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Reduktion allein genügt nicht

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ABSCHUSS VON KÄLBERN UND ALTTIEREN

Anhand von Beispielen aus der Praxis widmet sich der Autor dem Abschuss des Rotkahlwildes. Er bekennt sich zu einem beherzten Eingriff in die Jugendklasse und befürwortet auch eine verantwortungsvolle Auslese bei den Alttieren, wenn der Bestand begrenzt werden soll. Doch um Schäden im Wald zu vermeiden, darf nach seiner Ansicht nicht nur die Büchse sprechen.

Dr. Paul-Joachim Hopp
Im Forstamt Witzenhausen, einem bekannten nordhessischen Hochwildrevier, hatte ich zwar schon des Öfteren gejagt, aber bislang nur einen Frischlingskeiler mit 19 Kilo erlegt. Witzenhausen war für mich ein vermaledeiter Ort: Entweder sah ich nichts, oder ich kam nicht zu Schuss. Allerdings stehen dort auch zwei Fehlschüsse auf meinem Konto. Daher

wollte ich 2004 vor der Auflösung des Amtes durch die Forstreform versuchen, mein mageres Streckenergebnis daselbst zu verbessern. Nach der Brunft saß ich auf dem „Lieblingssitz“ von Julius Durst, dem Leiter des inzwischen aufgelösten Forstamtes Witzenhausen. Der Hochsitz steht am Rand einer zum Teil verwilderten größeren Äsungsfläche, die inmitten eines umfangreichen jüngeren Fichtenbestandes liegt. Die uniforme Bestockung ist durch Schneisen, die alle auf den Sitz zulaufen, gut erschlossen. Schon nach einer Viertelstunde sah ich Wild. Auf der Freifläche erschien im Gefolge einer Ricke ein Einstangenbock. Fast gleichzeitig zeigte sich auf einer der Schneisen Rotwild. Ein Tier und ein Kalb ästen auf dem spärlich mit Gras und Kräutern bewachsenen Streifen. Bald gesellte sich ein mittelalter Kronenzehner hinzu. Aber für einen sauberen Schuss auf das Kalb war die Entfernung zu groß. Nach einer Weile wechselten die drei Stücke in die Fichten zurück, und das Rehwild trollte sich ebenfalls.

Just, als in der Ferne das Lichterspiel von Kassel zu leuchten begann, erschien erneut Rotwild. Nahe der Einmündung eines Gestelles auf den Randweg des Fichtenblockes drängten sich in Schussentfernung zwei Alttiere, zwei Kälber und ein Schmaltier über den Aufhieb. Das eine Kalb war schwach, das andere deutlich stärker. Doch ich bekam das geringe Stück nicht frei und musste das Rudel unbeschossen über die Schneise ziehen lassen. Ich rechnete damit, dass das Wild in der Deckung des Bestandes zur Äsungsfläche ziehen würde und richtete mich für einen weiten Schuss ein. Mein Wetterfleck wurde als Unterlage für die leichte und führige Kipplaufbüchse auf die Brüstung des Hochsitzes gelegt. Als Vorhut des Rudels erschienen ein Alttier und das schwache Kalb auf der teilweise noch begrünten Wildnis. Beide Stücke äugten zurück. Ein Zeichen, dass der Rest des Verbandes nachrücken würde. Doch ich wartete sein Austreten nicht ab, sondern backte an und zielte. Als die Spitze des Abkommens kurz hinter dem Blatt des Kalbes stand, drückte ich ab. Das Mündungsfeuer blendete mich zwar für einen Augenblick, aber ich glaubte dennoch, erkannt zu haben, dass Tier und Kalb gemeinsam in die Fichten geflüchtet seien. Missmutig schüttelte ich den Kopf, denn das Stück musste die Kugel im Leben haben. Es galt nachzuschauen. Auf dem Anschuss fand ich weder Schnitthaar, Schweiß noch Knochensplitter. Die Dämmerung erschwerte die Kontrolle. Eine Nachsuche war fällig. Aber ich war doch gut abgekommen und befürchtete deshalb, dass das Kalb schon verendet sei und über Nacht verhitzen oder von Füchsen angeschnitten würde. Auch Sauen konnten Interesse an Stück bekunden, es als Fraß aufnehmen. Da kam mir die Erfahrung in den Sinn, dass Jäger nahes Rot- oder Schwarzwild riechen können. Also bückte ich mich und ging tief gebeugt langsam den Dickungsrand im Anschussbereich entlang. Nach wenigen kurzen Schritten registrierte meine Nase die strenge Duftmarke von Rotwild. Das Kalb lag vor mir in der aufgehenden Dickung. Ein Kammerschuss hatte es zur Strecke gebracht. Die Freude über die Erlegung und das Auffinden des Wildkalbes war groß. Auch Julius, der mich schon gesucht hatte, freute sich. Natürlich kann der ehemalige Schweißhundführer Hopp keinen Schweißhund ersetzen, und er will auch mit diesem Glücksfall für keine eigenmächtigen Nachsuchen werben. Doch wer sich seiner Kugel sicher ist, der darf wohl in einer Zeit äußerst strenger Vorschriften für Wildbrethygiene im engen Anschussbereich seine Nase einsetzen. Voraussetzung ist allerdings, dass sie, wie bei Weinliebhabern, fein ist.

