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Wenn der Luchs am Bahnhof steht

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Wer einem Pinselohr in freier Wildbahn begegnet, dem stockt der Atem, so faszinierend ist sein Anblick. Die Versuche, den Luchs im Harz wieder einzubürgern, sind zwar ehrenvoll, aber das „Wie“
liefert Anlässe für Diskussionen und Gerüchte.

 

Ein Mitarbeiter der Nationalpar-Verwaltung zieht einen betäubten Luchs aus der Falle.

Schon mehrfach in meinem Leben hatte ich das Glück, Luchse in freier Wildbahn zu erleben. Meine erste Begegnung mit ihm hatte ich 1957 im Elbesandsteingebiet zwischen Hellendorf und Cunnersdorf. Wir trafen auf sehr kurze Distanz aufeinander: Erschrecken auf beiden Seiten, und wie ein Gespenst war der Luchs, ein mehrfach bestätigter Gast aus der damaligen Tschechoslowakei, verschwunden.

Einige Jahre verlebten meine Frau und ich den Urlaub in der Niederen Tatra (Raum Prievidza) bei Freunden. Auf der Morgenpirsch überraschten wir in einem Grund einen Luchs an einem frischen Ricken-Riss. Mein Freund wurde mit der Waffe nicht fertig, und ich war so verblüfft, dass der Luchs lange weg war, ehe ich reagierte. Zu diesem Zeitpunkt gab es für die Erlegung eines Luchses in diesem Raum 800 Kronen staatliche Abschussprämie. Fünf Tage saß ich hinter einem improvisierten Schirm, um den Luchs noch einmal zu erleben, und wenn möglich zu fotografieren. Doch Pinselohr kam nicht mehr zurück, und nur die Wildkatze und der Fuchs labten sich an dem Riss, bevor ihn am fünften Tag die Sauen entsorgten. Nur einmal noch sah ich im darauf folgenden Jahr einen Luchs im gleichen Gebiet auf eine Distanz von schätzungsweise 400 Metern auf einer Klippe sitzen. Eine Bewegung von mir, und weg war er, trotz der weiten Entfernung.

1997 Mehrheit gegen Wiedereinbürgerung

Mit diesem „Luchsmuster“ im Kopf, verfolgte ich etwas skeptisch die niedersächsischen Bemühungen für eine Wiedereinbürgerung des Luchses im Harz. Auf dem Luchs-Symposium 1997 in Goslar sprach sich noch die Mehrheit der Wissenschaftler und Experten gegen die Eignung des Harzes als neuen Großlebensraum für Luchse aus, aber 1999 fiel dann in Hannover die politische Entscheidung: Luchse mussten her.

Aus welchem jagdpolitischen Kalkül die Landesjägerschaft Niedersachsen sich plötzlich, entgegen früheren Aussagen, ideell und auch finanziell an der Aktion beteiligte, oder ob sie nur diszipliniert wurde, sei dahin gestellt. LJN-Präsident Wilhelm Holsten ließ in einem Interview für die Landesjägerschaft die Option offen, gegebenenfalls, wenn das Projekt in der vorgesehenen Form ,,misslingt“, wieder auszusteigen.

Die Nationalparkverwaltung Harz erhielt wunschgemäß die Verantwortung für das Projekt, obwohl die 15 000 Hektar Parkfläche nur für einige wenige Luchse als Lebensraum ausreicht. Um hier etwas nachzubessern, wurde nicht einmal die Gelegenheit einer Koordinierung mit dem angrenzenden Nationalpark Hochharz genutzt. Spärlich ist die Beteiligung der benachbarten Bundesländer Sachsen-Anhalt und Thüringen, die beide zusammen über den größeren Anteil des 250 000 Hektar messenden Harz-Gebietes verfügen. „Die haben uns nicht gefragt“, heißt es aus den zuständigen Ministerien. Das Gleiche trifft für die entsprechenden Landesjagdverbände zu. Im Nachhinein bemüht man sich jetzt um eine Mitwirkung der angrenzenden Forstämter beider Länder, damit die Luchs-Ausbreitung mit Sichtbeobachtungen, Rissmeldungen und synchronisierten Abspüraktionen bei Schnee einigermaßen erfasst werden kann.

In den Jahren 2000/2001 wurden vier Kuder und acht Luchsinnen nach vorherigem Aufenthalt in Separierungs- und Auswilderungsgehegen ausgesetzt. Auf eine Besenderung wurde wegen einer befürchteten „Verletzungsgefahr“ verzichtet. Alle für die Auswilderung bestimmten Luchse bekamen zu ihrer späteren Identfikation einen Mikrochip.

Alle Tiere stammen aus Tierparks und zoologischen Gärten. Sie machen es den Verantwortlichen leicht, da sie sich unter großem Medieninteresse oft auf ungewöhnliche Weise selbst in Szene setzen. Die sicher aussichts- und erkenntnisreichere Verwendung von Wildfängen wurde aus „Kosten- und Stressgründen für die Tiere“ verworfen.

Im Januar 2001 zeigte sich ein Luchs auf dem Bahnhof in Wernigerode. Er hielt sich mehrere Stunden dort auf, bis er, nachdem er betäubt wurde, ein Zwangsquartier im Heimattiergarten Wernigerode bezog. Dieser Luchs gehörte aber nicht zu den „Ur-Luchsen“, die einst von der Parkverwaltung ausgesetzt wurden, denn er hatte keinen Mikrochip.

