KRICKELWILD IM ALPENRAUM
Die sinkenden Gamsstrecken sind ein Thema, an dem derzeit kein Berg jäger vorbeikommt. Was sind die Ursachen, und welche Rolle spielt die Jagd?
Dr. Hubert Zeiler
Gams haben Eiszeiten ebenso überlebt wie Räudeepidemien, Jahrhundertwinter, Wilderei und intensive Nachstellung durch den Menschen. Sie haben dort, wo wir sie neu hingebracht haben, Lebensräume in rasantem Tempo besiedelt – wie etwa in Neuseeland. Experten sind daher optimistisch, wenn es um die Zukunft der Wildart im Alpenraum geht. Sorgen bereiten vor allem isolierte Vorkommen in Griechenland, am Balkan oder im
Einfache Formel: Je höher die Schneelage in den Bergen ist, desto höher sind die Winterverluste beim Gamswild.
Kaukasus. Wenn also Gamswildstrecken in österreichischen Kerngebieten innerhalb von zwei Jahrzehnten um ein Drittel einbrechen, dann steht noch nicht die Zukunft der Wildart in Frage. Dennoch stellt sich die Frage nach den Ursachen.
In Teilen Bayerns wird die Wildart seit Jahren bewusst reduziert. Warum sind aber die Strecken auch in anderen Teilen der Alpen seit Langem stark rückläufig? In Zahlen heißt das: Anfang der 1990er-Jahre wurden über 29 000 Gams in Österreich erlegt, 2010 waren es rund 20 000. Das ist ein Rückgang von über 30 Prozent in knapp 20 Jahren. Die Entwicklung verläuft allerdings nicht in allen Regionen gleich. Geht es nach der Stückzahl, dann sind die Strecken in Tirol, Steiermark und Salzburg am stärksten rückläufig. Nehmen wir allerdings den relativen Rückgang in einem Bundesland, dann steht Niederösterreich mit über 50 Prozent deutlich vorn, gefolgt von Oberösterreich, Salzburg und Steiermark. Am geringsten ist die Abnahme südlich des Alpenhauptkammes in Kärnten. Auch wenn man einzelne Bundesländer genauer unter die Lupe nimmt, ergibt sich ein ähnliches Bild. In der Steiermark stellt sich zum Beispiel heraus, dass in südöstlichen Landesteilen die Strecke zumindest gleich geblieben ist. Teilweise hat sie in dem oben erwähnten Zeitraum sogar leicht zugenommen. Während sie in den Kerngebieten im Nordwesten des Landes stark eingebrochen ist.
Gamsjagd in Österreich: Dort sind die Strecken um bis zu 50 Prozent eingebrochen.
Interessant ist in diesem Zusammenhang der Vergleich mit der Gamswildstrecke in der Schweiz. Auch dort verläuft die Entwicklung beinahe identisch mit jener in Österreich – trotz unterschiedlicher Jagdsysteme. In der Schweiz gibt es genau im selben Zeitraum ebenfalls einen Rückgang um gut 30 Prozent. Vieles deutet also darauf hin, dass ein überregionaler Einflussfaktor mitentscheidend für die Streckenentwicklung ist. Naheliegend sind
hier klimatische Einflüsse. Der Vergleich zwischen Nord- und Südabfall der Alpen, ebenso wie jener von klimatisch begünstigten Regionen mit Gebieten, die durch strenge Winter geprägt sind, verstärkt diesen Eindruck.
Geht es um Gamswild und Witterung, dann denkt jeder an den Einfluss starker Schneefälle. Tatsächlich erbrachte die Auswertung verschiedener Klimafaktoren mit dem Fallwildanteil in der Steiermark, dass einzig die Schneehöhe der wirklich bedeutende Einflussfaktor war. Bleiben wir also beim Winterfallwild und sehen uns nochmals die letzten 20 Jahre genauer an. Absolute Fallwildzahlen haben wenig Aussagekraft, weil im Gebirge immer nur ein kleiner Teil tatsächlich gefunden wird. Dennoch sind sie über die Jahre ein guter Weiser für die Winterstrenge. 1992 und 1993 erreichte die Gamswildstrecke in Österreich Spitzenwerte, die es davor und danach nicht mehr gegeben hat. In beiden Jahren lag aber auch die Anzahl des Fallwildes deutlich über dem langjährigen Durchschnitt. Das heißt: In Jahren, in denen außerordentlich hohe Strecken erzielt wurden, gab es gleichzeitig auch hohe Ausfälle aufgrund strenger Winter. Daraufhin fiel die Strecke steil nach unten. 1999 dürfte dann abermals ein außergewöhnlich extremer Winter zu enormen Verlusten geführt haben. Die Fallwildzahlen sind in diesem Jahr mehr als doppelt so hoch als in Durchschnittsjahren. Auch in der Schweizer Strecke gibt es von 1998 auf 1999 einen deutlichen Knick nach unten (siehe Grafik). Dennoch wurde in Österreich kaum Rücksicht auf diesen Winter genommen – in den Folgejahren hat man unabhängig davon die Strecken bereits wieder angehoben. Das war aber nur ein kurzfristiges Zwischenspiel. Es ist wahrscheinlich, dass dies mit dafür verantwortlich war, dass der Abfall danach umso steiler nach unten ging. Im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrtausends gab es dann drei weitere außergewöhnliche Winter mit besonders hohen Wildverlusten. Im Zuge der Abschussplanung wurde erneut nur wenig Rücksicht darauf genommen.
