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Auf nach Alladale – Rotwildjagd in Schottland

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Rotwildjagd in Schottland
FOTOS: WERNER SCHMITZ

Wenn man in die Highlands steigt, um auf Hirsche zu jagen, kann es sein, dass man am Ende oben oder oben am Ende ist. Alles eine Frage der Perspektive, meint Werner Schmitz.

Beim ersten Anstieg befällt mich Panik. Der speckige Frühstückspfannkuchen liegt wie ein Klumpen Kitt im Magen. Die Knie knirschen. Das extradünne Funktionsunterhemd klebt klitschnass am Körper. Der Puls pocht. Keuchend stapfe ich den zweihundert Jahre alten Pirschsteig hinauf. „Wenn das den ganzen Tag so weiter geht, bist du zum 5-Uhr-Tee tot“, unkt mein innerer Schweinehund. Ich verbiete ihm die Schnauze und versuche, mit dem Stalker Schritt zu halten. Die Hände locker in den Taschen der Knickerbockers, Gamaschen um die buntbestrumpften Waden, gleitet Berufsjäger David vor mir den Hang hinauf. Mühelos wie der Steinadler, den wir vom Landrover aus sahen. Vor einer Stunde, als meine Welt noch in Ordnung war. Unten am River Carron, keine hundert Meter abseits der Schotterpiste, hatte ich meinen ersten schottischen Hirsch gesehen. Es war ein Royal Stag, der da geistesabwesend in der Wiese lag, ein für die Highlands starker Kronenhirsch.
„Spent“ sei der alte Knabe, erklärte mir Stalker David. Auf Jägerdeutsch: abgebrunftet.
Er ließ den Hirsch links liegen und fuhr weiter. Ich schöpfte Hoffnung. Vielleicht war das Rotwild doch nicht so hoch in die Hügel gezogen, wie der warme Oktobertag befürchten ließ. Die Hoffnung trog. Wir verließen den Landrover am Fuß der höchsten Hügelkette.
Statt gemütlich durch das Tal des Carron zu pirschen, wo sich das Wild bei schlechtem Wetter gern einstellt, kraxeln wir steil bergauf. Zwischen dem Stalker und mir klafft schnell eine Lücke von dreißig Metern. Ich kann sie nur schließen, wenn David stehenbleibt, um den Hang abzuglasen. Dicht hinter mir höre ich Matts Schritte. Davids Gillie folgt mir
auf dem Fuß. Der Jagdgehilfe ist Mitte zwanzig, trägt Rasta-Locken und wird von seinen Kollegen Bob gerufen. Wegen seiner Bob-Marley-Frisur, vermute ich. Trotz der Büchse auf seinen Schultern muss er sich bremsen, um mir nicht in die Hacken zu treten. Ich habe zwar kein Gewehr auf dem Buckel, dafür aber dreißig Lebensjahre mehr. Beim Frühstück in der Alladale-Lodge hatten sie mir Mut zugesprochen. Alles werde einfacher, „wenn du erstmal oben bist“. Mein Kopf macht daraus einen Sing-Sang, dessen Rhythmus mir den
Berg hinauf hilft. „Once – you‘re – up.“ Schritt – Schritt – Schritt. Am Ende bin ich oben. Oder ich bin oben am Ende. Wie man’s nimmt. Die Aussicht lässt alle Schinderei vergessen. Von Horizont zu Horizont rollen die Highland-Hügel unter dem klaren Herbsthimmel. Kein
Baum, kein Strauch, nur moorige Heide. Ein Ozean in braun und oliv. Darauf Schaumkronen aus grauem Fels. Windumweht selbst an einem sonnigen Tag wie diesem.
Ich stehe schnaufend und staune. Wie lange ist es her, dass ich an so einem Ort war? Wo kein von Menschen gemachtes Geräusch den Frieden stört. Wo von der Zivilisation nichts zu sehen ist. Im Frühsommer war’s, in den rumänischen Karpaten, als ich Paul Lister traf, den Eigentümer von Alladale, und er mich ins schottische Hochland einlud. Manchmal muss man bis an den Rand Europas reisen, um Ruhe zu finden.