Eine besondere Affinität haben einige Pinselohren zu der alten Bergstadt Sankt Andreasberg. Dort übte der Schaf- und Ziegenstall eines Anwesens am Stadtrand eine magische Anziehungskraft auf drei verschiedene Luchse aus. Der erste erschien im Januar, hielt sich zwei Tage in der Nähe auf und wurde dann bei einem Nachbarn mit einer Kastenfalle gefangen.

Der zweite Luchs ließ sich trotz Luftgewehr-Einsatz, Plastikgeschossen und Sylvesterböllern nicht von dem Schafstall vertreiben und tauchte innerhalb von nur zwei Tagen gleich fünfmal vor der Stalltür auf. Sechs Tage später ging der Unruhestifter in die Kastenfalle, die von der „Task Force“ aufgestellt wurde. Die Task Force wurde übrigens von der Parkverwaltung ins Leben gerufen. Sie rückt bei Luchs-Eskapaden aus – sechs Mitarbeiter haben die Zulassung zur Wildtier-Betäubung. Nach der Ruhigstellung des Luchses mittels Blasrohr fand man zwar einen Chip, der aber enthielt unbekannte Daten. Nach Aussagen der Parkverwaltung gehörte dieser Unruhestifter ebenfalls nicht zu den „Ur-Luchsen“, die in diesem Gebiet einst ausgewildert worden sind. Ein dritter Luchs saß in Sankt Andreasberg wenige Tage später vor einer Hundehütte und ließ sich nicht verscheuchen.

Demnach gibt es jetzt also drei Luchs-Sorten im Harz: Die eine ist mit Nationalparkchip ausgestatt, die andere trägt einen unbekannten Chip und die dritte Sorte ist chiplos.

Illegale Auswilderung

Die Nationalparkverwaltung erstattete Anzeige gegen Unbekannt wegen illegaler Auswilderung. Doch auf die Frage, wer im Harz ein Interesse an der illegalen Auswilderung hat, gibt es bis heute keine Antwort. Der Sprecher der Nationalparkverwaltung, Friedhart Knolle, bezeichnete die Auswilderungen als „Riesensauerei“. Das ganze Projekt werde gefährdet.

Hinter vorgehaltener Hand wird spekuliert, man habe zeigen wollen, dass die mit Chips versehenen „Ur-Luchse“ aus dem Zoo sich aus eigener Kraft fortpflanzen können. Die Pinselohren, die keinen beziehungsweise einen falschen Chip tragen, sollten jetzt ein falsches Reproduktionsvermögen vortäuschen. Durch den Fang einiger nicht markierter halbzahmer Luchse, sei der Schwindel mit den illegalen Auswilderungen aufgeflogen. Der erste Enthusiasmus legte sich, als im September vergangenen Jahres in Scharzfeld in einem Gatter drei Mutterschafe und ein Lamm von einem einzigen Luchs gerissen wurden. Völlig untypisch, gibt sich der Luchs doch meist mit einem Riss erstmal zufrieden. Aber vier Schafe auf einen Schlag? Der Schaf-Besitzer wurde zwar entschädigt, aber der Bevölkerung dämmerte es inzwischen, dass die Luchsauswilderung nicht nur gute, sondern auch schlechte Seiten haben kann.

Im Jahresbericht 2001 der Nationalparkverwaltung Harz wird von 167 als glaubwürdig geprüften Luchsmeldungen geschrieben, darunter 126 Sichtbeobachtungen, 28 Fährtenfunde, zehn Riss- und zwei Losungsfunde.

Forstbedienstete und Jäger erzählten von ungewöhnlichen Begegnungen – Sie trafen bei der Beschickung von Fütterungen auf Luchse, sie sahen sie an Rissen, die sie ohne Menschenscheu verteidigten, und sie entdeckten sie auf Kanzeln. Außerdem wurde beobachtet, wie sich die Luchse Spaziergängern näherten, wobei sie ein offensichtliches Interesse für an der Leine geführte Hunde zeigten. Ob es nun eine spielerische Annäherung war, oder die Hunde vielleicht in ihr Beutespektrum passten, war nicht ersichtlich. Frisch erlegtes Wild wurde ebenfalls vom Luchs angeschnitten, und als ein Jäger das Stück versorgte, blieb Pinselohr auf 15 bis 20 Meter Distanz sitzen und wartete.

Mit der Auswilderung weiterer Luchsen will man wohl erst einmal warten. Außerdem ist Wahlzeit, und der Luchs soll nicht zur Polarisierung der Wählerschaft im Harz beitragen. Das Bundesamt für Naturschutz verweigerte inzwischen die Einfuhr-Genehmigung von zwei weiteren Luchsen aus Estland, die von der Nationalparkverwaltung Harz beantragt wurde.

Sicher ist es notwendig, weitere Erfahrungen darüber zu sammeln, ob die Tiere, die durch Menschenhand verursachten Verhaltensstörungen überwinden und abbauen können.

Bis dahin kann man auch weiterhin mit T-Shirts, Kappen und dem Maskottchen „Luchsy“ für Sympathie werben und die Nationalparkbesucher zum Schaugehege an die Rabenklippe führen, damit das hehre Ziel, den „Luchs als Botschafter für ein neues Naturverständnis“ zu schaffen, nicht „in die Hose“ geht. Dieses faszinierende, scheue und zivilisationsflüchtende Wildtier hätte das nicht verdient.

 

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