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Das zweite Gesicht

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110 Jahre Wild und Hund:
Dass Hunde ganz besondere Empfindungen und manchmal sogar „vorausschauende Denkweisen“ entwickeln, wird wohl jeder Jäger, der selbst Hundeführer ist, bestätigen können. Professor Dr. Friedrich zur Bonsen machte sich 1925 darüber auch Gedanken.

 

Deutsch-Kurzhaarrüde „Argo v. Somborn“ St. R. 20 W, 1478, gew. 5.5.21 („Tiro v. d. goldenen Mark“ 339 R – „Heydi-Hayno“ 41 J, 1488). II. Preis Derby Pommern, II. Preis Derby Mitte, II. Preis Jugendsuche des Deutschen Jagdklubs Berlin, II. Preis Verbandsgebrauchsprüfung Sponholz 1922, I. Preis D.-Kl. Aachen, I. Preis „vorzüglich“ Kurzhaarschau Köln. Z.: H. Bothe-Stargard, früherer Bes.: Staatsförster Stahl-Karolinenhorst, jetziger Bes.: Ferd. Beißel-Aachen. („Argo“ ist Vater des auf der Verbandsgebrauchssuche Wandlitz am 4. und 5. September mit Ia-Preis prämierten „Götz v. d. Wölln“ St. K. 797 Y). Phot. Dauer-München)

Von Professor Dr. Friedrich zur Bonsen

Unter dem zweiten Gesicht (Vorgesicht, Vorgeschichte) versteht man bekanntlich die nachweisliche Fähigkeit mancher Menschen, Tatsachen oder Vorkommnisse der nahen oder fernen Zukunft (meist Tod oder Brand) fern- und vorschauend, wie ein Stück Wirklichkeit, mit dem geistigen Auge im voraus wahrzunehmen. Ist die merkwürdige, wohl nie ganz aufzuhellende Erscheinung, wie vielfach behauptet wird, nun auch beim Hunde, natürlich in entsprechender Beschränkung, nachzuweisen? Das ist die Frage. Soweit meine Kenntnis der einschlägigen Literatur reicht, ist in keiner kynologischen oder Jagdzeitschrift das Thema je behandelt worden. Und doch ist dasselbe zweifellos geeignet, in den Kreisen der Hundeliebhaber ein besonderes Interesse zu erwecken – wenn nur nicht, um das gleich zu sagen, unsere positive Kenntnis der Sache, die Empirie der Beobachtung naturgemäß eine gar so mangelhafte wäre!

Das zweite Gesicht

Besonders der edle Jagdhund scheint mir aber das beste Objekt für eine Beobachtung in der Richtung unseres Themas zu sein, ohne daß nun gerade von förmlicher Tierpsychologie dabei die Rede zu sein braucht; jedenfalls die Aufmerksamkeit fachmännischer Kreise auf das Problem hinzulenken, ist der Zweck dieses Aufsatzes. Nur anregen möchte er, beileibe nicht belehren, und der geneigte Leser wolle daher auch nicht mehr erwarten, als möglich ist.

Seit Jahren mit Forschungen beschäftigt, die in meiner Schrift „Das zweite Gesicht“ (10.-12. Tausend, Köln 1921) ihren Niederschlag gefunden haben, habe ich schon vor geraumer Zeit in „Wild und Hund“ mal die Bitte ausgesprochen, entsprechende Beobachtungen aus der Hundewelt mir zu Kenntnis zu bringen. Eine Anzahl von Zuschriften, unter denen die Mitteilungen von Frl. v. B. (Ostpreußen) besonders dankenswert waren, ist mir daraufhin zugegangen. Die Berichte über Erscheinungen des zweiten Gesichtes am Hunde waren naturgemäß freilich mehr oder minder stark subjektiv, und Selbsttäuschung in der Beobachtung mag dem einzelnen Falle zugrunde liegen; alle waren aus der Erinnerung, ohne Zeugenkontrolle und nähere Beglaubigung niedergeschrieben und streng wissenschaftlich daher nicht verwendbar. Aber alle liefen auf ein und dieselbe Feststellung hinaus, die auch dem Volksglauben zugrunde liegt: der Hund, nächst ihm das Pferd, hat die Fähigkeit, Gefahr oder Unglück, namentlich jedoch Todesfall gleichsam vorauszuspüren. Daß dieses Vermögen nicht bei allen Hunden, auch nicht bei allen derselben Rasse hervortritt, darauf kommt es im Prinzip ebensowenig an, als bei dem zweiten Gesicht des Menschen: genug, wenn es auftritt.

