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Verhext

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Es gibt Jagdjahre, da läuft nichts richtig zusammen, und Patzer reiht sich an Patzer. Der Waidmann ist geneigt, abergläubisch zu werden.

Heiko Hornung

Foto: Peter Schmitt

Ich war mir bei dem Schuss sicher. Vielleicht ein bisschen zu sicher. Mein Vater sagte immer, dass der schwierigste Hase der sei, den man schon im Rucksack habe. In diesem Fall war es ein schwaches Schmalreh, schlecht verfärbt, das unruhig am Waldsaum auf und ab trippelte, und das ich bei bestem Licht am 1. Mai auf etwas über 150 m beschossen hatte. Der Repetierer war gut gebettet. Ich war auch nicht sonderlich von Jagdfieber gepeinigt worden und zog ruhig ab. Auf den Schuss war das Stück in den Pohler Wald in einem kleinen Halbkreis abgesprungen.

Bis ich auf dem Anschuss stand, war ich der vollen Überzeugung, es dort einfach nur einzusammeln. Aus dem Einsammeln wurde eine tagfüllende Aktion. Zunächst legte ich meine erfahrene Brandl-Hündin an den Riemen. Die Gute bemühte sich eifrig und folgte auch der Fährte, zeigte aber irgendwie keinen rechten Zug. Nach einigen Hundert Metern begann sie, Plätzstellen und Wechsel zu kontrollieren. Auch weitere Versuche brachten weder Pirschzeichen noch ein Schmalreh.

Ich schob es zunächst darauf, dass die Hündin vielleicht einen schlechten Tag habe, und verständigte einen Schweißhundführer. Doch der Rote bestätigte nur das, was die Schwarze am Morgen schon gezeigt hatte. Gefehlt! Ich wollte das nicht glauben, suchte wenige Tage später einen Schießstand auf, aber die Büchse schoss. Vorerst verbannte ich sie trotzdem in den Waffenschrank, wofür die Büchse ja eigentlich nichts konnte, und warf meine präzise schießende Drückjagdbüchse über die Schulter.

Fast 14 Tage lang hatte ich es seit meines Fehlens nicht mehr ins Revier geschafft. Irgendwas hatte es immer verhindert: ein Anruf, ein Nachbar, ein nicht zu verschiebender Termin …
Mitte Mai war es auf einmal kühl geworden. Der Wind stand auf Nord-Ost, und ich wägte abends ab, wohin ich mich bewegen sollte. Mir schienen die Nussbäume eine gute Wahl, die gerade 300 m über dem Wald liegen, an dem ich so unerklärlich gepatzt hatte. Ich war zeitig dran, kam gedeckt zwischen Frucht und Waldrand an die kleine überdachte Leiter, legte den Hund ab und baumte auf.
In der kleinen Waldbucht, in der drei Nussbäume stehen und die wir als Wildäsungsfläche angelegt haben, ist die Frühjahrsäsung prima aufgelaufen. Ich dachte an unsere Blühstreifen und Wildäcker, an das Engagement der Kollegen, den Niederwildbesatz zu heben; blickte hinüber auf die zwölf weißen Spargel mit den riesigen Rotorblättern; den roten Fichtenwald davor, den die Borkenkäfer gefressen haben, und die großen, eintönig grünen Getreideschläge. All das stille Zeugen einer Zeit, in der Klimawandel und Artenschwund alle anderen politischen Themen überlagern.

