Lebensraumkorridore:
Ein Netz von 600 000 Straßenkilometern durchzieht Deutschland, und es soll noch größer werden. Täglich werden in der Bundesrepublik 130 Hektar Land für Straßen, Siedlungen und Gewerbegebiete verbraucht. Diese Lebensraumzerschneidung lässt Wildlebensräume immer kleiner werden. Erstmals haben das Bundesamt für Naturschutz und der Deutsche Jagdschutzverband sich in einem gemeinsamen Symposium diesem Problem angenommen und nach Lösungswegen gesucht.
Als „Heinz der Hirsch“ zu einem stattlichen Junghirsch herangewachsen war, nahm die Aggressivität der älteren Hirsche gegen ihn zu. Heinz will auswandern und sich einen neuen Wald suchen. Doch leichter gesagt als getan. Bereits nach dem verlassen seines „Stamm-Waldes“ verjagten ihn die Bauern von den Feldern. Auf seiner Flucht wurde er trotz seiner IIa-Klasse beschossen, und nach der gefährlichen Überwindung einer vielbefahrenen Bundesstraße und einer Bahntrasse endete der so froh begonnene Wanderversuch am Wildschutz-Zaun einer Autobahn. „Heinz der Hirsch“ ist der Held in einem Comic-Heftchen, mit dem das niederländische Ministerium für Landwirtschaft, Naturschutz und Jagd auf die Probleme des wandernden Rotwildes und die Notwendigkeit der Lebensraumvernetzung hinweist, erklärte Hans Kampf, Politik-Berater am niederländischen Landwirtschaftsministerium, in seinem Vortrag über das Projekt „Ontssnippering“, einem nationalen Entschneidungsprogramm. Im Gegensatz zu Deutschland wird in Holland bereits seit 20 Jahren an einem landesweiten Biotopverbund gearbeitet.
Die Folgen von Lebensraumzerschneidungen sind gravierender als man es zunächst annehmen mag. Dr. Heiner Reck von der Universität Kiel stellte in zahlreichen Untersuchungen fest, dass nicht nur die großen Säuger von Lebensraumzerschneidungen betroffen sind, sondern auch zahllose kleinere Arten und wirbellose Tiere. Der Hase braucht beispielsweise acht bis zehn Quadratkilometer Fläche, um mit seiner Sippe den Lebensraum optimal auszufüllen. Reck ermittelte, dass in isolierten Lebensräumen jährlich 0,5 bis drei Prozent der vorhandenen Tierarten aussterben. Im Gegenzug wisse man nicht genau, wie lange es dauert, bis eine Tierart sich neue Lebensräume erschließen könne.
Neidvolle Blicke ins „Naturschutzparadies“ Holland
Die Bedeutung des Rotwildes sieht der Biologe Reck dabei unterschätzt. Rotwild sei ein wichtiger Lebensraumgestalter, das durch sein Äsungsverhalten nicht nur wichtige Lebensgemeinschaften erhalte, sondern auf die Dauer wichtige Austauschprozesse auch für andere Tier- und Pflanzenarten ermöglichen könne. Dem pflichtet auch Dr. Michael Petrak, Leiter der Forschungsstelle für Jagdkunde und Wildschadensverhütung des Landes Nordrhein-Westfalen, bei.
Neidvoll blicken die deutschen Naturschützer in das „Naturschutzparadies“ Holland. Nicht nur, dass der Naturschutz bei den Nachbarn mit viel Geld ausgerüstet ist, im Jahr sind es rund 400 Millionen Euro, in Sachen Kompetenzen lässt sich im zentralistisch organisierten Holland im Naturschutz vieles schneller durchsetzen als im föderal organisierten Deutschland. Denn da ist Naturschutz zunächst einmal Ländersache, und so wurschteln die zuständigen Landesministerien in ihren Grenzen an ihrer eigenen Naturschutzphilosophie, meinen einige Symposiumsteilnehmer.