Der Glaube an das tierische Vorempfinden ist uralt

In der Literatur ist von tierischem Sichtvermögen oft die Rede. Schon Horst in der „Deuteroskopie“ bringt Belege bei. Auf die von Perty in seinem „Seelenleben der Tiere“ erörterten Fälle, in denen eine Art von zweitem Gesicht bei Tieren, auch Hunden, angenommen werden müßte, soll um deswillen kein Gewicht gelegt werden, weil er gar zu leichtgläubig verfährt und der Gefahr erlegen ist, sich in der Wüste der Kritiklosigkeit zu verlieren. Beachtung verdient aber, daß auch Goethe in seinen Gesprächen mit Eckermann den Glauben an das tierische Vorempfinden ernsthaft bespricht.

Der Glaube an dasselbe ist jedenfalls uralt. Er stützt sich zweifelsohne auf Beobachtungen: zunächst am Pferd, das ja bei allen Naturvölkern die erste Rolle spielt. Schon der Vater Homer spricht von der Sehergabe – wenn der Ausdruck gestattet ist – der Rosse, und aus dem Wiehern derselben deuteten bekanntlich unsere germanischen Vorfahren den Willen der Unsterblichen. Wenn auch nicht, meint Kuhlenbeck, allen Storchgabeln eines Uelian (Sophist aus Praeneste, 3. Jahrh. n. Chr.) Glauben beizumessen ist, so fehlt es doch nicht an gut verbürgten Vorgängen seltsamster Art, die ein für unsere Anschauung unbegreifliches tierisches Wahrnehmungsvermögen überhaupt erweisen. So berichtet etwa Thukydides, der große griechische Geschichtsschreiber, in seiner Geschichte des peloponnesischen Krieges als Augenzeuge, daß beim Ausbruch der Pest in Attika (429 v. Chr.) die meisten Vogelarten, die sich sonst von Kadavern nähren, das Land schon verlassen zu haben schienen; auch Livius weiß aus einer Pestzeit in Italien, 124 v. Chr., ähnliches zu melden. Merkwürdig ist auch, daß Raben wohl aus meilenweiter Ferne Leichenstätten zufliegen, obgleich weder ihr Geruchsvermögen noch auch ihr bekanntlich sehr scharfer gewöhnlicher Gesichtssinn deren Vorhandensein den Raubvögeln anzeigt. Auch bemächtigt sich vor Sonnenfinsternissen, denen doch keinerlei Anzeichen in der Natur vorhergeht, vieler Tiere bekanntermaßen eine seltsame Unruhe. Ob dagegen dem alten Schifferglauben, daß die Ratten ein dem Untergange zusteuerndes oder nahes Schiff verlassen, etwas Tatsächliches zugrunde liegt, möchte billigerweise zu bezweifeln sein.

Es muss nicht unmöglich sein wenn es unerklärlich ist

Aber höher, als all das steht doch das angebliche zweite Gesicht beim Hund (und Pferd); denn es beruht auf keinerlei physiologischem Vorgang, sondern weist auf Bilder noch nicht wirklicher Dinge hin, die im Hirn des Tieres sich entwickeln müssen. Das ist doch nicht denkbar! höre ich manchen der verehrten Leser ausrufen. Ich selbst will mich eines abgeschlossenen Urteils enthalten; es braucht aber etwas noch nicht darum unmöglich zu sein, weil es unerklärlich ist. Das wäre unwissenschaftliches Vorurteil. Viele ernsthafte Männer habe ich gesprochen, die ernsthaft daran glauben; darüber zu spotten, ist jedenfalls nicht am Platze. Siehst du dort den Hund im Abenddämmern an der Straße sitzen, wie er unverwandt nach einem Hause starrt und stoßweise jault? Das bedeutet eine Leiche, sagen ängstlich und scheu die Dorfbewohner – nicht lange, da kehrt der Tod wirklich ebendort in dem Hause ein. Eine solche öftere „Spökenkiekerei“ eines Hundes war z. B. in Fredeburg im Sauerlande seinerzeit allbekannt.

Wenn die Hunde heulen

Der verstorbene Kieler Gelehrte Prof. G. Körting hat, um das hier anzuführen, das Motiv in seinem Roman „Adolf Turold“ sehr wirkungsvoll verwendet. Ein Geistlicher trägt das Sanktissimum zu einem Sterbenden vorüber. Plötzlich fängt des Oberförsters Hund, der bis dahin ruhig unter dem Tische gelegen hatte, unheimlich zu heulen an. „Der Oberförster“, fährt hier Körting fort, „beruhigte das aufgeregte Tier und sagte: „Er wittert den Tod, der in der Nähe ist, und deshalb heult er. Hierzulande nämlich (die Szene spielt in Furth in Bayern) glaubt man,“ fügte er um der ortsfremden Gäste willen hinzu, „daß die Hunde heulen, wenn jemand im Hause oder in der Nachbarschaft sterben soll – und ich glaube es fast selbst.“

