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ANSPRECHREGELN FÜR REHBÖCKE

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ANSPRECHREGELN FÜR REHBÖCKE
Jagdhandbücher sind voll mit Weisheiten zum Ansprechen der Böcke, und jeder Jungjäger hört von den „alten Hasen“ unzählige mehr. Wir haben die zehn geläufigsten dem Biologen Prof. Dr. Hans-Dieter Pfannenstiel vorgelegt und gefragt: Was ist dran an den Regeln?

1. Je höher die Rosenstöcke, desto jünger der Bock.
Rosenstöcke wachsen beim Bockkitz etwa ab einem Alter von drei Monaten. Ihr Durchmesser nimmt mit dem Alter des Bockes zu, wobei der Hauptschub in den ersten beiden Lebensjahren zu beobachten ist. Die Höhe der Rosenstöcke nimmt jedoch mit zunehmendem Alter ab. Das hat etwas mit der jahresperiodischen Neubildung des Gehörns zu tun. Vor dem Abwerfen im Herbst werden Knochenfresszellen aktiv, die den Rosenstock
unterhalb der Rosen langsam auflösen. Jedes Mal, wenn der Bock abwirft, geht dabei ein Stückchen Rosenstock verloren – die Rosenstöcke werden kürzer. Beim wirklich alten Bock (über fünf Jahre) scheinen die Rosen deshalb direkt auf dem Haupt aufzusitzen.

2.Je deutlicher Dachrosen und je seitlicher das Gehörn, desto älter der Bock.
Die Entwicklung des Schädels ist beim Rehwild mit der Verknöcherung aller Wachstumsfugen meist erst im Alter von fünf Jahren abgeschlossen. Das eigentliche
Wachstum erfolgt jedoch schon in den ersten beiden Lebensjahren. Der seitliche Abstand zwischen den Rosenstöcken kann sich also mit zunehmendem Alter kaum vergrößern. Das aber wäre Voraussetzung für eine weiter seitliche Stellung der Gehörnstangen. Das
ist demnach ein äußerst zweifelhaftes Altersmerkmal. Dachrosen scheinen bei älteren Böcken tendenziell häufiger vorzukommen als bei jungen Böcken. Ein wirklich sicheres Altersmerkmal sind sie aber nicht. Es gibt durchaus alte Böcke mit „normalen“ Rosen und umgekehrt kann auch ein dreijähriger Bock durchaus Dachrosen aufweisen.

3. Bock mit deutlichem Muffelfleck? Der ist zweijährig!
Als Muffelfleck wird der helle Fleck oberhalb des Windfangs bezeichnet. Ob seine Ausprägung zur Altersansprache genutzt werden kann, wird oft lebhaft, um nicht zu sagen erbittert, diskutiert. Bei jedem einzelnen Individuum verändert sich der Muffelfleck mit zunehmendem Alter. Tendenz dabei ist, dass die anfangs scharfe Begrenzung nach
oben im Laufe der Jahre unscharf wird. Allerdings ist die individuelle Variationsbreite
in der Ausprägung des Muffelflecks so groß, dass er allenfalls bei bekannten Stücken zur Altersabschätzung genutzt werden kann. Aber dass ein bekanntes Stück Rehwild im nächsten Jahr ein Jahr älter geworden ist, weiß man auch ohne Muffelfleck. Für unbekannte Rehe scheidet der Muffelfleck als Altersmerkmal aus.

4. Je heimlicher und einzelgängerischer, desto älter der Bock.
Rehe haben etwa ab einem Alter von zwei Jahren individuelle Streifgebiete, deren Größe je nach Habitatqualität, Lebenszyklus, Alter und Wilddichte sehr unterschiedlich sein kann.
Bei hohen Wilddichten sind die Streifgebiete oft nur wenige Hektar groß. Dann sind die Einstandskämpfe der Böcke entsprechend heftig. Jahres- und Tagesperiodik der Aktivität (Äsen, Ruhen, Ziehen) werden unter anderem von der Tageslänge, von Störungen und vom Äsungsangebot beeinflusst. Ältere Böcke werden dabei vorsichtiger, treten oft später und bedachter zur Äsung aus, springen bei Störungen sofort bis in sichere Deckung ab, während jüngere Böcke meist nach kurzer Flucht sichern und auch häufiger und anhaltender schrecken. Dadurch entsteht der Eindruck, ältere Böcke seien heimlicher.