Es wundert daher nicht, dass im EU-Vergleich die meisten europäischen Staaten mit starken Zentralregierungen bereits über nationale Biotopverbundpläne oder nationale Naturschutz-Pläne verfügen, die Bundesrepublik jedoch noch nicht. So existiert in der Tschechischen Republik ein Handbuch des Umweltministeriums, das bei allen Planungen von Straßenbauvorhaben herangezogen wird, um Wildtieren Querungen zu schaffen, weiß Irena Bouwma vom niederländischen Alterra-Institut zu berichten. Zunächst wurden in einem vierjährigen Forschungsprojekt Verbreitungskarten für Rotwild, Elch, Luchs, Braunbär, Wolf und Fischotter festgelegt und vorhandene, vermutete und erwünschte Wanderkorridore erfasst. Dannach wurde geprüft, inwieweit Verkehrsinfrastrukturen durchlässig sind beziehungsweise was getan werden muss, um die Durchlässigkeit der Trassen zu erhöhen. Ähnliche Handbücher oder Pläne gibt es in der Schweiz, Österreich und den Niederlanden.
Konfliktpotentiale ausräumen
Zwar gibt es in Deutschland von der Politik eindeutige Willenserklärungen hierzu. Beispielsweise die von Deutschland unterzeichnete Fauna-Flora-Habitat-Richtlinie (FFH) auf europäischer Ebene, die ein ökologisches Netzwerk (Natura 2000) von Schutzgebieten zum Ziel hat. Oder das neue Bundesnaturschutzgesetz, das erst im vergangenen Jahr novelliert wurde und das einen Biotopverbund auf zehn Prozent der Landesfläche vorschreibt. Jedoch ist die Umsetzung beziehungsweise Durchsetzung der vereinbarten Ziele juristisch äußerst schwierig, wie Rechtsexperte Hans-Ullrich Marticke vom Verwaltungsgericht Berlin weiß.
Partner finden und mit ihnen gemeinsam nach pragmatischen Lösungen suchen, ist der Ansatz, den Dr. Friedrich Völk, Bereichsleiter Jagd bei der Österreichischen Bundesforste AG. Er erarbeitete mit Mitteln des österreichischen Verkehrsministeriums in einem Projekt zur „Kostenreduktion bei Grünbrücken durch deren rationellen Einsatz“ ein nationales Wanderkorridor-Programm. Dazu legte man zunächst Weiserarten fest. Dies sind Rot-, Schwarz-, Reh- und Gamswild sowie regional wiederkehrende Arten wie Elch, Bär, Luchs und Wolf. Berücksichtigt wurden als zu vernetzende Räume beispielsweise die Route Karpaten-Donaudelta-Alpen.
3 500 Brücken- und Tunnelbauwerke wurden auf ihre Durchlässigkeit hin untersucht. „Die Straßenbetreiber in Österreich sind, was Wildbrücken angeht, sehr kooperativ“, sagt Dr. Völk. Bereits im Vorfeld sei man bei Infrastrukturmaßnahmen bemüht, Konfliktpotentiale mit dem Naturschutz oder der Bevölkerung so weit es geht auszuräumen. So gibt es in der Alpenrepublik Streckenabschnitte von zehn Kilometern, auf denen der Autofahrer unter 23 Wildbrücken hindurchfährt. „Wir könnten natürlich, was die Planung von Siedlungen und Gewerbegebiete angeht, noch mehr tun. Die Untersuchungen zur Durchlässigkeit der vorhandenen Brücken und auch die Betrachtung der zu vernetzenden Räume könnten noch genauer sein. Doch wir sind froh, dass wir mit den ermittelten Karten einen Plan in der Hand haben, auf dessen Grundlage wir arbeiten können“, meint der Jagdchef der ÖBf. Einiges an Fehlplanungen hätte so schon verhindert werden können, so Völk. Mit der Fehlplanung von Wildbrücken hat das Bundesverkehrsministerium in Berlin weniger Probleme. Auf über 40 000 Autobahnkilometern hat Deutschland gerade mal 37 Grünbrücken und dürfte mit dieser kläglichen Zahl in Europa Schlusslicht sein.
Rotwild aus einer ein jagdlichen Ecke herausheben
Die Schuld für diese Misere sieht das Verkehrsministerium allerdings nicht bei sich. „Der Naturschutz muss uns sagen, wo Grünbrücken benötigt werden“, verteidigt Friedhelm Küster, Baudirektor im Bundesverkehrsministerium, sein Haus. Wenn konkrete Anforderungen gestellt würden, seien Wildbrücken mehr als nur Ausgleichsmaßnahmen, sie würden Teil der Projektplanung, so Küster. Die Umweltverträglichkeits-Studien (UVS), die vor einem Autobahnbau angefertigt würden, befassten sich ausschließlich mit dem Einfluss der Baumaßnahme auf die direkte Umwelt des Projekts. Welche Lebensräume großflächig zerschnitten würden, werde damit nicht erfasst, weiß auch der Baudirektor um die Schwächen der UVS.