„Jenes eigentümliche Heulen der Hunde,“ meint Kuhlenbeck, „wobei dieselben stets nach einer und derselben Richtung starren, ohne daß sich eine sichtbare Ursache dieses Benehmens nachweisen ließe, wird vom Volke allgemein auf eine Vision der Tiere zurückgeführt.“ Wie es sich auch damit verhalten möge: ich erinnere mich, in meiner Jugend mehrfach von glaubwürdigen, mir verwandten Personen gehört zu haben, daß die Jagdhunde meines Großvaters einstmals längere Zeit hindurch alltäglich, in die Richtung des unmittelbar benachbarten Pastorats sehend, ein jämmerliches Geheul erhoben, welches sie nicht mehr wiederholten, sobald nach einiger Zeit der dermalige Pastor gestorben war.“ Und ich selbst weiß mich eines ähnlichen, ganz merkwürdigen Falles zu erinnern, wo ein angeketteter Hund, auf ein benachbartes Haus stierend, lange und ununterbrochen ein ängstliches Geheul ausstieß; nach wenigen Tagen ging das fragliche Haus in Flammen auf.

Was nun beim Menschen die Ahnung

Es ist merkwürdig, wie weitverbreitet der Glaube an diese Gabe der Hunde ist. Schon in den Ossiansliedern heulen die treuen Tiere, wenn sie die Geister ihrer erschlagenen Herren erblicken. Jakob Grimm, der große Germanist, und Annette von Droste, die große Dichterin, die selber mit der Gabe oder vielmehr Plage des zweiten Gesichts behaftet war, bezeugen die Volksüberzeugung aus Literatur und Leben. „Der Hund“, sagt Schlenter, „ahnt häufig die Nähe seines Herrn noch ehe der ausgezeichnete Geruchssinn dieses Tieres sie ihm ankündigt; ebenso das Pferd.“

Mit der Ahnung, die Schlenter hier herbeizieht, stehen wir auf dem Boden, aus dem wohl das zweite Gesicht des Menschen emporsteigt; es ist, wie jetzt feststehen dürfte, eine starke, mit plötzlicher Gewalt auftretene Ahnung, die explosiv mit dem Bilde einer gewissen Körperlichkeit sich umkleidet. Aber wie – das weiß man nicht. Was nun beim Menschen die Ahnung, das wirkt beim Tier der Instinkt. „In ihren merkwürdigen Instinkthandlungen“, sagt du Prel, „werden die Tiere durch Motive bestimmt, welche in der Zukunft liegen und wovon sie kein Bewußtsein haben.“ Wie aber diese Kraft, der Instinkt, dem Hunde die Ferne, die zeitliche oder örtliche, öffnen kann, so daß er z. B. ein Leichenbegängnis, einen Brand vorschaut und beheult, ja, wer wollte das wissen! Man hat wohl an ein dem animalischen Organismus anhaftendes Fluidum gedacht, dessen Kraft auch dem Hunde den Blick öffne: einer solchen Annahme können wir nicht folgen.

Erstaunliches Witterungsvermögen

Eins muß wiederholt werden: daß wir etwas nicht begreifen – die Tatsächlichkeit des zweiten Gesichtes beim Hunde setzen wir voraus – ist kein Beweis dafür, daß es nicht exixtiert; Rätsel gibt es auch sonst in der Natur.

Das Witterungsvermögen des Hundes ist bekanntlich schier erstaunlich; immer neue Beobachtungen werden auch über seinen Fernsinn, wenn man so sagen darf, gemacht. Daß er z. B. ein Erdbeben viel früher wahrnimmt und anzeigt, als Menschen es können, sind unbestrittene Tatsache; die von uns noch nicht wahrnehmbaren leichteren Vorzuckungen oder Schallwellen von anrückenden Beben werden vom Hunde durch außergewöhnliche Zeichen von Angst und Schrecken vorverkündet. Ja, im „Hund“ (Jahrg. 1906) hat sogar ein Einsender behauptet, daß sein Airedaleterrier zeitlich genau mit dem seismographisch angezeigten großen Fernbeben jenes Jahres in Italien und sogar in San Franzisko (!) übereinstimmend eine ganz hochgradige Unruhe bekundet habe.

Aber sei dem, wie ihm wolle: die Wittrung der Hunde ist jedenfalls außerordentlich. Warum sollte nun nicht auch in anderer Beziehung – die eben hier in Frage komme – die Fähigkeit, der Instinkt des Hundes, oder wie wir es sonst nennen wollen, besonders entwickelt sein können? Jahrhunderte alter und immer wieder hervortretender Volksglaube wie nicht minder die gar nicht seltenen Bekundungen ernsthafter Zeugen können doch unmöglich ohne Anhalt sein, und darum sind sie es auch nicht. Wie sagt doch Kant?

„Man muß nicht alles glauben, was die Leute sagen – man muß aber auch nicht glauben, daß sie alles ohne Grund sagen!“

 


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