Die mehrjährigen Böcke werden im Testrevier erst ab der letzten Juliwoche bejagt. Genug Zeit, um ab Mai einen passenden Alten ausfindig zu machen. Hat man einen entdeckt, wächst die Spannung, ob man ihn in der Blattzeit auch bekommt.
Agnes M. Langkau
Foto: Agnes M. Langkau
Endlich eine Bewegung an der Waldkante. „Das muss er sein“, schießt es mir durch den Kopf, als ein Rehbock auf die Obstbaumwiese austritt. Ein kurzer Blick durchs Fernglas bestätigt meine Vermutung: der brave Sechser mit hellgrauer Maske und starkem Träger. Zügig und unruhig zieht er in Richtung Hasenbach. Seinen Äser hält er auf der Suche nach seiner Angebeteten immer wieder in den Wind. Das Jagdfieber schüttelt mich schon. Ich bin längst im Anschlag.
Der Bock ist mir bereits seit Mitte Mai bekannt. Ich begegnete ihm zufällig: Nach getaner Fährtenarbeit mit meiner Steirischen Rauhhaarbracke „Arthus“ fuhr ich durch das Hasenbachtal. Ein kurzer Seitenblick in das über hüfthohe Gras der Wiese links von mir ließ mich sofort in die Eisen steigen. Eine hellgraue Maske mit dunklen Lichtern und hohen, schwarzen Stangen äugte mich über die Grasspitzen direkt an. Das Alter war unverkennbar. „Ein Bilderbuchbock – der passt“, dachte ich mir und machte mich schnell aus dem Staub, um ihn nicht weiter zu beunruhigen. Dann hieß es ungeduldig Warten bis zum diesjährigen Stichtag, dem 22. Juli.
Vor dem getarnten Sitz in den Brennnesseln zieht der nervöse zweijährige Gabler vorbei.
Foto: Agnes M. Langkau
Mit großer Vorfreude machte ich mich auf den Weg ins Hasenbachtal. Ob der Auserkorene wohl seinen Einstand beibehalten hat? Die bereits begonnene Blattzeit und das schwüle Wetter spielten mir in die Karten, so meine Hoffnung. Doch die bekam schon beim Angehen der Obstbaumleiter, von der man optimal in die Wiese einsehen kann, einen Dämpfer. Nordost-Wind! Ein schlechtere Brise konnte ich für diesen Sitz kaum haben. Also setzte ich mich mit Dreibein, Tarnnetz und Schießstock in ein Brennnesselmeer ans südliche Ende der Wiese. Beim Austreten des Bockes wurde klar: Das war die richtige Entscheidung.
Das Fadenkreuz fährt auf dem ziehenden Bock mit. Aber selbst ein kurzer Fiep auf meinem Blatter lässt ihn nicht verhoffen. Er macht kehrt und verschwindet für einige Minuten wieder im Einstand. Doch plötzlich schießt eine Ricke heraus, der Gesuchte ist ihr auf den Fersen. Ihr bewegtes Liebesspiel lässt keinen sicheren Schuss auf den Alten zu. Zu allem Überfluss schiebt sich nun auch noch ein halbstarker Jüngling mit lauscherhohen Gabeln mit auf die Bühne. Er äst 20 m vor meinem getarnten Brennnesselnest und beäugt mit großem Argwohn die Hochzeiter. Der Graumaskierte unterbricht kurzerhand den Liebesreigen und widmet seine ganze Aufmerksamkeit dem ungebetenen Zuschauer: Mit gesenktem Haupt und riesigen Sätzen macht er dem Gabler deutlich, wer Chef im Ring ist. Der Gabler flieht vor dem Sechser. Durch ein lautes Plätschern im Hasenbach empfehlen sich die beiden Rivalen für den Rest des Tages. Schade!
Von der Obstbaumleiter am nördlichen Ende der Wiese hat man einen optimalen Blick ins Hasenbachtal. Rechts war der Einstand des Alten.
Foto: Agnes M. Langkau
Pünklich nach Feierabend geht es am nächsten Tag wieder raus. Diesmal scheint Petrus es gut mit mir zu meinen. Westwind und warmes Wetter –Gott sei Dank! Auf der Obstbaumleiter am nördlichen Ende der Wiese mache ich es mir entsprechend getarnt bequem. Doch außer drei starken Hasen, die dem Talnamen alle Ehre machen, kommt nichts in Anblick. Es dämmert bereits, und die Singvögel setzen zu ihrem abendlichen Crescendo an, dem ich verträumt zuhöre.
Eine kurze Bewegung am Bestandsrand reißt mich aus meinen Gedanken. Eine rote Decke schiebt sich durchs Gestrüpp auf die Wiese. Suchend und windend zieht der Bock spitz auf mich zu. Durchs Zielfernrohr erkenne ich den Alten sofort. Er kommt immer näher. Auf 100 m dreht er bei. Diesmal klappt es mit dem Fiep auf dem Blatter. Er verhofft.
Der Schuss bricht. Der Bock zeichnet und macht kehrt. Wieder höre ich ein lautes Plätschern im Hasenbach. Fieberhaft versuche ich, mir den Anschuss mitten auf der Wiese zu merken. Doch weder ein Maulwurfshügel noch ein markanter Grasbüschel lassen sich in der Dämmerung als Anhaltspunkt ausmachen.
Ich baume ab und suche im Schein meiner Taschenlampe irgendwelche Schusszeichen. Vergebens! Sofort breche ich ab und hole „Arthus“ aus dem Auto. Er braucht nicht lange und verweist mir eindeutig den Anschuss: Lungenschweiß. Ich atme auf. Mein Rüde schlägt einen Bogen und findet sofort den Abgang der Rotfährte. Nun geht es wie auf Schienen gen Hasenbach. Rutewedelnd steht „Arthus“ bereits mitten im Wasser am verendeten Bock, als ich mich noch die Bachböschung hinunterkämpfe. Freudig begrüßt er mich am Stück als wollte er sagen: „Jetzt haben wir ihn – den ersten mehrjährigen Bock in Obertiefenbach in diesem Jahr.“