RUHEZONEN UND INTERVALLJAGD
Wie viel Ruhe braucht unsere größte Schalenwildart? Und wie sollte demnach auf sie gejagt werden? Dr. Frank Tottewitz und Matthias Neumann gehen diesen Fragen nach.
Als eine großräumig lebende und zugleich höchst sensible Wildart reagiert Rotwild sehr empfindlich auf unvorhergesehene störende Einflüsse. Hierzu zählt unweigerlich auch die Jagd. Ruhe ist eines der zentralsten Bedürfnisse dieses Wildes. „Sicherheit geht vor Nahrungsluxus“, brachte es Prof. Fritz Reimoser auf den Punkt. Die beste Äsungsfläche ist überflüssig, wenn dort das Rotwild nicht die nötige Sicherheit findet. Häufig aber werden gerade an Wiesen und Wildäckern jagdliche Einrichtungen errichtet. Fallen dann dort in der Vegetationsperiode und vor allem abends Schüsse, sind Sommerschälschäden in den angrenzenden Dickungen programmiert. Vielerorts wurde der Jagddruck in den vergangenen Jahrzehnten aufgrund waldbaulicher Ziele stetig erhöht.
Schnell wurde der Ruf nach längeren Jagdzeiten laut, um die hohen Abschusspläne überhaupt erfüllen zu können. Ein Teufelskreis. Denn Rotwild reagiert auf Dauerdruck mit Einstandstreue in den schälgefährdeten Dickungen. Da der Äsungsrhythmus der Wiederkäuer eine periodische Nahrungsaufnahme verlangt, sind dort Schäden durch Schäle gerade im Sommer zu erwarten, obwohl eiweißreiche krautige Pflanzen im Überfluss vorkommen. Es gibt demzufolge wichtige Gründe, über die Habitatausstattung, die Lebensraumgestaltung und die Jagdausübung nachzudenken. Am Thünen-Institut für Waldökosysteme (Eberswalde) werden diese Fragestellungen aufgegriffen. Seit elf Jahren laufen Untersuchungen zum Biorhythmus des Rotwildes in unterschiedlichen Lebensräumen. Inzwischen wurden über 90 Stücke Rotwild beiderlei Geschlechts mit GPS-Halsbandsendern ausgestattet, um das Raum-Zeit-Verhalten zu analysieren. Ein Schwerpunkt ist in diesem Zusammenhang die Wirkung von Wildruhezonen und die Auswirkung von kurzen Bejagungsintervallen auf das Verhalten des Rotwildes. Untersuchungen haben gezeigt, dass Rotwild deutlich auf das Ruheangebot reagiert. Tagvertrautes Verhalten im Offenland oder die Verringerung der Streifgebietsgrößen waren im Untersuchungsgebiet die signifikantesten Veränderungen gegenüber den „normal“ bejagten Gebieten. Diese Effekte wurden bereits nach wenigen Monaten Jagdruhe beobachtet, obwohl ansonsten das Gebiet unverändert forstlich genutzt wurde und auch weiterhin ein freies Betretungsrecht galt.
In der Nähe der circa 230 Hektar (ha) großen Wildruhezone „Roter Berg“ (Thüringer Forstamt Fauenwald, Thüringenforst – AöR) wurden drei mittelalte Alttiere zur gleichen Zeit und am gleichen Ort besendert. Das Verhalten dieser drei Stücke wurde satellitentelemetrisch zwei Jahre lang beobachtet. Die Gesamtstreifgebiete lagen mit etwa 500 bis 650 ha in einer annähernd gleichen Größenordnung. Auch die waldbaulichen Verhältnisse sind in den Streifgebieten vergleichbar. Zwei der Alttiere hielten sich häufig im Bereich der Ruhezone auf, das dritte nie. Unter diesem Aspekt sind die Ergebnisse zur saisonalen Lebensraumnutzung besonders interessant. Vor allem in der Hauptvegetationsperiode von Mai bis August zeigten sich auffallende Unterschiede.
Während die beiden Stücke im Bereich der Ruhezone Streifgebiete von 100 ha beziehungsweise 270 ha nutzten, zeigte das Alttier außerhalb der Ruhezone mit 480 ha ein wesentlich größeres Areal. Zur Setzzeit im Juni und Juli ergaben sich noch deutlichere Unterschiede. Die beiden Tiere am „Roten Berg“ hielten sich fast ausschließlich kleinflächig in der Ruhezone auf (28 beziehungsweise 158 ha), während das dritte Stück mit 257 ha einen wiederum deutlich größeren Raumbedarf hatte. Die Untersuchungen belegen, dass die dortigen Störungen, insbesondere jagdliche Aktivitäten, zu einer Stressbelastung und damit verbunden zu einem erhöhten Raumbedarf geführt haben. Welche anderen positiven Auswirkungen eine Wildruhezone haben kann, belegt die Attraktivität der dort errichteten Wildbeobachtungskanzel. Seit zehn Jahren betreut Dr. Mario Nöckel das Gebiet und bietet Führungen an. Tausende Besucher konnten so Rotwild bei Tageslicht beobachten, und es gibt kaum einen Tag, an dem kein Rotwild in Anblick kommt.
Im Nationalpark Vorpommersche Boddenlandschaft (Mecklenburg-Vorpommern) befindet sich an der Nordspitze des Darßwaldes die Wildruhezone „Darßer Ort“. Die Größe beträgt rund 210 ha. Außer einem eingeschränkten Betretungsrecht in der Kernzone unterbleibt jegliche forstliche, touristische und jagdliche Nutzung. In diesem Gebiet hatte ein circa zehnjähriger Hirsch über 24 Monate seinen Einstand. Lediglich zur Brunft verließ er sein 400 ha kleines Streifgebiet am „Darßer Ort“.
Andere gleich alte Hirsche zeigen dagegen im südlichen Teil des Darßwaldes, in der Nähe der Orte Born und Wieck, ein völlig anderes Verhalten. Nicht nur, dass mit 2000 ha die Streifgebiete deutlich größer sind, auch der Tag-Nacht-Rhythmus lässt gravierende Unterschiede erkennen. Der Hirsch am „Darßer Ort“ nutzte Waldgebiete und Offenlandschaften gleichermaßen bei Tageslicht und in der Nacht. Demgegenüber beschränkten sich die anderen Hirsche nahezu ausschließlich auf die Nachtstunden, um die Freiflächen für die Äsung zu nutzen. Dem Ruhebedürfnis des Rotwildes sollte mit einer intervallartigen Jagd Rechnung getragen werden. Dabei wird diese allerdings oft sehr unterschiedlich ausgelegt und ist dann kaum vergleichbar. Unter diesem Aspekt und angesichts des Problemes geringer Strecken trotz hohen Jagdaufwands sah sich das Thüringer Forstamt Neuhaus veranlasst, verschiedene Jagdmethoden zu testen. Das Mittelgebirgsforstamt bewirtschaftet eine Waldfläche von 17400 ha Staatswald. Die Jagd wird von Forstbediensteten und Gästen in Pirschbezirken ausgeübt. Im Herbst finden großräumige Ansitzdrückjagden mit wenigen, niederläufigen und fährtenlauten Hunden statt. In den zurückliegenden zehn Jahren kamen im Forstamt durchschnittlich zwischen 1,5 – 2,5 Stück Rotwild je 100 ha zur Strecke.