Das Wildkalb wog nur 28 Kilogramm. Seine Erlegung war ein Hegeabschuss. Er konnte leicht bewerkstelligt werden, denn es bestand die Möglichkeit der Auswahl. Allerdings hätte ich im Einverständnis mit dem Forstamtsleiter auch ein Kalb aus dem Rudel beschossen, wenn beide Kälber stark gewesen wären. Gewichtsbeschränkungen beim Kälberabschuss sind kein probates Mittel für eine frühe und restlose Abschusserfüllung. In Revieren mit einem hohen Abschuss-Soll an Kälbern ist es unvermeidlich, dass auch starke Kälber geschossen

werden. Trotzdem gilt auch in diesen Jagdbezirken bei Vergleichsmöglichkeiten die jagdliche Grundregel „schwach vor stark“. Starke Kälber werden vor allem auch dann der Wildbahn zu entnehmen sein, wenn mit dem Abschuss des Nachwuchses aus ökonomischen und biologischen Gründen erst nach der Brunft begonnen wird. Durch den relativ späten Jagdbeginn für Kälber kann der Jagddruck in den Sommermonaten gering gehalten werden. Im Herbst sind die Verkaufserlöse für Kälber auf Grund ihrer höheren Wildbretgewichte allgemein besser als im Sommer. Außerdem lässt die Laktation bei den führenden Alttieren langsam nach. Und schließlich ist bei der heutigen Unruhe in den meisten Revieren die Verkürzung der Zeit einer intensiven Jagdausübung im Interesse des Wohlbefindens des Wildes ein wesentlicher Faktor der Hege. Wenn, wie im Rotwildgebiet Spessart, nach den Abschussrichtlinien der jährliche Streckenanteil an Wild- und Hirschkälbern (Altersklasse IV) jeweils 50 Prozent betragen soll, müssen die großen Einstandsreviere einer Hegegemeinschaft mit hohem Rotwildbestand zahlreiche Kälber zur Strecke bringen. In ihnen muss daher jede Gelegenheit zur Kahlwildbejagung genutzt werden, um im Interesse der Wildhege möglichst frühzeitig – bis zum 31. Dezember – die Jagdausübung beenden zu können. Geschieht das nicht, dann wird im Januar der Jagddruck zur Abschusserfüllung durch die Einlage zusätzlicher Gemeinschaftsjagden sogar noch erhöht. Im Verbund mit der vorgesehenen Entnahme von Schmaltieren (5–15 Prozent), die jedoch nicht ausgeschöpft werden sollte, sondern allenfalls 10 Prozent betragen darf, kann im hessischen Spessart beim weiblichen Wild der jährliche Streckenanteil an Kälbern und einjährigen Stücken zusammen  maximal 60 Prozent betragen. Das jährliche Abschuss-Soll für Hirschkälber (50 Prozent) und an jungen Hirschen (1- bis 4-jährige / 35 Prozent) ist insgesamt auf maximal 85 Prozent des geplanten Abschusses an männlichem Wild begrenzt. Beachtet man diese Regelungen, kann eine Population altersklassenmäßig gut geordnet werden. Das setzt allerdings voraus, dass die Hegegemeinschaft im Interesse eines ausgewogenen Altersklassenverhältnisses keine Aufstockung des Alttierbestandes, die eine Vergrößerung der Zuwachsbasis bedeuten würde, zulässt. Es ist daher unabdingbar, dass beim Abschuss je Jagdjahr auch ein angemessener Streckenanteil an Alttieren erreicht wird. Er soll im Rotwildgebiet Spessart bis 40 Prozent des Abschusssolls für die weibliche Teilpopulation betragen. Bei einem stückzahlmäßig ungenügenden Abschuss von Alttieren darf der Abschuss von Schmaltieren keineswegs zur Abdeckung der Differenz zwischen Soll und Ist bei den Alttieren erhöht werden. Eine derartige Maßnahme gefährdet das Ziel der Zuwachsbegrenzung und ist wildbiologisch problematisch. Ein hoher Abschuss an Wildkälbern und eine erhöhte Entnahme von Schmaltieren stört das Altersklassenverhältnis der weiblichen Teilpopulation.