Ein Schrei reißt mich aus den Gedanken. Rau tönt der Ruf, harsch kommt die Antwort. Es klingt wie „Willkommen in der Wildnis“, jedenfalls in meinen Ohren. Ein Schauer fährt mir ins Genick, und der rührt nicht vom kühlen Wind. Es ist Hirschbrunft in den Highlands,
und ich darf dabei sein. Dem Himmel so nah. „Come on, Börnard!“ David, der Stalker,
hat aus mir deutschem Werner der Einfachheit halber einen britischen Bernard gemacht. Mich stört das nicht und die Hirsche hoffentlich auch nicht. Sie haben anderes im Kopf. Überall im weiten Gegenhang hört man sie jetzt orgeln, trensen, knören. Mehr als ein halbes Dutzend Platzhirsche, die ihren hart erkämpften Harem hüten. Immer in Bewegung,
stets auf dem Sprung. David hat einen Plan. Um mit gutem Wind in den Hang der Hirsche vorzustoßen, will er den kleinen Bergsee umschlagen. „Loch with no name“, heißt
das stahlblau spiegelnde Wasser. See ohne Namen. Bachforellen schwimmen darin. Er habe kürzlich eine Vier-Pfündige herausgezogen, erzählt David im Vorübergehen. „Nicht schlecht für ein Highland Loch.“ Ich habe nur Ohren für die Hirsche. Geduckt schleichen wir hinter Felsrücken entlang, verschwinden in kleinen Tälern, tauchen jenseits der Gräben wieder
auf. Jede Bodenwelle nutzend, immer auf den Wind achtend, wartend, lauschend. Zwischendurch dreht David sich eine dünne Zigarette. Ich bin froh um jeden noch so kurzen Stopp. Dann schaffe ich es, die Rudel, die der Profi mit bloßem Auge erkennt, wenigstens im Glas auszumachen. Rotbraune Punkte auf rotbraunem Grund. Noch ziemlich
weit weg. Bis auf einen Hirsch. „Den da drüben links kannst du nicht schießen“, erklärt mir David. „Der fällt uns ein paar hundert Meter tief ins Glen, und dann haben wir die Schweinerei.“

Weiter geht es durch die weglose Wildnis. Schnell bleibe ich zwanzig Meter zurück. Es wirkt langsam, wenn der Stalker über die Heide wandelt, die Hände auf dem Rücken verschränkt wie ein Rentner im Park. „Less haste, more speed“ ist Davids Motto, „weniger Hast, mehr Tempo“. Ich stolpere ihm nach, bis seine nach hinten ausgestreckte Hand mich stoppt. Wie ein Luchs schleicht der drahtige, blonde Kerl allein weiter. Hinter einem Felsen verborgen, beobachtet er das Gelände, dreht sich dann um, macht mit zwei Fingern ein Hirschgeweih nach und winkt mich zu sich. Der Rucksack gleitet von meinen Schultern. Ich krieche hin. Keine dreißig Meter vor uns ragt hinter einem Felsbrocken eine Geweihstange hervor. Wie im Puppen-Theater, wenn die Zipfelmütze des Kasperls hinterm Vorhang vorlugt, obwohl er sich doch vor dem Krokodil verstecken wollte. „Mach dich fertig“, raunt David mir zu. Ich schiebe den Lauf der Büchse über die Felskante, klappe das Zweibein am Vorderschaft auf und visiere den Himmel über dem Geweih an. Der Hirsch scheint zu ruhen. Wir warten. Nach ein paar Minuten ist David es leid. Er röhrt den müden Burschen an. Ganz ohne Hilfsmittel macht er das. Es klingt täuschend echt, nicht nur in meinen Ohren. Unser Gegenüber legt das Haupt in den Nacken und antwortet dem Stalker.
Im Liegen. Der Körper bleibt verborgen. David versucht es nochmal. Tiefer und eine Spur lauter orgelt er los. Den Hirsch hält es nicht mehr am Boden. Er kommt auf die Läufe und
schreit dem vermeintlichen Nebenbuhler seinen Zorn entgegen. Dunkel steht er da, gegen den Himmel gemeißelt wie das Denkmal seiner selbst. Halbspitz von vorn. Keine dreißig Schritte weit weg. Das Absehen findet die Brunftmähne. Mit einem zarten Klick entsichere ich den Repetierer. Der Zeigefinger gleitet zum Abzug. „We better let him go“, flüstert David mir zu. „Wir lassen ihn besser laufen.“ Seufzend atme ich die Anspannung aus.
„Wirklich, David?“ Der Stalker nickt. Ich sichere die Büchse. Der Achter steht ungerührt
da. Als könne er nicht glauben, was er sieht: zwei Menschen, die ihm gefährlich
nahe auf die Decke gerückt sind. Sekunden verstreichen. Dann wird es dem Hirsch zu unheimlich. Er springt ab, und David erklärt mir seine Entscheidung mit einem Satz. „Zu viel auf dem Kopf für sein Alter.“ Ein Abschusshirsch sieht in Alladale offensichtlich anders
aus als im Duvenstedter Brook.

