

Luchs dezimiert Muffelwild-Kolonien

Ein paar Ausnahmen mag es doch geben. Es ist denkbar, dass Luchse dem Gamswild den sommerlichen Aufenthalt im Bergwald verleiden. Das wäre eine nicht zu unterschätzende Hilfe bei dem Bemühen, die jahrzehntelang durch hohe Schalenwildbestände arg drangsalierte Naturverjüngung voran zu bringen. Ferner ist der Luchs „berüchtigt“ für seine Fähigkeit, Muffelwild-Kolonien zu dezimieren, ja sogar zum Erlöschen zu bringen. Bei den Problemen, die wir mit diesen schlecht angepassten Schafen haben, hielte ich es nicht für einen Schaden, wenn Pinselohr hier für eine ökologische Korrektur sorgte.

Schließlich ist noch einzuräumen, dass eine führende Katze ihren Aktionsradius vorübergehend stark einschränkt, weil ihr die Jungen zunächst noch nicht folgen können. Als Folge davon kann es für einige Monate auf kleinerer Fläche zu stärkeren Eingriffen in den Rehbestand kommen.

Eine Hetzjagd liegt dem Pinselohr nicht

Bekommen wir bessere Böcke, wenn der Luchs unter den Rehen für Auslese sorgt? Oder aber macht er unsere Hegebemühungen zunichte? Wer unter „Hege“ Fütterung versteht, der wird sich daran gewöhnen müssen, dass der Luchs solchen fütterungsbedingten Rehkonzentrationen öfter einen Besuch abstattet. Er ist ja nicht dumm, sondern ein Opportunist wie jeder erfolgreiche Räuber.

Wer meint, dass sich eine effektive natürliche Regulation von Rehen in stärkeren Trophäen äußern müsste, der muss sich auf Enttäuschungen gefasst machen. Nein, es gibt keinen Grund zu der Annahme, dass luchsbejagte Rehpopulationen bessere Gehörne produzieren. Wie gesagt, der Luchs jagt opportunistisch – das heißt: Er pirscht sich an ein Reh oder einen Sprung Rehe an, und wenn er nahe genug unbemerkt herangekommen ist – der kritische Abstand liegt unter zwanzig Metern – dann greift er das ihm am nächsten stehende Tier in schnellen, überraschenden Sätzen an. Offensichtlich macht er dabei keinen Unterschied zwischen Bock, Geiß oder Kitz.

Eine Hetzjagd liegt ihm nicht, er gibt nach wenigen Sprüngen auf. Der Luchs selektiert also nicht nach physischer Leistung, wohl aber fallen ihm sorglose, ungeschickte, unerfahrene Tiere leichter zum Opfer. Auch das ist selbstverständlich Selektion.

Bleibt noch die immer wiederkehrende Frage nach der Beunruhigung, die der heimliche Schleicher ins Revier bringt: Ich halte die Sorgen für übertrieben. Wegen der großen Seltenheit, mit der Luchse vorkommen, sind auch die Begegnungen zwischen ihm und seinen bevorzugten Beutetieren nur sporadischer Natur.

Nun schließt sich die nächste Frage an: Wie kommen die Luchse zu uns oder wie kommen wir zu Luchsen? Manche meinen, wir bräuchten nur Geduld, dann würde der Luchs schon von selber kommen. Einem Aussetzen von Luchsen stehen viele ablehnend gegenüber. Das mag nicht nur mit Besorgnis vor Raubtieren, sondern auch damit zu tun haben, dass Wiederansiedlungen leider sehr oft dilettantisch durchgeführt werden.

Einer spontanen Wiederbesiedlung stehen dieselben Leute aber durchaus positiv gegenüber. Da wir allerdings viel zu weit entfernt sind von eigenständigen Populationen (die nächste ist in der Ost-Slowakei), werden etwa bei uns einwandernde Luchse immer aus eingebürgerten Populationen stammen. So ist es im Bayerischen Wald (Wiedereinbürgerung im tschechischen Böhmerwald), so ist es im Pfälzerwald (Wiedereinbürgerung in den Vogesen). So erwarten wir es auch in den Bayerischen Alpen aus der Schweiz. Das allerdings wird wohl dauern: Die Population dort denkt leider nicht daran, sich in Richtung Nordosten auszudehnen.