Großräumige Vernetzung von unzerschnittenen Lebensräumen ist denn auch eine Forderung, die DJV, World Wide Fund for Nature (WWF) und Naturschutzbund (Nabu) zu der Tagung in einem gemeinsamen Thesenpapier forderten. Weiterhin sollen weitere Zerschneidungen vermieden, ein nationales Biotopverbundsystem vorangetrieben und ein nationales Entschneidungsprogramm beschlossen werden.
Für die Frage, was verbunden werden soll, hat der DJV gute Karten zur Hand. Mit den Ergebnissen der Arbeitsgemeinschaft Rotwild unter Rolf Becker sind entsprechende Grundlagen für ein oben erwähntes Entschneidungsprogramm vorhanden (siehe Karten unten). Interessant ist diesem Zusammenhang, dass alle Teilnehmer der Fachtagung in Bonn das Rotwild als wichtige Indikator-Art für die Vernetzung von großflächigen Lebenräumen anerkannt haben. Nicht nur der Beitrag des Rotwildes zur Landschaftsgestaltung, sondern auch ihr Beitrag zur Erhaltung der Biodiversität von Pflanzen, beispielweise durch das Verbringen von Pflanzensamen in der Losung und in der Decke wurde in dem Symposium gewürdigt. Eine Chance für die 140 ständig schrumpfenden Rotwildgebiete mit ihren 75 Populationen in der Republik. „Wir müssen das Rotwild aus seiner rein jagdlichen Ecke herausheben und im Naturschutz mit dem Luchs auf eine Stufe stellen“, sagte Rolf Becker am Rande der Tagung. „Nur so hat diese große Säugerart die Chance, eine Lobby zu erhalten, die es aus der Waldvernichter-Ecke heraushebt“, meint auch der DJV-Naturschutzreferent und Mitorganisator Dr. Armin Winter.
Lebensräume für den größten Säuger Deutschlands
Mehr und mehr setzt sich im Naturschutz auch die Erkenntnis durch, dass mit dem Konstrukt der rotwildfreien Gebiete auf Dauer auch im Hinblick auf ein nationales Biotopverbundsystem nicht mehr zu arbeiten ist. Während der Wildbiologe Ulrich Wotschikowsky offen die Abschaffung der Rotwildbewirtschaftungsgebiete zu Gunsten groß angelegter Mangament-Einheiten fordert (siehe WILD UND HUND 24/2002), ist Rolf Becker von der AG Rotwild zögerlicher. „Wenn ich heute mit so einer Maximalforderung auftrete, gehen bei den Länder-Ministerin und Waldbesitzern alle Türen zu und der mühsam aufgebaute Dialog in Sachen Rotwild kommt zum Erliegen“, sagt Becker. Er setzt auf Kooperation und hofft, dass mit dem Rückenwind, den das Rotwild als Weiser-Art in Sachen Biotopverbund erhält, sich die großflächigen Rotwild-Lebensräume entwickeln lassen, die der größte Säuger Deutschlands zum Überleben braucht.
Wie weit ein nationales Entschneidungsprogramm bereits gediehen ist, läßt sich nicht sagen. Bereits im Juni hatte das BfN einen Expertenworkshop zu diesem Thema. Eine BfN-Mitarbeiterin ließ denn auch in Bonn verlauten, dass entsprechende Pläne bereits in BfN-Schubläden schlummerten. Ob die Vorstellungen und die Karten der AG Rotwild noch eingebaut werden, ist noch fraglich. Der Kampf um die Themenführerschaft hat längst begonnen.
Inwieweit der momentan in Bearbeitung stehende Bundesverkehrswegeplan 2003 von den Erkenntnissen des Symposiums profitiert, mag im Bundesverkehrsministerium niemand beantworten. Verkehrspläne sehen bis 2012 eine weitere Verdichtung des Verkehrsnetzes in Deutschland um mehr als 15 Prozent vor.
Von diesen Wildbrücken über die Autobahnen gibt es in Deutschland viel zu wenige. Rund 50 Meter sollten sie mindestens breit sein. |