Während ich so sinnierte, zog es den Rauchfaden meiner Pfeife, die ich mir genüsslich angesteckt habe, Richtung Einstand. Das mag ich nicht. Der unstete Jagdverderber tanzt in der kleinen Bucht im Kreis. Gedanklich suchte ich schon einen alternativen Ansitzplatz, als gegenüber plötzlich ein Stück Rehwild austrat. Das Glas zeigte ein komplett rotes Schmalreh. Ihm folgte ein zweites, etwas schwächeres, das schlecht verfärbt hatte. War es das Gefehlte?
Sie waren gut 170 m weg. An einen Schuss nicht zu denken. Das schwächere Stück begann auf einmal, das stärkere zu vertreiben. Das Spektiv bestätigte noch einmal die Schmalrehe. Aber in großem Bogen umschlug mich die Jagd, bis beide über die Bundesstraße beim Nachbarn eintauchten. „Schade, das graue Schmalreh hätte gepasst“, dachte ich. Ein Hase bummelte die nächste Stunde vor mir durch die Äsungsfläche. Immer wieder frischte der Nordost auf, rauschte im Buchenwald, bis das Licht zu schwinden begann. Plötzlich stand auf kaum mehr als 50 Schritt ein Reh in der Szene. Es war das Graue von vorhin, das sah ich gleich. Vorsichtig schob ich die Büchse über die Schießleiste und klemmte mich diesmal mit pochendem Herzen hinter das Absehen. „Heute muss alles glatt gehen“, sagte ich mir. Als der Puls ruhiger wurde und das feine Fadenkreuz schön hinter dem Blatt stand, erhöhte ich den Druck auf das Abzugszüngel – „Klack!“

Was war das? Kein Schuss war brüllend hinausgefahren, sondern nur ein trockenes „Klack“ zu vernehmen. Das gabs doch nicht: Ein Zündversager?! Das Schmalreh hatte aufgeworfen und sicherte. Ich wartete, entspannte, öffnete und schloss die Kammer wieder, drückte noch mal auf die Abzugsgruppe. Zweimal noch waren leichte Geräusche zu vernehmen. Das Stück trat inzwischen unruhig hin und her. Flott war ich wieder im Ziel, spannte, und im Schuss sprang das Stück ohne große Eile einfach ab, als wäre nichts gewesen.

Brandlbracken-Hündin „Daisy“ gab ihrem Herrn wieder den Glauben zurück.
Foto: Tobias Thimm

Der erste Gedanke: „Oh Gott, Du hast wieder gefehlt!“ Von unten äugte der Hund herauf, miefte kurz. Die Zigarettenlänge Wartezeit war lange genug, damit die blaue Stunde hereinbrechen konnte. In dem Licht, in dem der Schweiß aufhört zu leuchten, fand ich in dem kniehohen Bewuchs keinen Anschuss und fluchte schon etwas. „Daisy“ musste es richten. Ich legte ihr Halsung und Riemen an, und mit „Such verwundt!“ begann sie, die Wiese vor mir zu untersuchen, folgte aber deutlich dem Hasen, der die ganze Zeit noch vor Ort war.

„Himmel Herrgott!“ Erst der Fehlschuss, dann der Zündversager, dann das scheinbar gesund abspringende Reh, dann kein rechter Anschuss und jetzt noch der Hund, der nicht das tat, was er sollte. Oder vielleicht gar nicht konnte? Ich fragte mich, wo von mir unbemerkt ein altes Weib, die schwarze Katze oder eine Hexe wohl meinen Weg gekreuzt hatte. Das war doch nicht normal.

Aber es kam noch besser. Ich trug den Hund ab, brachte ihn wieder in die vermeintliche Anschussnähe, um ihn erneut mit „Such verwundt“ anzusetzen. Diesmal ging es in die andere Richtung. „Daisy“ markierte deutlich und folgte den 60 m Fluchtfährte bis zum Wald, tauchte auch meines Erachtens an der richtigen Stelle ein und zog in das bereits finstere Fichtenholz. Doch hatte ich grad noch die Hoffnung, dass nach wenigen Metern das Stück wohl liegen könnte, zog der Hund ­immer tiefer in den Pohler Wald hinein, und die Hoffnung fiel wieder im Zweifel zusammen. Denn ich hatte im Schein der kleinen Taschenlampe weder Schweiß noch irgendetwas Hoffnungsfrohes entdeckt. Dann ging auch noch die Taschenlampe aus – wie immer, wenn man sie braucht.

Wir waren vielleicht 200 m ins Dunkel vorgedrungen. Ich hörte in meinem Kopf die Vernunft schon „morgen früh“ schreien, da wurde der Riemen schlaff. „Daisy“ hatte gefunden. Glücklich trug ich im Rucksack das Stück, das einen sauberen Schuss hinterm Blatt hatte, zum Auto. Dort tätschelte ich den Kopf meiner klugen Gefährtin und murmelte lächelnd: „Hexen … so ein Blödsinn.“

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