Problem ist die Isolation von Teilpopulationen

Welche Lebensräume kommen für eine Wiederbesiedlung durch den Luchs bei uns in Frage? Stephanie Schadt hat mit einem anspruchsvollen Computerprogramm, in das die Forschungsergebnisse aus der Schweiz eingespeist waren, diese Lebensräume in einem ersten Schritt ermittelt und auch gleich danach klassifiziert, wo sich eigenständige Luchspopulationen etablieren könnten. Das Ergebnis zeigt die Abbildung rechts. Wie erwartet, sind es die ausgedehnten Waldgebiete der Mittelgebirge, aber auch jene der nordwestdeutschen Tiefebene, in denen sich Luchse auf Dauer halten könnten.

Was aber ist eine „eigenständige“ Luchspopulation? Ein großes Problem für Wildtiere in unserer Landschaft ist die Isolation von Teilpopulationen. Bei der geringen Populationsdichte, die für Großraubwild charakteristisch ist, wiegt dieses Problem ungleich schwerer als beim Schalenwild. So lassen sich beispielsweise im Harz mehrere tausend Stück Rotwild „unterbringen“, aber nur etwa zwei Dutzend Luchse.

Stephanie Schadts Karte zeigt, wo wir mit einer aktiven Populationsgründung für den Luchs beginnen sollten: im Thüringer Wald. Von dort bieten sich Ausbreitungsmöglichkeiten nach Westen in den Frankenwald und bis in die Rhön und den Spessart an, nach Nordosten ins Erzgebirge und die Sächsische Schweiz, nach Südosten ins Vogtland, Fichtelgebirge, den Oberpfälzer und Bayerischen Wald. Aber vielleicht kommt der Luchs auch von allein – nämlich vom Südosten her in den Thüringer Wald? Dann bräuchte man nur ein wenig Geduld.

Dem stehen allerdings ernsthafte Hindernisse im Wege. Zum einen sind fast alle geeigneten Luchslebensräume von weitgehend ungeeignetem Land umgeben: waldarmes beziehungsweise waldloses Agrarland oder Siedlungen. Zum anderen stellen Autobahnen und Schnellstraßen tödliche Gefahren (wenn auch keine absoluten Barrieren) für wandernde Luchse dar. Wie können wir die Auswirkung dieser Hindernisse abschätzen?

Stephanie Schadt hat auch dazu den Computer befragt. Wiederum wurde alles an Daten in das Programm gesteckt, was die intensiven telemetrischen Studien der letzten Jahrzehnte ergeben haben. Allerdings ist die Datenlage zu einigen Fragen noch dünn. Welchen Wanderlinien zum Beispiel folgt ein Luchs? Wie verhält er sich, wenn er auf eine stark befahrene Straße trifft? Leider hat man im Harz auf die Telemetrie der ausgesetzten Luchse verzichtet und damit eine einmalige Chance vertan, diesen und anderen Fragen nachzugehen.

Die Ergebnisse von Stephanie Schadts Ausbreitungsmodell sind eher ernüchternd. Sie zeigen, dass es Luchse in Deutschland sehr schwer haben, von etablierten Populationen aus neue Gebiete erfolgreich zu besiedeln. Einzelne Tiere können zwar weit wandern – aber das sind stets wenige Einzelfälle. Selbst wenn – welch ein Zufall das wäre – gleichzeitig zwei Luchse verschiedenen Geschlechts etwa vom Bayerischen Wald bis in den Thüringer Wald gelangen sollten, so ist damit noch längst nicht ein Startschuss für eine Populationsgründung gefallen. Auch wenn es zu einer erfolgreichen Paarung kommt, so ist doch die Gefahr, dass diese Minipopulation gleich wieder ausstirbt, sehr hoch. Bei einer Wiederansiedlung sollten deshalb etwa eineinhalb Dutzend Tiere ausgesetzt werden, zwei Drittel davon weibliche Luchse.

Wiedergutmachung

Fazit: Berichte aus dem Sektor Artenschutz sind häufig deprimierend. Der Luchs bildet eine Ausnahme: Er hat gute Chancen, sich in unseren Wäldern wieder zu etablieren. Aber dazu ist er auf unsere aktive Hilfe angewiesen: Er kommt nicht von alleine. Pinselohrs Wiederansiedlung wäre eine Wiedergutmachung, die längst fällig ist. Aber wegen der großen Räume, die eine Luchspopulation beansprucht, sollte dies unbedingt in einem bundesweiten Programm geschehen. Der Jägerschaft stünde es gut, wenn sie diese Bemühungen unterstützen würde.

Gebirge sind keine Hindernisse für zuwandernde Luchse. Viel befahrene Straßen und dichtbevölkerte Gebiete schon

 


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