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Wildfolge in Niedersachsen: Kein Freibrief für Grenzjäger

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Am 1. April 2001 trat das neue Niedersächsische Jagdgesetz (NJagdG) in Kraft. Für Aufsehen sorgte die Neuregelung der Wildfolge in § 27 NJagdG: „Endlich können dem Wild vermeidbare Qualen erspart werden“, frohlockten die einen. „Da wird zur Wilderei animiert“, kritisierten die anderen.
Die Rechtsanwälte Jörg Lüddecke und Björn Ebeling aus Peine nahmen die Vorschrift unter die Lupe.

Das neue Landesgesetz von Niedersachsen sollte es Nachsuchenführern erleichtern, im Rahmen ihrer Arbeit Jagdgrenzen zu überschreiten. Was auf den ersten Blick ein großer Schritt in die richtige Richtung ist, birgt jedoch nach wie vor einige Unsicherheiten.

Nachsuche! Morgens war eine Sau beschossen worden, die nach kurzem Klagen wieder Anschluss an die Rotte fand. Dem zwei Stunden später eintreffenden Nachsuchengespann zeigt sich am Anschuss ein vielversprechendes Bild: Etwas dunkelroter Schweiß mit breiigem Gescheideinhalt. Ein Schuss durch das kleine Gescheide. Zielstrebig folgt der Hund der Wundfährte. Ein kurzes Faseln, dann ist er wieder drauf.

Nach 400 Metern heißt es: Halt, hier ist die Reviergrenze! Nun gilt es, den Jagdausübungsberechtigten des Nachbarjagdbezirkes zu benachrichtigen. Wertvolle Zeit geht hier verloren. Aber so sieht es § 22a Abs. 2 BjagdG vor. Etwas anderes soll nur gelten, wenn die Jagdausübungsberechtigten der angrenzenden Jagdbezirke schriftliche Wildfolgevereinbarungen getroffen haben.

Hier gab es in der Praxis die unterschiedlichsten Handhabungen unter den Revierinhabern. Das Niedersächsische Ministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten sah darin Handlungsbedarf und schuf den § 27 NJagdG. Die bundesgesetzliche Bestimmung sollte mit diesem Paragraphen an tierschutzrechtliche Gegebenheiten angepasst werden.

Im Grundsatz heißt es auch nach § 27 Abs. 1 NJagdG regelmäßig bei Nachsuchen weiterhin an der Reviergrenze: „Halt, hier ist die Grenze!“ Eine Ausnahme macht § 27 Abs. 2 NJagdG mit folgendem Wortlaut: „Wechselt krankgeschossenes Wild in einen Nachbarjagdbezirk und ist ausnahmsweise eine sofortige Nachsuche erforderlich, um das Wild vor vermeidbaren Schmerzen zu bewahren, so ist die Schützin oder der Schütze oder die Begleitperson zur Nachsuche verpflichtet und hat das Wild zu erlegen und zu versorgen.“

Bei Grenzübertritt muss das Wild noch leben

Einen weiteren revolutionären Schritt beinhaltet § 27 Abs. 4 NJagdG: „Kommt krankgeschossenes Wild im Nachbarjagdbezirk zur Strecke, so stehen das Wildbret und die Trophäen abweichend von §§ 1 Abs. 1 und 5 des Bundesjagdgesetzes dem Jagdausübungsberechtigten des Jagdbezirks zu, in dem das Wild krankgeschossen worden ist, es sei denn, die Nachsuche wurde endgültig aufgegeben.“

Eine „sofortige Nachsuche“ im Sinne des § 27 Abs. 2 Satz 1 NJagdG, bei der die Jagdgrenze ohne vorherige Benachrichtigung des Jagdnachbarn überschritten wird, ist nur dann erlaubt, wenn dadurch das Wild vor vermeidbaren Schmerzen bewahrt wird. Es ist offenkundig, dass das Wild, gleichgültig ob krankgeschossenes oder krankes, noch leben muss. Hiervon kann sich der Nachsuchende nur dann überzeugen, wenn sich das Wild in Sichtweite jenseits der Jagdgrenze befindet oder aufgrund der Pirschzeichen und weiterer Umstände, wie zum Beispiel der Geländegegebenheit oder aufgrund von Lautäußerungen sicher ist, dass das Wild schwerkrank in der Nähe ist.

