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Verhaltensänderungen des Schwarzwildes durch Bejagung

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Schwarzwild-Experte Norbert Happ geht im Interview mit WILD UND HUND auf die Frage ein, wie sich die Bejagung auf das Verhalten des Schwarzwildes auswirkt.

Christian Schätze Schwarzwildstrecke
„Großflächige Drückjagd heißt: Das Wild ist überall, der Jäger ist überall.“ (Foto: Christian Schätze)
Norbert Happ: Das sind theoretische Fragen; um sie beantworten, müsste man Rottenmitglied sein. Es spielen sicher Geländestrukturen und Rottenzusammensetzung eine wichtige Rolle. Meine Kontaktrotte war jahrelang am Abend nach jeder Drückjagd trotz erheblicher Verluste wieder in ihrem Einstand. Entscheidend ist, was die Sauen, vor allem die Führungsbache, von der Erlegung eines Rottenmitglieds mit bekommen.
Haben sich beim Schwarzwild durch die Bejagung über die Jahre gewisse Strategien oder Verhaltensmuster entwickelt (z. B. gesteigerte Aggression, schwieriger aus den Dickungen zu bekommen etc.)?
Bei allen Ansitzdrückjagden, die ich 35 Jahre lang in Deutschland und Frankreich geleitet habe, setzte ich immer vier Treiberwehren ein mit je einem scharf an Schwarzwild jagenden Hund. Heute sind allenthalben viele Hunde im Einsatz ohne Erhöhung des Jagderfolges, es hat aber auch überall die Deckung ganz erheblich zugenommen. Die sehr lernfähigen Sauen können zunehmend besser mit Hunden „fertig werden“. Den Hundeeinsatz muss man wohl immer weiter steigern, um dasselbe Streckenergebnis zu erzielen. Wenn eine kranke Sau annimmt und zwischen Hund und Jäger wählen kann, wird sie immer den Menschen angreifen. Sie weiß, dass von dem die größere Gefahr ausgeht. Es stellt sich allerdings die Frage: Halten wir viele Hunde, um viele Sauen erfolgreich zu bejagen, oder haben wir viele Sauen, um viele Hunde zu beschäftigen?
Können Sauen einen Schuss in ihre Rotte (negatives Ereignis) mit einem bestimmten Ort verknüpfen?
Unbedingt: Das hat vor vielen Jahren schon Karl Ebert beschrieben. Er war Leiter des Forstamtes Bebenhausen im Schönbuch und Lehrer an der Wildhüterschule in Tansania.  Die optisch wahrgenommene Todesflucht eines Familienmitgliedes führt bei allen in Sozialverbänden lebenden Wildarten zu einem langen Meiden des Erlebnisortes. Ein  Todesschrei vervielfältigt die Wirkung. Beschossene Sauen, vor allem Frischlinge klagen häufig auch bei guten Schüssen.
Meiden Sauen gezielt über Jahre hinweg genutzte Drückjagdstände? Macht es Sinn die Stände regelmäßig umzustellen? Wenn ja, wie?
Nein, sonst müsste es in einem Schwarzwildbestand  einen Nachrichtendienst geben. Wenn aus kleinen Rotten, wie sie in den allenthalben devastierten Beständen üblich sind,  eine Sau fällt, wie sollten andere Sauen  das erfahren? Die betroffene Rotte mag vielleicht bei der nächsten Jagd einen
anderen Wechsel nehmen, dann passiert sie halt andere Stände. In meinem früheren Forstrevier hatte ich eine Reihe von Ständen, die waren über Jahrzehnte „fängisch“.
Ist es möglich, dass ältere Stücke Ereignisse im Rahmen einer Drückjagd (Anstellen, Anblasen, Treiberlärm, viele Autos) deuten können und so frühzeitig das Treiben verlassen oder anderweitig reagieren?
Was ist ein Treiben? Bei den heute üblichen großflächigen Jagden gibt es das klassische Treiben nicht mehr.  Oft habe ich erlebt, dass Sauen beim ersten Jagdlärm aus dem Kessel aufstanden und hin und her zogen, um sich zu orientieren. Dabei konnte  ich etliche Frischlinge erlegen. Eine bessere Bestätigung der richtigen Position eines Drückjagdstandes  gibt es nicht. Zusätzlich bringt man eine Rotte, die früh und in  ihrem Einstand beschossen wurde, in der Regel leichter aus der Dickung. Diese Sitze darf man allerdings ausschließlich bei Drückjagden nutzen, sonst verlieren sie die ihnen zugedachte Bedeutung.