5. Ein stark wirkendes Gehörn deutet auf einen maximal mittelalten, drei- bis vierjährigen Bock hin.
Es gibt für eine Vielzahl verschiedener Rehhabitate extrem unterschiedliche Angaben darüber, in welchem Lebensalter der Rehbock sein stärkstes Gehörn schiebt. Das schwankt von drei bis vier Jahren bis zu deutlich über zehn Jahren. Letzteres ist, abgesehen von der Situation in einem Gatter, deswegen wohl kaum realistisch, da die meisten Rehe dieses Alter in freier Wildbahn nicht erreichen. Für unsere Rehhabitate in Mitteleuropa, abgesehen von extremen Mittelgebirgs- und Alpenlagen, schieben Böcke ihr stärkstes Gehörn zwischen drei und sieben Jahren, wobei auch Abweichungen davon sicher möglich sind. Aus der Stärke des Gehörns, die ohnehin habitatbedingten Unterschieden unterliegt, lässt sich also das Alter kaum ablesen.

6. Je grauer das Gesicht, desto älter der Bock.
Individuelle Variationen der Gesichtsfärbung sind beim Rehbock extrem groß. Dieses Merkmal ist zur Altersschätzung nur sehr eingeschränkt brauchbar. Jährlinge haben jedoch in der Regel ein dunkles, meist einfarbiges Gesicht. Erst wenn beim Rehbock die Sommerdecke voll ausgefärbt ist, also etwa ab Anfang/Mitte Juni, kann die Gesichtsfärbung überhaupt richtig beurteilt werden. Und schon ab Anfang September beginnt mit dem Erscheinen des grauen Winterhaars das Verfärben des Haupts. Beim älteren Bock ist das Haupt oft tatsächlich auch im Sommer grauer. Aber nicht jeder Bock mit grauem Haupt ist uralt. Die hellgrauen Ringe um die Lichter können schon beim drei- bis vierjährigen Bock vorhanden sein. Oft, aber keineswegs immer, haben die mittelalten Böcke die „buntesten“ Gesichter.

7. Schmalreh und Bock gemeinsam unterwegs: Meist ist das ein älterer Recke.
Viele Aussagen zu Altersmerkmalen von Rehböcken entpuppen sich bei näherer Überprüfung als Verallgemeinerungen von Einzelbeobachtungen oder als überlieferte Gerüchte mit geringem Wahrheitsgehalt. Mir ist keine wissenschaftliche Untersuchung bekannt, die diese Aussage beim Rehwild bestätigt.

8. Je jünger der Bock, desto enger stehen die Vorderläufe beisammen.
Diese Aussage hat tatsächlich eine anatomische Grundlage. Spitz von vorn betrachtet sieht es so aus, als läge der Körper des älteren Bockes zwischen den Vorderläufen.
Beim jungen Bock, besonders gut bei Jährlingen und auch noch bei Zweijährigen zu sehen, stehen die Vorderläufe eng nebeneinander unter dem Körper. Deshalb sehen Jährlinge auch immer etwas langbeinig, staksig aus.
Durch die Vergrößerung des Brustkorbes mit zunehmendem Alter ist der Vorschlag beim reifen Bock auch meist deutlicher ausgebildet.

9. Bock muss alt sein: Er hat eine fast semmelgelbe, fahle Decke.“
Leider, nein. Der Bock „muss“ gar nichts. Denn auch für die Deckenfärbung gilt: Bei Rehwild ist die diesbezügliche Vielfalt immens. Ein junger Bock kann ebenso fahler erscheinen wie ein alter Bock satt rot gefärbt sein kann. Dieses oft gehörte Kriterium kann als alleiniges Merkmal für das Alter nicht herangezogen werden. Tendenziell ist hinsichtlich Deckenfarbe das Gesicht aussagekräftiger.

10. Je paralleler die Stangen zueinander verlaufen, desto älter.
Die Aussage entbehrt jeder Grundlage. Stangenform und -parallelität haben mit dem Alter des Bockes nichts zu tun. Die Rosenstöcke rücken allenfalls durch ihr Dickenwachstum näher zusammen. Sie verändern aber nicht ihren Winkel zum Schädel. Bei der Ausrichtung und der Stangenform gibt es eine große Variationsbreite, die aber unabhängig vom Alter des jeweiligen Stückes ist.
Fazit: Einige der Regeln sind wildbiologischer Unsinn. Für die zutreffenden gilt: Nur die Gesamtschau aller hilft uns zu sagen, ob wir einen jungen oder alten Bock vorhaben. Als alleiniges Merkmal taugt keines.

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