Bei einem Laufschuss oder dergleichen ist in den seltensten Fällen davon auszugehen, dass eine „sofortige Nachsuche“ zum schnellen Erfolg führen wird und das Leiden des Wildes verkürzt.

In der Anfangszeit wurde diese Vorschrift von der Praxis häufig missverstanden. Sie wurde als Freibrief für das Überschreiten der Reviergrenze auf der Nachsuche betrachtet. Dass dem nicht so ist, wurde dargelegt. Bezüglich der Nachsuche ist nicht zu unterscheiden zwischen Schalenwild und dem übrigen Wild. Die Unterscheidung setzt erst ein, wenn das Wild auf der sofortigen Nachsuche erlegt wird. Der Nachsuchende hat es dann zu versorgen. Die nachsuchende Person darf das Wild, außer Schalenwild, fortschaffen.

Pflicht ist es nach wie vor, den Jagdnachbarn anschließend unverzüglich zu benachrichtigen. Unverzüglich bedeutet immer ohne schuldhaftes Zögern.
Zum Teil wird in der juristischen Literatur die Ansicht vertreten, dass bei einer sofortigen Nachsuche die Gefahr besteht, das kranke Wild aufzumüden und zur Flucht zu veranlassen, so dass seine Schmerzen oder Leiden gar noch verlängert werden, da der Erfolg der Nachsuche in Frage gestellt werden kann oder zumindest die Arbeit des Gespanns erschwert wird. Diese Ansicht geht davon aus, dass der Schütze selbst sofort nach dem Schuss nachsucht.

Dieser Ansicht kann nur eingeschränkt gefolgt werden und zwar soweit die sofortige Nachsuche durch den Schützen ohne Hund vorgenommen wird. Das ist in der Regel wegen § 4 NJagdG ohnehin unzulässig. Wähnt das Nachsuchengespann das krankgeschossene Stück lebend in der Nähe und meint, durch die sofortige Nachsuche das Leiden des Wildes verkürzen zu können, so ist der Grenzübertritt möglich. Das gilt auch für Nachsuchengespanne, die nicht als bestätigte Nachsuchengespanne im Sinne des § 28 NJagdG die Grenze übertreten dürfen.

Ohne Hund keine sofortige Nachsuche

Es leuchtet ein, dass ohne Hund der Erfolg einer sofortigen Nachsuche fraglich ist, da die Gefahr des Aufmüdens zu groß ist. Ist aber ein Hund vorhanden kann die Gefahr des Aufmüdens in diesen Fällen vernachlässigt werden, da der Hund (brauchbar muss er natürlich sein) zur Hetze zur Verfügung steht. Die Benachrichtigung des Reviernachbarn würde in vergleichbaren Fällen allein aufgrund des Faktors Zeit dem Tierschutzgedanken zuwiderlaufen.

Das Ministerium hat einen Runderlass an seine Behörden gerichtet, um verwaltungsintern eine Richtschnur für die Gesetzesanwendung auszugeben. Danach ist die sofortige Nachsuche beim Schalenwild nur in Ausnahmefällen erforderlich. Beim Niederwild (außer Rehwild) ist die sofortige Nachsuche in der Regel berechtigt.

Von weit größerer Brisanz ist der § 27 Abs. 4 NJagdG. Zur Erinnerung: Er betrifft die Herausgabe des zur Strecke gekommenen Wildes. Die starke Kritik, die diese Vorschrift hervorrief, zielte im wesentlichen darauf ab, dass mit ihr der Grenzjägerei Tür und Tor geöffnet sei.