Der alte Begriff Treibjagd bedeutet: Das Wild ist drinnen, wir sind draußen; man muss das Wild von drinnen nach draußen treiben und möglichst sprengen, damit viele Jäger zu Schuss kommen. Großflächige Drückjagd heißt: Das Wild ist überall, der Jäger ist überall; man muss Jäger und Wild so oft wie möglich zusammen bringen. Kann man Sauen als Rotte mehreren Schützen ruhig vorführen ist bei guten Jägern das Streckenergebnis meist einwandfrei. Nur das kann man zu Recht als Drückjagd bezeichnen; Es bedarf einiger Kunst und kundiger, passionierter Helfer. Meine Stammtreiber habe ich zu Drückjagden nach Frankreich mitgeschleppt; sie gingen für mich durchs Feuer, durch Brombeeren allemal, weil sie sich mit Jagd und Jägern identifizierten. Bei Schützen und Treibern geht Klasse vor Masse. Wenn Jäger wirklich geladene Gäste sind und als Nachbarn und deren jagdlichem Umfeld schon im eigenen Interesse an einer sauberen Strecke interessiert sind, gewinnt man Vieles. Auf die Jäger, die schon zu Beginn des Jagdjahres ihr Budget auf eine bestimmte Anzahl von Drückjagden einschließlich der Gebühren für Fehlabschüsse festlegen, verzichtet man besser. Bei verkauften Jagden mag zwar die Kasse klingeln und auch der Wildbestand irgendwie dezimiert werden, das ändert nichts daran, dass auch geringe, aber devastierte Bestände größere Schäden an Wald und Flur anrichten als höhere, gut aufgebaute, die sich gut steuern lassen.
Können Sauen bejagte oder „unbejagte“ Kirrungen unterscheiden? Wenn ja, wie äußert sich das und welche Rückschlüsse ergeben sich daraus für den Jäger – Stichwort: richtige Kirrjagd?
Zunächst zu den Begriffen: Wir kennen drei Arten der Futtervorlage: Die Erhaltungsfütterung, die Ablenkfütterung und die Kirrung. Die Erhaltungsfütterung steht  hier nicht zur Debatte. Die Ablenkfütterung spielt für die Schadensminderung eine große Rolle und funktioniert dann, wenn ein intakter Bestand kopfstarke Rotten mit wirklich alten Leitbachen hat. Diese  lassen sich während der Feldgefährdung mit wenig Futter gut binden. Mit jedem Jahr, das eine Leitbache älter wird, spart man Futter. Wenn in Mastjahren Grünlandschäden zu rechnen ist, kann man aus geeigneten Futtervorrichtungen eiweißhaltige Pellets verfüttern, wie ich sie einmal vor Jahren konzipiert und mit großem Erfolg eingesetzt habe. In beiden Fällen hat die Vorlage keinerlei Auswirkungen auf die Populationsentwicklung (H.D. Pfannenstiel, 2014). Dafür sind Winterernährung, Wetter und Bestandsaufbau maßgebend. In der Vegetationszeit frisst eine Sau sich immer satt, es fragt sich nur wo. Bei einem Mastanfall von 50 dz. je Hektar Alteichenbestand wird sie allemal satt und das etwa sieben Monate lang. Die Rückkehr von der Ideologie zur Biologie einschließlich des wirklichen Kennenlernens der „Erfahrungsträger“ statt deren Erschießung wäre wichtig sowie naturnahe Jagd. Die Kirrung ist die Vorlage von ganz wenig Futter mit dem ausschließlichen Zwecke der selektiven Bejagung. Es gibt also keine „unbejagte“ Kirrung. Bei allen Futtervorlagen sind die gesetzlichen Bestimmungen des jeweiligen Bundeslandes zu beachten. Die Bejagung an der Kirrung reflektieren Sauen immer. Es entsteht  aber dort keine territoriale Bindung, so dass nach dem Schuss in eine Rotte andere Sauen erscheinen können. Schießt man so, dass möglichst wenige Sauen das Ereignis optisch wahrnehmen, ist die Chance groß, dass sie nach einiger Zeit, oft schon nach wenigen Tagen, wieder erscheinen. Man sollte immer mit einer Streifenkirrung arbeiten.
Gibt es Erkenntnisse, dass Sauen Bereiche mit weniger Jagddruck (etwa urbane) gezielt aufsuchen, um der Jagd zu entgehen?
Ja, das haben sie mit einem anderen schlauen Wildtier, dem Fuchs, gemeinsam. Fuchspopulationen z.B. sind mancherorts in urbanen und dörflichen Räumen dreimal so hoch wie in der freien Wildbahn. Die Berliner Stadtsauen habe ich schon vor mehr als zehn Jahren erlebt.
Wenn der Wolf wieder flächendeckend  vorkommt, ziehen sicher viele Sauen in Städte und Dörfer, wo weder Mensch noch Wolf ihnen schlecht beikommen. Wir werden möglicherweise so auch ein animalisches Flüchtlingsproblem bekommen.
