WEISSRUSSLAND
Die größte europäische Hirschart lebt ziemlich heimlich. In der Brunft verrät sich der Elchhirsch durch einen eigentümlichen Ruf. Wie die Lockjagd auf den Elch funktioniert, erlebte Heiko Hornung.
Das Stöhnen des Elchhirsches wirkt fremd. Irgendwie verdrückt, heimlich, sehnend, verstört und enttäuscht. Es passt so gar nicht zu diesem über 400 Kilogramm wiegenden Hirsch, der in den Wäldern, Flussniederungen und Mooren Weißrusslands eine Heimat hat. Wie mächtig tritt dagegen der viel kleinere Rothirsch auf. Sein Ruf zeigt Besitz, Wut, Sehnen, Anspruch, Erregung. Der Elch, der sich wie das viel kleinere Reh eine Partnerin sucht und dieser dann folgt, bleibt zurückhaltend bei einem monotonen, kurzen „Uuuach“. In seiner ganzen Nasalität klingt das fast ein bisschen wie ein Frosch. Die heimischen Jäger bezeichnen diesen verhaltenen kurzen Ruf witzigerweise auch als „Quaken“. Jurij Schumskij beherrscht diese Kunst. Seit er mit 15 Jahren in einer Jagdzeitschrift einen Artikel über das Locken der größten Hirschart der nördlichen Halbkugel las, zog es den Jungen hinaus. Er schlich in den Sümpfen seiner Heimat umher, lauschte, versuchte und lernte.
Im September ist der Jäger, der später die Forstlaufbahn ergriff und heute Präsident des weißrussischen Jagd- und Anglerverbandes ist, jedes Jahr in den riesigen Revieren von Belarus unterwegs, um als Lockjäger mit Freunden oder selbst dem schwarzbraunen, heimlichen Elchhirsch nachzustellen. Jetzt ist es wieder soweit. Diesmal pirscht der 50-Jährige mit mir in den Wäldern von Bychow, einem kleinen Ort an der russisch-weißrussischen Grenze. In tiefen Zügen ziehe ich den Duft von Kiefern, Pilzen, Heide und herbstlich dampfender Torf-Sand-Erde durch die Nase. Kein anderer Geruch weckt in mir mehr Erinnerungen an die herrlichen Jagdgründe des Ostens. Über dem dunklen Bruchwald sinkt rot die Sonne. Zusammen mit Jurij sitze ich in der Heide, habe ein malziges Minsker Bier in der Hand und kaue auf salzigem Trockenfisch. Wir haben noch etwas Zeit. Meist beginnt der Elch mit seinem Suchen und Brunften erst in der Dämmerung. Jurij bespricht mit zwei Berufsjägern die weitere Strategie der bevorstehenden Pirsch.
Jurij bespricht mit zwei Berufsjägern die weitere Strategie der bevorstehenden Pirsch. So viel habe ich verstanden: Eine starke Elchhirschfährte stand mit der eines Tieres und deren Kalbes über einen Sandweg in einen sumpfigen Bruchwald hinein, der sich wie eine Halbinsel ins offene Land hineinschiebt. Die kleine Heide, durch den besagter Sandweg läuft, bildet die Brücke in den Haupteinstand. Um den Bruch herum wird Torf gestochen, der mit Loren in einem nahen Werk zu Heizbriketts gepresst wird. Schnell hatten wir diese Enklave umschlagen und abgefährtet. Der Elchhirsch mit dem breiten Trittsiegel müsste noch stecken. Einziges Problem: Auch wenn es ein pferdsgroßes Tier ist – auf 300 Hektar kann es leicht darin verschwinden oder ungesehen in der Dämmerung auswechseln.
Aleksandr hielt ihn mit seinen Arien im wahrsten Sinne des Wortes bei der Stange. Als das Licht schwand, mischte sich eine weitere, tiefere Stimme in die Unterhaltung ein. Als dieser Hirsch ebenfalls zustand, verschwieg der junge Gabelelch und verdrückte sich. Interessant ist auch, dass die Elche nicht unbedingt wie springende Böcke vor den Schirm kommen. Sie nähern sich vorsichtig, halten zunächst Abstand, taxieren, versuchen Wind zu holen und kühlen ihren Mut an einem Busch oder Bäumchen. Eine sich bewegende Elchstimme, die mit krachenden Ästen auch den Eindruck schweren Wildes im Unterholz hinterlässt, ist glaubwürdiger als eine, die am Platz verharrend vor sich hinstöhnt Jurij zuckt enttäuscht mit den Schultern. Vergeblich ruft er dem Davonziehenden nach. Wir packen ein, stapfen durch das Heidekraut zurück zu unseren Rucksäcken, um unser Glück woanders zu versuchen. Gerade haben wir Jacken, Brotzeit und Flaschen verstaut, erklingt, zwar noch weit entfernt, aber doch deutlich näher als zuletzt, das elektrisierende „Uuuah“. Unser Hirsch kommt zurück. Schnell Büchse und Zielstock zur Hand und wieder auf den soeben verlassenen Platz. Jurij gibt alles, läuft neben mir, setzt einige Rufe ab, deutet auf meinen Platz und macht mir klar, dass er ins rückwärtige Holz ziehen wird, um den vor uns meldenden Hirsch zu verleiten, dem vermeintlichen Kontrahenten zu folgen und damit für mich vielleicht sichtbar zu werden. Bald darauf taucht er ästebrechend hinter mir in den Bestand, fegt kurz darauf, schlägt rauschend in einen Busch und tut ganz aufgeregt. Gut 100 bis 200 Meter habe ich Sichtfeld. An der Waldkante ziehen sich Wassergräben entlang, deren Böschungen mit hohem, teilweise schon gelbem Adlerfarn bewachsen sind. Dahinter dunkler Fichten- und Erlenwald, der in der einsetzenden Dämmerung immer mehr Kontur verliert.