Beim männlichen Wild sollte man ebenfalls den Abschuss an Hirschkälbern erfüllen und den Abschuss von jungen Hirschen bis zum Limit ausschöpfen. Gleicht man Defizite beim Abschuss von Hirschkälbern durch einen verstärkten Abschuss an jungen Hirschen aus, wird der Block der mittelalten Hirsche schrumpfen und der erstrebte Anteil an alten Hirschen (10 Prozent) nicht nachhaltig erreichbar sein. Wird beim Kahlwild das Abschuss-Soll an Kälbern und Schmaltieren übertroffen, ist die Überschreitung möglichst durch einen verstärkten Abschuss von nichtführenden Alttieren auszugleichen. Das kann noch im laufenden Jagdjahr durch Nachbewilligung von Alttieren im Rahmen der in Hessen gesetzlich zulässigen Abschussplanüberschreitung von 30 Prozent erfolgen oder ist bei der Abschussplanfestsetzung des Folgejahres zu berücksichtigen. Mehrjährig überhöhte Abschüsse bei Kälbern ohne Ausgleich durch Abschusserhöhungen bei den Alttieren führen zu einer Überalterung der weiblichen Teilpopulation. Das ist nicht erwünscht, denn zusätzlich zur Störung des Altersklassenverhältnisses erfolgt eine Verbreiterung der Zuwachsbasis, zumal selbst alte und sehr alte Tiere noch Kälber setzen. In der 9. Auflage des Standardwerkes „Das Rotwild“ von V. RAESFELD/REULECKE (1988) zitiert letzterer Untersuchungen von HOFMANN und THOMÉ (1983). Danach waren im Jagdjahr 1982/83 im Westharz von 223 erlegten und untersuchten Tieren vor allem Alttiere im Alter von zwei bis 10 Jahren trächtig. Der Anteil der beschlagenen Tiere schwankte in dieser Altersspanne zwischen 92,9 und 100 Prozent, wobei der Höchstwert bei den 3- bis 4-jährigen Stücken erreicht wurde. Aber auch alte und sehr alte Mitglieder der weiblichen Teilpopulation können trächtig werden (Alter 11/12 J. = 42,9 Prozent, Alter über 12 J. = 28,6 Prozent). Jedoch setzen sehr alte Stücke nicht mehr jedes Jahr ein Kalb. Individuenreiche Rotwildpopulationen, die empfindliche Wildschäden in Land- und Forstwirtschaft verursachen, müssen reduziert werden. Ihre Zuwachsbasis ist zu schmälern. Daher ist es notwendig, den vorhandenen Bestand an Alttieren abzusenken.
Die bei der Freigabe auf Gesellschaftsjagden häufig vorgetragene Formel, dass Alttiere von Schützen bejagt werden dürfen, die unmittelbar zuvor das dem Mutterstück unzweifelhaft zuzuordnende Kalb erlegt haben, genügt aber nicht. In der Praxis lässt sich diese „Dublettenempfehlung“ oft nicht verwirklichen. Entscheidend für die Höhe des Abschusses von Alttieren ist vielmehr der Umfang ihrer Freigabe auf Gesellschaftsjagden, die heute überwiegend in der Form von Stöberjagden gestaltet werden. Auf diesen Jagden sollten daher die Schützen einzeln anwechselnde Alttiere bejagt werden dürfen. Sie haben häufig just ihr Kalb verloren. Ebenfalls sollte bei der Ausübung der Einzeljagd der Abschuss einzeln gehender Alttiere erlaubt sein undsich auch auf nichtführende Stücke in einem Rudel erstrecken können. Erfahrene Jäger vermögen Tiere, die ohne Kalb in einem nicht beunruhigten Verband ziehen, in bestimmten Situationen anzusprechen. Die Bejagung von Alttieren ist problematisch, weil verwaiste Kälber es schwer haben zu überleben. Zwar werden Kälber, die nach der Brunftzeit ihr Muttertier verlieren, nach WÖLFEL (1999) in der Regel „nicht verhungern und auch überleben“, aber in der Sozietät immer unter Druck stehen. Ob jedoch die betroffenen Kälber