Wie ändern Sauen ihren Aktivitätsrhythmus bei intensiver Bejagung (Meiden bestimmter Orte zu bestimmten Zeiten)?
Sauen versuchen wie alle anderen Wildtiere schlicht und einfach dem Jagddruck- sprich Tode- zu entgehen und passen ihren Aktivitätsrhythmus unbedingt der Bejagung an. Die von mir fast drei Jahrzehnte betreute, große Rotte war in der Umgebung ihrer Ablenkfütterung – also an unbejagter Stelle – immer tagaktiv. Leider hatte ich nicht die Zeit, mich am Tage dort länger aufzuhalten und genaue Aufzeichnungen zu machen. Das bedauere ich im Nachhinein sehr, ich hätte zu den oft bestrittenen Führungsabläufen zusätzliches empirisches Material liefern können. Negative Wahrnehmungen beeinflussen unbedingt das zeitliche und räumliche Verhalten der Sauen.
Meiden Sauen tatsächlich gezielt mondhelle Flächen? Wenn ja, gibt es Unterschiede in den Altersklassen?
Warum ist das Schwarzwild zum Nachttier geworden? Sauen wissen sehr bald, dass sie auf hellen Flächen in Gefahr sind. Dabei steigt die Vorsicht mit dem  Alter, eine der vielen Gemeinsamkeiten von Mensch und Wildsau. Wir kennen auch bei Bewegungsjagden die Bedeutung von „Dunkelbrücken“, durch die das Wild zu entkommen versucht. Jedes Wildtier kapiert schnell, dass ihm der Mensch am leichtesten im Hellen beikommt. Bei der Bejagung durch den Wolf verhält das Schwarzwild sich anders. Da ist nicht das Licht, sondern sind gut passierbare Fluchtwege wichtig.
Wie werden Gefahren innerhalb einer Rotte kommuniziert? Kann die Leitbache ihren Frischlingen salopp gesagt mitteilen: „Auf dieses Feld geht ihr nicht oder diesen Wechsel nehmt ihr nicht!“?
Wie das genau funktioniert, vermag ich nicht zu sagen; sicher spielt die phonetische Verständigung in großer Vielfalt eine wichtige Rolle. Heinz Meynhardt (2013) hat darüber mit genauen Aufzeichnungen berichtet. „Meine“ Rotte lebte gut 800 Meter vom nächsten Feld. In Feldrandnähe unterhielt ich  eine Kirrung. Stellte ich dort eine größere Aktivität fest, war ich in der nächsten Nacht zur Stelle und schoss einen Frischling; einmal einen, den ich wenige Stunden zuvor freihändig markiert hatte. Für den Rest der Vegetationszeit war in dieser Richtung Ruhe. Die große Rotte ist nie ins Feld gezogen. Meynhardt – zeitweise Rottenführer – hat geschildert, dass ihm Rotten ab einer gewissen Distanz zum Feld nicht mehr folgten; sie hatten schlechte Erfahrungen dauerhaft gespeichert.
Wer übernimmt in Überläuferrotten die Leitung? Oder sind diese kopfloser?
Das kann ich nicht beantworten, ich habe nur wenige solcher Rotten erlebt. Grundsätzlich  rangiert Alter vor Stärke, bei gleichaltrigen Überläuferrotten, meist männlich, dominiert sicher das körperstärkste Stück. Ob man das als Leitung bezeichnen kann, vermag ich nicht zu sagen. In dem mir bekannten Vorkommen zogen die abgestoßenen Überläuferkeiler meist einzeln oder zu zweit weit umher. Der alte Keiler lebt alleine oder mit einem jüngeren Adjutanten. Der ist Gesellschafter, eher noch „Vorkoster“ beim Auswechseln. Der Abschuss männlicher Stücke ist allenthalben zu hoch, man bekommt die jungen sie so leicht. Bei synchronisierter Rausche sind nicht genügend Keiler gleichzeitig präsent; auch das führt zum Rauschen und Frischen rund ums Jahr.  Das Hauptproblem sind die vielen führungslosen Frischlings- und Überläuferrotten, deren Paarungsbereitschaft nur von der persönlichen Körperentwicklung abhängig ist und nicht zentral gesteuert wird. Das führt zur weiteren Verjüngung, Dynamisierung und Vergrößerung der Bestände und zu großen Schäden. Der propagierte Winterabschuss von Sauen ohne weiteres Ansehen, gar das bevorzugte Erlegen von sogenannten Erfahrungsträgern, hat mit fachkompetenter Bejagung nicht das Geringste zu tun und wird die Situation mit Sicherheit erheblich verschlimmern. Nachhaltige Erfolge solchen Vorgehens sind  bisher nirgendwo nachgewiesen.

 

 


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