„Come on, Börnard!“ Der Stalker hat den nächsten Hirsch im Auge. Von weit rechts zieht er auf der Suche nach Kahlwild allein durch den Hang. David will ihm den Weg abschneiden. Wir hasten durch eine Mulde, die uns Deckung bietet, stapfen durch morastiges Moor, überspringen braune Pfützen. Urplötzlich wirft sich David ins Gras. Zweihundert Meter vor uns auf der steinübersäten Pläne verhofft der Hirsch. Breit steht er
und äugt zu uns herüber. „Shootable“, zischt der Stalker mir zu, „schießbar“. Die Büchse hat er schon für mich eingerichtet. Ich gleite dahinter. Die Sako ist auf zweihundert Yards Fleck eingeschossen, hat David mir morgens beim Probeschuss bedeutet. Genau die richtige Weite für den Hirsch, der in diesem Moment im Zielfernrohr auftaucht. Aber zu
Schuss komme ich nicht. Der Bursche springt in derselben Sekunde ab. David flucht ihm hinterher. Enttäuscht und erschöpft liege ich im Gras. Es ist zwei Uhr nachmittags. Wir
sind seit vier Stunden ohne Rast unterwegs. Nicht mal zum Trinken bin ich gekommen.
Der kalte Wind lässt mich frösteln. Dies ist der höchste Punkt von Alladale, ein paar Fuß fehlen an zweittausend. An klaren Tagen kann man von hier die Nordsee und den Atlantik sehen. Aber der Tag ist nicht mehr klar. Ein bleigraues Wolkenband liegt über den Hügeln. Die Sonne hat abgedankt. Zeit, das Lunch-Paket aus dem Rucksack zu kramen. Während David loszieht, um Kontakt zu Ronny mit den Ponys aufzunehmen, verschlinge ich mein Sandwich. Toastdreiecke mit Schinken, Käse und Essig dazwischen. Schmeckt  gewöhnungsbedürftig. Aber intensiv eingespeichelt und ausdauernd gekaut geht es
ganz gut runter. Ich sitze mit dem Rücken zum Wind, der über die Hangkante faucht, und trinke, als Matt, der Gillie, unruhig wird. Er sitzt mir gegenüber und zeigt mit dem  Zeigefinger in meine Richtung. Ich lasse die Wasserflasche sinken und drehe mich um. Von David ist nichts zu sehen. Dafür zieht aus der Richtung, in die der Stalker verschwunden ist, ein einsamer Hirsch auf uns zu. Man muss kein Highlander sein, um zu erkennen, dass dieser alte Knabe extrem „shootable“ ist. Im Wildbret schwächer als ein deutsches Alttier, auf dem Haupt heftig zurückgesetzt. Zwei dünne, sprossenlose Stangen, die eine am Ende klumpig verdickt, zu mehr hat es beim Schieben in diesem Jahr nicht mehr gereicht.

Was tun? Auf dem Hintern hoppele ich zu Matt, der die Büchse neben sich ins Gras gelegt hat. Dort angekommen, drehe ich mich vorsichtig um. Der Hirsch zieht immer noch spitz auf uns zu. Er ist keine hundert Meter von unserem Picknick-Platz entfernt. Ich sehe Matt hilfesuchend an. „Darf ich den jetzt schießen, ohne David?“ Der Gillie schüttelt die Rastalocken. „Better not“. Er ist erst seit kurzem hier und möchte es sich mit seinem Stalker nicht verderben. Also bleibe ich sitzen, schaue verzweifelt zu, wie der Hirsch immer näher kommt, sehe David hinter der Hügelkante auftauchen, mache ihm verzweifelt Zeichen in Richtung Hirsch, die der Stalker nicht mitkriegt, dafür aber der Stag. Hochflüchtig sucht der Alte von Alladale das Weite. Diesmal fluche ich ihm hinterher.
David grinst, als er bei uns ankommt. „That’s hunting“, sagt er, „so ist Jagd.“ Ich bleibe noch ein paar Minuten hocken und genieße den Blick vom höchsten Hügel des Alladale Estates in die tiefen Glens rundum. Weiß schäumende Wasseradern durchziehen die Hänge,
sammeln sich in blau schimmernden Lochs. Wolken werfen schwarze Schatten auf oliv leuchtende Bergflanken. Am Horizont zacken kahle Gipfel den Himmel. Sicher bin ich wegen der Hirsche hier. Doch wem in so einer Umgebung nur der Zeigefinger juckt und nicht das Herz aufgeht, der ist nicht nur in den Highlands fehl am Platze. Auch ohne Schuss ist dies sicher der bisher schönste Tag meines Jägerlebens. Eine Erkenntnis, die mich ruhig macht wie das Land, das wir durchstreifen. Während meine Gedanken durch die Täler fliegen, leuchtet David die Hügel nach Hirschen ab. Weit entfernt auf der Hochebene liegt einer im Heidekraut. Schwer anzugehen, weil es ringsum keine Deckung gibt. Aber  „shootable“. Wir müssen zurück, die flache Kuppe umrunden, versuchen, in ihrem Schutz näher an den ruhenden Recken heranzukommen. Ein weiter, steiniger Weg, erst recht
wenn man schon vier Stunden Fußmarsch in den Knochen hat. Als wir uns der Stelle, an der David den Stag vermutet, auf ein paar hundert Meter genähert haben, wird es richtig hart. Zunächst gebückt, dann auf allen Vieren pirschen wir voran. Jede Bodenwelle nutzend, durch schlammige Pfützen krauchend, hinter Binsenbüscheln versteckt spähend,
am Ende auf dem Bauch robbend. „Runter mit dem Kopf“, mahnt David. Er hat den Hirsch einhundertfünfzig Meter vor uns in der Heide ausgemacht. Seltsam verdreht ruht der Hirsch. Das Haupt in unsere Richtung gewandt, den Körper halbspitz von uns weg. Er käut
nicht wieder. Liegt nur wie versteinert da und erholt sich von den Anstrengungen der Art erhaltung. „Das kann noch Stunden dauern“, flüstert David und versucht es erneut mit dem Brunftschrei. Er legt die hohlen Hände vor den Mund und röhrt los. In der Westfalenhalle, bei der Europameisterschaft der Hirschrufer, würde der schottische Stalker Jury und
Messebesucher sicher begeistern. Den schwachen Achter lässt Davids Rufen völlig kalt. Er bewegt nicht mal das Haupt, von Aufstehen ganz zu schweigen.