Soweit ersichtlich, hat sich diese Befürchtung bislang nicht bewahrheitet. Den meisten Revierinhabern ist wohl bewusst, dass es immer so aus dem Wald herausschallt, wie hineingerufen wird. Dennoch ergeben sich Probleme: Es wird bezweifelt, ob dieser Absatz verfassungsmäßig, das heißt mit weiteren Gesetzen, zum Beispiel dem Bundesjagdgesetz und dem Grundgesetz vereinbar ist. § 27 Abs. 4 ist so zu verstehen, dass alles krankgeschossene Wild – unabhängig vom Treffersitz – herauszugeben ist, wenn es im Nachbarrevier zur Strecke kommt.

Zur Strecke kommen bedeutet nach Ansicht der Verfasser, jedes Habhaftwerden des Wildes, gleichsam ob es mittels eines Fangschusses „zur Strecke kommt“ oder auf einer Nachsuche verendet aufgefunden wird. Diese Ansicht steht im Einklang mit der Ansicht des Niedersächsischen Landwirtschaftsministeriums. Nicht geteilt wird diese Ansicht vom Kommentator des NJagdG, Dr. Heinz Rose, der der Meinung ist, das Wild müsse mittels eines Fangschusses zur Strecke kommen.

Herausgabe nur gegen Entschädigung?

Auch Krankschießen wird von Dr. Rose nur so verstanden, dass darunter Wild fällt, welches krank ist und durch Fangschuss zur Strecke kommt. Diese Ansicht entspricht nicht dem allgemeinen und dem waidmännischen Wortsinn der Begriffe „zur Strecke kommen“ und „krankgeschossen“.

Ein Hintergrund der Ansicht von Dr. Rose ist jedoch, dass er Bedenken an der Verfassungsmäßigkeit dieser Norm hegt. Dr. Rose vertritt die Ansicht, dass die Herausgabe von Wildbret, also das „Zustehen“, nur gegen Entschädigung erfolgen darf. Sollte dieses der Fall sein, so ist ersichtlich, welch hohes Streitpotenzial dadurch eröffnet wird. Welche Entschädigung muss für die Herausgabe des zur Strecke gekommenen Wildes geleistet werden? Ist es nur eine Aufwandsentschädigung, oder steht dem Revierinhaber eine Entschädigung in Höhe des Wildbret-Marktpreises zu?

Dabei könnte geltend gemacht werden, dass die Qualität des Wildbrets derart schlecht ist, dass ein Marktpreis nicht mehr zu erzielen ist. Wild, das auf einer Nachsuche zur Strecke kommt, hat womöglich schon länger als eine Stunde mit schlechtem Schuss verendet und unaufgebrochen gar bei warmer Witterung irgendwo gelegen. Die Ausbreitung von Bakterien kann zu diesem Zeitpunkt bereits so stark sein, dass das Wildbret verworfen werden muss, da es nach den einschlägigen Fleischhygienevorschriften dem menschlichen Verzehr gar nicht mehr zugeführt werden darf.

Dem größten Teil des auf Nachsuchen zur Strecke gekommenen Wildes dürfte ein ähnliches Schicksal blühen, sodass mangels eines Marktpreises wohl keine Entschädigung zu zahlen sein kann. Diese Ansicht vertritt auch das Niedersächsische Ministerium. Gerade das Beharren auf eine Entschädigung könnte zumindest bei weiblichem Schalenwild dazu führen, dass das Wildbret nicht herausverlangt wird und dann dem Revierinhaber verbleibt, der sich in diesen Fällen sogar noch um die Entsorgung bemühen muss. Dieses wäre kein praxisgerechtes Ergebnis.

Die Unsicherheit ist geblieben

Das Streben nach einer tierschutzgerechten Lösung hat zu viel Unsicherheit in der niedersächsischen Jagdpraxis geführt, und der Bedarf an ergänzenden Wildfolgeregelungen ist stärker denn je. Der Nachsuchenführer aus obigem Beispiel kann also zukünftig die Grenze überschreiten, wenn er sicher ist, das krankgeschossene Stück vor vermeidbaren Schmerzen dadurch zu bewahren. Nur wer kann sich seiner Sache immer sicher sein?



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