tatsächlich am Leben bleiben, ist wissenschaftlich nicht belegt. Tatsache ist, dass Kälber ab September/Oktober ausschließlich von pflanzlicher Nahrung leben können. Sie bedürfen aber offensichtlich auch dann noch der Führung durch die Mutter bis zum Setzen des Folgekalbes. Erfahrungsgemäß kann man Kälber innerhalb von zwei bis drei Tagen im Bereich des Erlegungs- oder Unfallortes seines Mutterstückes antreffen und bejagen. Später wird es schwieriger, mutterlose Kälber auszumachen und ihnen die Kugel anzutragen, denn die Waisen versuchen häufig, Anschluss an ein Rudel, auch Hirschrudel, zu bekommen, wenngleich sie in Kahlwildrudeln immer wieder abgeschlagen werden. Schießt man besonders schwache Schmaltiere oder Schmalspießer, ist die Überzeugung, ein im Vorjahr verwaistes Wild- oder Hirschkalb der Wildbahn entnommen zu haben, lediglich eine Vermutung.
Als Frevert 1936 nach Rominten kam, erkannte er bald, dass der dortige Rotwildbestand, gemessen an der Biotopkapazität, überhöht war. Er ließ ihn daher später spürbar reduzieren. „Dabei ging es ihm darum, alte Alttiere zur Strecke zu bringen. Er erteilte (deshalb) den an den Wildjagden teilnehmenden Jägern die Instruktion, zunächst immer das Leittier zu erlegen“ (GAUTSCHI, 2004). Diese Anordnung Freverts ist heute wildbiologisch und aus Gründen des Tierschutzes unakzeptabel. Leittiere führen immer ein Kalb und erfüllen für das von ihnen geführte Rudel wichtige Leitfunktionen. Vielleicht müssen wir im Hinblick auf notwendige Alttier-Reduzierungen die Dominanz der Stöberjagden zurücknehmen, um geeignete andere Jagdarten ebenfalls für die Erlegung des Mutterwildes zu nutzen. Das Ansprechen von nichtführenden Alttieren erfordert auch für erfahrene Hochwildjäger Zeit zum Abwägen ihrer Entscheidung, die eine Jagdart mit vielen Hunden (und Störern) oft nicht gewährt. Deshalb können zum Beispiel die (klassische) Drückjagd und der flächendeckende Ansitz ohne Wildstörung sicherlich zielführender für den Abschuss von Alttieren sein als die Stöberjagd. Bei der Einzeljagd eignen sich Ansitz und Pirsch vortrefflich für die Jagdausübung auf kälberlose Alttiere. Die Qualität der Lebensräume hat für das Schalenwild durch einen hohen, flächendeckenden Eintrag von Stickstoff aus der Luft zugenommen. Von der Häufung der Mastjahre bei der Eiche und Buche profitiert neben den Sauen auch das Rotwild. Andererseits fehlen größere Freiflächen mit den ehemals bevorzugten besonnten Äsungspflanzen. Das Rotwild hat heute zumeist seine Einstände in äsungsarmen, dichten Naturverjüngungen, Unterbauten oder anderen engen Pflanzungen. Sie liefern während einer langen Zeit im Jahr keine weiche Äsung und führen zum oft verstärkten Verbiss von Laubhölzern. Die heutige Jägerschaft wird nicht umhinkönnen, den Alttierabschuss als ein Steuerungselement für die Entwicklung von Rotwildpopulationen verantwortungsbewusst anzuwenden. Nur so kann die gesetzliche Forderung zur Vermeidung von Beeinträchtigungen einer ordnungsgemäßen land- und forstwirtschaftlichen Nutzung angemessen erfüllt werden. Begleitend sind aber zugleich Maßnahmen zur Äsungsverbesserung und Beruhigung der Lebensräume des Wildes erforderlich. Durch eine solche Bündelung der Maßnahmen ist eine Verringerung von gravierenden Wildschäden möglich. Reduktion allein genügt nicht !

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