„Ich möchte, dass du ihm auf den Trägeransatz schießt“, wispert der Stalker, „da, wo die Mähne beginnt. Okay?“ Ich nicke. Andere Länder, andere Sitten. Langsam schiebe ich den Lauf der Büchse über die kleine Kante. Das Zweibein findet Halt im Boden, der Hirsch taucht im Glas auf. Das Absehen steht ruhig auf dem Ziel. Ich entsichere. Vorsichtig nähert
sich der Finger dem Abzug. Ein leichter Druck, und der Schuss bricht. Statt mausetot zusammenzusacken, kommt der Hirsch nochmal auf die Läufe, quittiert den zweiten Schuss mit deutlichem Zeichnen, stakst steifbeinig hinter eine Welle, geht zu Boden, taucht mit
dem Haupt wieder auf und behält es oben. Sekunden verrinnen. Von irgendwo taucht Kahlwild auf, verhofft, äugt irritiert herüber zu dem Hirsch. Dann schnappt David sich die Büchse, läuft geduckt hin und trägt dem Hirsch einen Fangschuss an. Kurz darauf stehen wir beide vor meinem ersten Stag und begutachten die Treffer. Die Schüsse sitzen im Leben, aber dieser Highlander war einfach ein zäher Bursche. „Blame it on the rut“, sagt David. „Schieb’ es auf die Brunft.“ Per Walkie-Talkie ruft er Ronny und die Ponys heran, während Matt mit der roten Arbeit beginnt. Ich stehe neben dem erlegten Hirsch und horche in mich. Kein lauter Jubel ist da zu hören, eher stilles Glück und große Erschöpfung. Stalking auf Stags in den Highlands macht eher demütig als stolz. Mich jedenfalls. David
weiß, dass es mein erster Hirsch ist. Mit der Rechten greift er in die Kammer, beschmiert
mein Gesicht mit dem Schweiß des Gestreckten und drückt mir dann die Hand. Dann ist Ronny mit dem Pony da. Er zieht sein Jackett aus und bindet es dem weißen Pferdchen um den Kopf, damit es nicht scheut, wenn der Hirsch auf den Sattel gewuchtet wird. Verschnürt wie ein Paket, eine Geweihstange gen Himmel gereckt, schaukelt mein Hirsch zu Tal. Ronny führt das Pferd im weiten Bogen zur Lodge hinab. Wir anderen nehmen
den direkten Weg. Vor dem letzten Abstieg rasten wir noch einmal. David, Matt und ich liegen am Hang, in der Sonne, die die Wolken wieder vertrieben hat. David dreht sich eine letzte Zigarette. „Hast du zu Hause einen Hund?“, fragt er. Ich erzähle von Elsa, meiner Langhaar- Weimaranerin, die vor einem halben Jahr gestorben ist, und weiß plötzlich,
dass die Zeit für einen neuen Hund gekommen ist.

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