Wie aus dem oben beschriebenen Vergleich der Bundesländer hervorgeht, sind es besonders die Nordstaulagen mit hohen Schneemengen, welche stark betroffen sind. Das zeigen wiederum detaillierte Auswertungen auf Landesebene in der Steiermark. Dieselben Analysen legen auch den Schluss nahe, dass hohe Abschussforderungen
ohne Rücksicht auf natürliche Ausfälle mit einer der Hauptgründe für den Rückgang sind. Man kann also folgern: Starke Eingriffe über die Jagd in Zusammenhang mit hohen Winterausfällen sind sicher Hauptgründe für den auffälligen Rückgang der Gamsstrecken in den letzten 20 Jahren. Der Gesamtabgang war deutlich höher als der Zuwachs. Zum Teil orientieren sich Abschusspläne noch heute an dem Niveau zu Beginn der 1990er-Jahre.Erfüllt werden können die Freigaben allerdings kaum noch. Mit ein Grund für diese Entwicklung sind Abschussbezirke oder Abschusspakete. Dazu ist zu bemerken: Der Verkauf von fixen Abschusspaketen auf Jahre im Voraus lässt sich mit nachhaltiger Jagd auf eine Wildart, bei welcher der Winter nach wie vor zu den wichtigsten bestandesregulierenden Faktoren zählt, eigentlich nicht vereinbaren.
Der Traum vieler Jäger: Einmal im Leben ein Stück des Krickelwildes zu erlegen.
Bleiben wir noch einen Augenblick bei der Jagd. Ganz grundsätzlich ist sie mit ein Grund dafür, dass wir diese Wildart gar nicht richtig kennen. Warum? Weil wir über die Jagd Gamsbestände so formen, dass vor allem die Böcke nur selten ihr mögliches Höchstalter erreichen, weil immer noch zu viele junge erlegt werden. Während die Freigaben bei den reifen, alten Böcken kaum erfüllt werden, werden die Abschüsse in der Mittelklasse regelmäßig überschritten. Dazu kommt noch, dass eine Reihe von Abschussrichtlinien Gamsböcke bereits als alt einstufen, obwohl sie gerade erst einmal reif und erwachsen geworden sind. Mit acht Jahren ist er schlichtweg noch nicht alt. Er ist gerade einmal im besten Alter, und in diesem „besten Alter“ wird er auch noch zu mindest zwei, drei Jahre bleiben. Ein ausreichend hoher Anteil dieser mittelalten Böcke ist bedeutend für eine kurze Brunft, bei der sich das Wild nicht zu sehr verausgabt. Damit in Verbindung steht wieder die Setzzeit und auch jene Zeitspanne, welche den Kitzen bis zum Herbst bleibt, um zu wachsen. Durch fortwährende Erschließung und ganzjährige Nutzung von Berggebieten verlieren Gams dort zunehmend an Terrain. Untersuchungen aus Neuseeland zeigen, dass die Verdrängung in weniger geeignete Lebensräume dazu führen kann, dass die Wildart dort geringere Feistresereven aufbaut – womit auch Zuwachs und Überlebensrate verbunden sind.
Abwärtsspirale: In vielen Regionen der Alpen wurde trotz hoher Fallwildzahlen im Winter munter weitergeschossen.
Hier müssen wir jedoch unterscheiden, wovon wir sprechen: Es ist nicht dasselbe, ob es um ungeeignete Einstände im Gebirge mit extremen klimatischen Verhältnissen und einem unregelmäßig verteilten Äsungsangebot geht, oder ob wir von Waldgams in klimatisch begünstigten Lagen sprechen. Hier wie dort haben wir grundsätzlich ganz unterschiedliche Zuwachsraten.
Geht es um die auffälligen Rückgänge in den Gamswildstrecken, dann können also Krankheiten, Störungen, das Ansteigen der Waldgrenze, die Abdrängung in suboptimale Lebensräume oder ganz generell Lebensraumschwund mit dazu beitragen. Die Bestände nehmen daher lokal oder regional ab – einer der wichtigsten Einflussfaktoren bleibt dennoch die Jagd. Die ungebrochene Nachfrage nach Gamsabschüssen, untermauert von zunehmenden Forderungen nach gesicherter Waldverjüngung, verstärken den Druck auf die Wildart enorm. Die Behörde steht oft dazwischen und genehmigt mit Hinblick auf die Waldentwicklung im Zweifelsfall ohne eingehende Prüfung von Ursache und Wirkung. Nachhaltige Jagd setzt jedoch Rücksicht auf Winterausfälle voraus. Treten tatsächlich Probleme auf, dann sollte man sie auch konkret vor Ort lösen. Pauschale Zielvorgaben, vielleicht sogar auf Landesebene, sind sicher nicht der Weisheit letzter Schluss. Wer ernsthaft an effizienten Lösungen interessiert ist, wird jedenfalls versuchen, möglichst sachlich und genau anzusetzen. Versuchen sollte man es aber auch mit einer Strategie, die nicht allein darauf aufbaut, dass wir Wildtierbestände andauernd unseren Wünschen und Vorstellungen anpassen.